Diskussion
Das Rett-Syndrom ist eine progressive neurologische Entwicklungsstörung, die fast ausschließlich Frauen betrifft [1,2,3]. Die seltene Störung wurde 1966 von dem österreichischen Kinderneurologen Andreas Rett beschrieben.
Bei Patientinnen kommt es nach 6 bis 18 Monaten einer normalen Entwicklung zu einer Stagnation und dann aber zur Regression. Die nachfolgenden Stadien des Krankheitsverlaufs werden als Phase der Regression (Beginn 1-3 Jahre), Plateauphase (Beginn 2-10 Jahre) und Phase der späten motorischen Verschlechterung beschrieben, in der das Gehvermögen abnimmt oder erlischt (ungefährer Beginn ≥ 10 Jahre). Dieser Fall veranschaulicht das Fortschreiten zum 4. klinischen Stadium des Rett-Syndroms, das durch die ausgeprägte Skoliose der Patientin und den röntgenologischen Nachweis orthopädischer Eingriffe belegt wird.
In Deutschland betrifft das klassische Rett-Syndrom 1 von 10.000 bis 15.000 Mädchen [4]. Aufgrund nicht- und fehldiagnostizierter Fälle ist es schwierig, die genaue Häufigkeit in verschiedenen Populationen zu bestimmen.
Die Mädchen sind bei der Geburt phänotypisch normal. Auch das Wachstum und die Entwicklung scheinen im 1. Lebensjahr normal zu verlaufen. Später kann es zu einer Verlangsamung des Kopfwachstums kommen (erworbene Mikrozephalie). Mädchen mit Rett-Syndrom verlieren zuvor erworbene motorische und sprachliche Fähigkeiten.
Beeinträchtigungen der Kontrolle über willkürliche Bewegungen (Gangataxie) sind häufig, ebenso wie eine Apraxie. Unzweckmäßige stereotype Handbewegungen, wie z.B. Händewedeln, Händedrücken, Klatschen, Handreiben und wiederholte Hand-zu-Mund-Bewegungen, sind ebenso charakteristisch wie eine fortschreitende Steifheit [5,6,7,8].
Ein längeres Beispiel für diese Verhaltensweisen, das mehr Details enthält, finden Sie in dem folgenden Video:
Die betroffenen Frauen können autistische Verhaltensweisen zeigen, Schwierigkeiten bei der Nahrungsaufnahme und Schluckstörungen haben und, wie die Patientin in diesem Fall, unter einer Anfallserkrankung leiden. Die Frauen sind in der Regel schwer geistig behindert.
Die durchschnittliche Lebenserwartung reicht bis ins 5. Lebensjahrzehnt. Es besteht ein erhöhtes Risiko für einen plötzlichen Tod aufgrund von Herzrhythmusstörungen, wie z.B. ein verlängertes QT-Intervall und T-Wellen-Anomalien. Weitere Faktoren, die zur Morbidität und Mortalität beitragen, sind eine schlechte Anfallskontrolle, eine Aspirationspneumonie und Unterernährung.
Jungen, die mit Rett-Syndrom geboren werden, überleben in aller Regel das Säuglingsalter nicht. Patienten, die doch länger leben, sind noch stärker betroffen und leiden an einer schweren neonatalen Enzephalopathie.
Das Rett-Syndrom wird als X-chromosomal-dominante Störung vererbt. Die Fälle treten sporadisch auf und werden in der Regel durch ein De-novo-Mutationsereignis auf dem X-Chromosom ausgelöst. Diese Mutationen betreffen das MECP2-Gen (Methyl-CpG-bindende Protein 2; Genlokus: Xq28) [1,2]. Die abnorme Funktion des MECP2-Gens verhindert die normale Produktion des MeCP2-Proteins, das für die neuronale Reifung, den Aufbau von Synapsen und das Ausdünnen von Neuronen und Synapsen (synaptic pruning) im frühen Kindesalter entscheidend ist [9,10,11]. Außerdem ist die cholinerge Neurotransmission beim Rett-Syndrom gestört [12].
Die zufällige Inaktivierung des X-Chromosoms (ehem. „Lyonisierung“) wirkt sich auf den klinischen Schweregrad der Störung aus [13,14,15,16]. Die Inaktivierung des X-Chromosoms gilt als ungleich, wenn über 80% der Zellen ein einziges Allel aufweisen [17,18,19,20]. Ein höherer Prozentsatz eines aktiven abnormalen X-Allels führt daher zu einem schlechteren klinischen Bild für den Patienten.
Das Rett-Syndrom wird also über eine gründliche Entwicklungsanamnese, die klinische Untersuchung und die Beobachtung charakteristischer Verhaltensweisen diagnostiziert. Es ist somit in erster Linie eine klinische Diagnose. Nicht alle Patienten, bei denen das Rett-Syndrom diagnostiziert wurde, tragen MECP2-Mutationen. Und umgekehrt wurden MECP2-Mutationen auch bei Patienten festgestellt, welche die klinischen Kriterien für das Rett-Syndrom nicht erfüllen. Das konsistente Merkmal des klassischen Rett-Syndroms ist der zeitliche Verlauf mit deutlicher Rückentwicklung, gefolgt von einer begrenzten Erholung oder Stabilisierung (Plateauphase). Darauf folgt dann die motorische Verschlechterung.
Weitere wichtige Kriterien sind der Verlust zielgerichteter Fertigkeiten, stereotype Handbewegungen, der Verlust der Sprache und Ganganomalien. Eine Verlangsamung des Kopfwachstums kann auftreten, gilt jedoch nicht als diagnostisch. Die Erfüllung dieser Kriterien kann bei der klinischen Diagnose des Rett-Syndroms und seiner Varianten oder atypischen Formen helfen. Molekulargenetische Tests können dann die Mutationen im MECP2-Gen nachweisen und die Verdachtsdiagnose bestätigen.
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Diesen Artikel so zitieren: Fall: Starke Intelligenzminderung, Verhaltensauffälligkeiten, Skoliose und Coxa valga – woran leidet diese Frau? - Medscape - 6. Dez 2021.
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