Australische Forscher haben Effekte präventiver Behandlungen bei Kleinkindern ab 9 Monaten, die eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) haben, untersucht. Ergebnisse der Studie legen nahe, dass solche Maßnahmen die Wahrscheinlichkeit für eine ASS-Diagnose im Alter von 3 Jahren verringern. Dr. Andrew J. O. Whitehouse vom Telethon Kids Institute, Nedlands, und Kollegen haben die Ergebnisse in JAMA Pediatrics veröffentlicht [1].
Design der Studie
Whitehouses Team hat 103 Kleinkinder randomisiert 2 Gruppen zugewiesen. Familien mit insgesamt 50 Kindern erhielten eine Basis-Video-Intervention, um eine positive Elternschaft (iBASIS-VIPP) zu fördern. Die Kontrollgruppe, Familien mit insgesamt 53 Kindern, bekamen nur die üblicherweise in Australien durchgeführte Betreuung für Kinder mit Autismus.
Die Basis-Video-Intervention (iBASIS-VIPP) bestand aus bis zu 12 Einheiten über einen Zeitraum von 5 Monaten. Der Fokus liegt auf der Schulung und Beratung der Eltern. Darin lernten sie, wie sie mit ihrem Kind interagieren können, um soziale Eltern-Kind-Kontakte positiv zu beeinflussen.
Die Forschenden begleiteten alle Familien etwa 2 Jahre lang. Zur Bewertung der Resultate nutzten sie das Manchester Assessment of Caregiver-Infant Interaction (MACI), ein global anerkanntes Bewertungsinstrument für eine 6-minütige Spielsitzung zwischen Eltern bzw. Pflegepersonen und Säuglingen. Mithilfe von Unterskalen wurden diese videokodiert. Inhaltlich ging es vor allem um die einfühlsame Reaktionsfähigkeit der Betreuungsperson, um ihre Nicht-Direktivität, um die Aufmerksamkeit des Säuglings und um seinen positiven Affekt.
Säuglinge scheinen von frühen Interventionen zu profitieren
In der Gruppe, die mit iBASIS-VIPP-Betreuung unterstützt wurde, diagnostizierten die Forscher bei 6,7% der Kinder im Alter von 3 Jahren ASS. Bei der Gruppe, die eine Standard-Unterstützung erhielt, traf dies auf 20,5% aller Probanden zu.
Was außerdem dafür spreche, möglichst zeitnah zu intervenieren, sei die recht niedrige Therapieintensität ohne Nebeneffekte, schreiben die Wissenschaftler. Bekannt sei, dass ASS-Diagnosen im Alter von 3 Jahren über die gesamte Kindheit hinweg stabil seien. Jedoch sei es möglich, dass ein kleiner Teil der Kinder die diagnostische Kategorie wechsele, wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt erneut untersucht würden. Deshalb planen Whitehouse und Kollegen, den jetzt beobachteten Behandlungserfolg über mehrere Jahre hinweg bis ins Erwachsenenalter zu evaluieren.
So kommentieren Experten die Resultate
In der Forschung zu Autismus ist schon länger bekannt, dass sich eine frühe Intervention kurz nach der Diagnose positiv auswirkt. Prof. Dr. Marie Schaer, Assistenzprofessorin an der Fakultät für Psychiatrie, Universität Genf und Leiterin der auf Autismus spezialisierten Ambulanz in Genf, sieht in den Resultaten einen Paradigmenwechsel. „Diese Studie ist von großer Bedeutung für das Forschungsfeld Autismus: Die Autoren demonstrieren sehr gründlich, dass wir wirksame Interventionen anbieten können, noch bevor Autismus diagnostiziert werden kann“, so Schaer.
Dr. Sanna Stroth, Psychologische Psychotherapeutin in der Spezialambulanz für Autismus-Spektrum Störungen in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Philipps Universität Marburg, teilt diese Einschätzung: „Die Studie macht deutlich, wie wichtig es in der frühen Förderung von Kindern mit ersten Autismus-Symptomen ist, zentrale Entwicklungsaufgaben der sozial kommunikativen Fertigkeiten zu fördern, nämlich beispielsweise gemeinsame Aufmerksamkeit (Blickkontakt), Imitation und gemeinsames, aufeinander bezogenes Spiel. Sie macht außerdem deutlich, dass die Eltern hier eine zentrale Rolle spielen.“
Dr. Ronnie Gundelfinger, ehemaliger leitender Arzt der Fachstelle Autismus der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Universität Zürich, sieht jedoch große Herausforderungen für die praktische Umsetzung, auch wenn der Mehrwert früher Interventionen durch weitere Untersuchungen bestätigt würde: „Ein Problem ist, dass zum Beispiel in der Schweiz medizinisch-psychologische Behandlungen durch die Krankenkassen erst bezahlt werden, wenn eine gesicherte Diagnose vorliegt. Dies entspricht nicht dem Kindeswohl und dem präventiven Gedanken, erschwert aber die Umsetzung solcher Modelle.“
Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Coliquio.de.
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Diesen Artikel so zitieren: Autismus-Spektrum-Störungen: Intervention bei erhöhtem Risiko noch vor der Diagnose – naht ein Paradigmenwechsel? - Medscape - 7. Dez 2021.
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