Deutschland hat erstmals das Ziel der Aids-Bekämpfung erreicht! Das meldet das Robert Koch-Institut (RKI) zum heutigen Welt-Aids-Tag [1]. Es ist das „90-90-90-Ziel“ des Programms UNAIDS der Vereinten Nationen: Im Jahr 2020 hatten über 90% der Infizierten eine Diagnose und über 90% von ihnen wurden adäquat behandelt, so dass bei wiederum über 90% keine HI-Viren mehr nachweisbar waren. Zudem hat der Corona-Lockdown wohl einen Kollateralnutzen gebracht: Die Infektionen sind im Vergleich zu 2019 sprunghaft zurückgegangen.
Besonders effektiv sind die Ärzte in Deutschland bei der Therapie: 97% der Menschen mit Diagnos e erhielten im Jahr 2020 Virustatika, wodurch bei 96% weniger als 200 Viruskopien im Milliliter Blut vorlagen. Eine wirksame Behandlung ist deshalb so entscheidend, weil sie nicht nur die Krankheits progression und klinische Komplikationen verhindert, sondern auch die HIV-Übertragung auf sexuellem Weg.
Diagnostik-Erfolg hat Premiere
Doch während die 90%-Hürden in der Therapie schon vor einigen Jahren übersprungen wurden, hat der Diagnostik-Erfolg eine – wenn auch knappe – Premiere: „Nur“ etwa 9.500 Infizierte sind noch nicht erkannt. Eine hohe Diagnoserate reduziert über die so mögliche Therapie nicht nur Sterblichkeit und Kosten, sondern auch Folge-Infektionen.
Doch dürfen diese erfreulichen Aspekte nicht verschleiern, dass sie sich vor einem eher düsteren Hintergrund abspielen. „Ein Ende von AIDS- Erkrankungen ist momentan in Deutschland noch nicht in Sicht“, machen die RKI-Autoren um Dr. Matthias an der Heiden klar.
Denn bis Ende 2020 ist die Gesamtzahl der hier lebenden HIV-Infizierten auf 91.400 gestiegen. Fast 3 Viertel sind Homosexuelle, 15% heterosexuelle Frauen und Männer und 11% Konsumenten intravenöser Drogen. 450 Menschen haben sich meist in den frühen 1980er Jahren über Blutprodukte angesteckt und rund 800 bei der Geburt über ihre Mutter.
Ein kleiner Teil sind Deutsche, die sich im Ausland infiziert haben, und Migranten, vor allem aus Subsahara-Afrika. Diese Zahlen nahmen 2019 leicht zu und 2020 wieder ab, worin sich wahrschein lich der Corona-Lockdown mit Grenzschließungen widerspiegelt.
Die Zahlen basieren meist auf Schätzungen
Wie die Autoren erläutern, dokumentiert das RKI regelmäßig den Verlauf der HIV-Epidemie, um Präven tion, medizinische Versorgung und gesundheitspolitische Entscheidungen zu erleichtern. Viele Daten beruhen auf Modellrechnun gen, da die Infektionen oft erst Jahre später festgestellt werden, so dass die Labormeldungen gemäß Infektionsschutzgesetz nur begrenzte Informationen liefern. Weitere Quellen sind das AIDS-Fallregister, die Todesursachen-Statistik der Landesämter sowie die Ab rechnungen antiretroviraler Medikamenten aus Apotheken.
Doch vom Zustandsbericht zurück zum Bild für 2020 in Deutschland, nach Risikogruppen aufgeschlüsselt:
Die Zahl der neuen HIV-Infektionen schätzt das RKI auf 2.000. Damit liegt dieser Wert so niedrig wie zuletzt zu Beginn des Jahrtausends – 2019 waren es noch 2300.
Diese Verminderung ist fast ausschließlich homosexuellen Männern zugute zu halten: „Nur“ 1.100 haben sich 2020 infiziert.
Wenigstens eine gute Seite der Corona-Pandemie
Als Grund, warum dieser Rückgang so abrupt und massiv ausgefallen ist, vermuten die Autoren die Einschränkung von Sexualkontakten durch die Maßnahmen gegen SARS-CoV-2. Allerdings schließen sie nicht aus, dass ein Einbruch in der Nutzung von HIV-Tests diesen Rückgang bloß vortäuscht – zumindest teilweise.
Und sie betonen: „Es ist nicht davon auszu gehen, dass diese Verhaltensänderungen sich über die Pandemie hinaus fortsetzen werden. Es wäre daher nicht überraschend, wenn die Zahl der HIV-Neuinfektionen nach der Pandemie wieder anstei gen würde.“
Allgemein jedoch gehen HIV-In fektionen bei Homosexuellen seit 2007 zurück. Die Autoren machen 3 Gründe aus:
Erstens, die gesteigerte Bereitschaft zu Tests, auch zeitnah, wenn Risiken eingegangen wurden, was die Diagnose beschleunigt.
Zweitens nehmen die Männer vermehrt den Rat an, sofort mit der Therapie zu beginnen und Kondome zu verwenden – nach wie vor ein Grundpfeiler der Prävention.
Drittens hat die Nutzung der Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP) kontinuierlich zugenommen, die seit Herbst 2017 erschwinglich geworden ist und seit Herbst 2019 von der Gesetzlichen Kranken versicherung GKV bezahlt wird. „Es besteht kein Zweifel, dass die PrEP das HIV-Infektionsrisiko drastisch ver mindert und daher eindeutig einen individuellen Nutzen bringt“, konstatieren die Autoren.
Weitere Zahlen dazu:
Etwa 370 Menschen haben sich bei der intravenösen Injektion von Drogen angesteckt, diese Zahl steigt seit 2010 auf niedrigem Niveau. So wurden in einigen Großstädten wiederholt größere und kleinere Infektionscluster beobachtet. Als Ursache vermuten die Wissenschaftler neue psychoaktive Substanzen, die in rascher Frequenz gespritzt werden.
Etwa 530 Menschen haben sich auf heterosexuellem Weg angesteckt. Auch in dieser Gruppe gibt es seit 2013 einen Anstieg auf niedrigem Level, gespeist im Wesentlichen über Kontakte zu Drogenkonsumenten, Homosexuellen und Menschen, die sich im Ausland infiziert haben. „Eigenständige heterosexuelle Infektionsketten sind begrenzt und für die Ausbreitung der HIV-Epidemie von geringer Bedeutung“, berichten Heiden und Kollegen.
900 der insgesamt 2.600 Diagnosen wurden erst mit einem fortgeschrittenen Immundefekt und 460 erst mit dem Vollbild AIDS diagnostiziert.
Nun muss die nächste Etappe bewältigt werden
Somit ist klar: Nach dem Erfolg ist vor dem Erfolg. Denn für die Etappe bis 2025 hat UNAIDS das „95-95-95-Ziel“ bei Therapie und Diagnostik ausgerufen. Die Strategie der Bundesregierung habe HIV zwar eingedämmt, aber jetzt seien weitere Anstrengungen nötig, damit es beim Rückgang der Infektionen bleibt, schreiben die Epidemiologen.
Als Maßnahmen empfehlen sie:
Die PrEP, die vor allem für homosexuelle Männer wichtig ist, ausweiten.
Dazu gehöre, Risikopersonen zu identifizieren und sie verstärkt auf das Angebot hinzuweisen, denn nach Daten aus HIV-Teststellen wäre bei den meisten Männern mit Diagnose eine Prophylaxe angebracht gewesen. Jedenfalls gebe es weiterhin so viele Gefährdete ohne PrEP, dass sich selbst unter Pandemie-Restriktionen noch mindestens 1.000 infiziert haben. Umfragen bei HIV-Schwerpunktpraxen zufolge ging die Nachfrage nach diesen Medikamenten zu Beginn von COVID-19 deutlich zurück und erholt sich erst allmählich wieder.
Andere Gruppen mit erhöhtem Risiko nutzen die PrEP bislang kaum, etwa Menschen die ab 2010 durch steigende Mobilität und Migration nach Deutschland gekommen sind. Ein Problem dürfte sein, dass sie das Infektionsrisiko der (heterosexuellen) Partner nicht kennen und daher kaum zur PrEP bereit sind.
Abhängigen sterile Spritzen bereitstellen
Umfragen bei Drogenhilfeeinrichtungen zeigen, dass nicht alle über genügend Geld verfügen, um Konsumenten zur Schadensbegrenzung mit sterilen Injektionsutensilien zu versorgen. Seit 2021 läuft die DRUCK 2.0-Studie (Drogen und chronische Infektionskrankheiten in Deutschland), die Daten zu HIV und Virushepatitis unter Konsumenten erhebt.
Tests forcieren
Testangebote und Testbereitschaft sind in den letzten beiden Jahren durch COVID-19 eher gesunken. Als Gegenmittel schlägt die Aidshilfe eine stärkere Bewerbung von HIV-Einsende- und -Selbsttests vor.
Dies könnte auch helfen, die Testlücken in ländlichen Regionen und kleineren Städten zu verschmälern. Niedergelassene Ärzte sollten Tests entsprechend der Leitlinien anbieten. Relevant sind hier neben der Aids-Publikation die AWMF-Leitlinie zu sexuell übertragbaren Infektionen und die Empfehlung der Landeskommission AIDS an die Landesregierung Nordrhein-Westfalen.
Die Therapie für alle zugänglich machen
Für Menschen ohne Papiere oder Krankenversicherung führt kein geordneter Weg zur HIV-Therapie, so dass sie einen Teil der im Jahr 2020 noch unbehandelten 2.600 Menschen mit Diagnose bilden. „Aus individualmedizinischer und aus Public-Health-Sicht sollte allen Menschen in Deutschland eine Behandlung zugänglich sein“, so die Forderung im RKI-Bulletin.
Credits:
© Juan Moyano
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Medscape Nachrichten © 2021
Diesen Artikel so zitieren: HIV: Deutschland erreicht erstmals die 90%-Ziele der UN bei Therapie und Diagnostik – auch dank Corona - Medscape - 1. Dez 2021.
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