Die Zahl der Anrufe bei Sorgentelefonen ist zu Beginn der Corona-Pandemie zeitweilig um mehr als ein Drittel gestiegen. Das berichtet ein 4-köpfiges Forscherteam aus Deutschland und der Schweiz in einer Studie, die jetzt in der Zeitschrift Nature publiziert wurde [1].
Die häufigsten Themen der Gespräche seien Angst und Einsamkeit gewesen, schreibt das Team um den Erstautoren der Studie, Prof. Dr. Marius Brülhart, Professor für Volkswirtschaft an der Universität Lausanne und Mitglied der „Swiss National COVID-19 Science Task Force“, einer Expertengruppe, die die schweizerischen Behörden zu unterschiedlichen Aspekten der COVID-19-Krise berät.
Die Forscher werteten rund 8 Millionen Anrufe aus
Für ihre Studie haben Brülhart und seine Kollegen rund 8 Millionen Anrufe bei 23 Sorgentelefonen in 14 europäischen Ländern sowie in den USA, China, Hongkong, Israel und im Libanon analysiert. Zur Verfügung standen ihnen Daten:
zu den Gesprächsthemen,
zur Dauer der Telefonate sowie
zum – von den Mitarbeitern der Sorgentelefone geschätzten – ungefähren Alter und Geschlecht der Anrufenden.
„Wir hatten somit fantastische Daten, die zwar sehr intim sind, aber trotzdem keine datenschutzrechtlichen Probleme mit sich bringen“, sagt Brülhart im Gespräch mit Medscape.
„Ursprünglich wollten mein Kollege, Prof. Dr. Rafael Lalive, und ich nur für die Schweizer Regierung herausfinden, inwieweit sich das psychische Befinden der Bevölkerung hierzulande durch die Corona-Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung verändert hatte“, sagt Brülhart. „Denn zu der Frage, ob der Lockdown beispielsweise eher entschleunigend und beruhigend wirkte oder aber die Menschen verstärkt in eine Depression oder gar in den Suizid trieb, gab es in den ersten Wochen keinerlei wissenschaftliche Daten.“
Den beiden Ökonomen aus Lausanne kam die Idee, beim Schweizer Sorgentelefon nachzufragen. „Anhand deren Daten lies sich bereits ablesen, dass seit Beginn der Pandemie zwar mehr Anrufe eingegangen waren, die schlimmsten Befürchtungen sich aber nicht zu bestätigen schienen“, sagt Brülhart. „Es ging in den Gesprächen eher um die Angst vor dem Virus und das Thema Einsamkeit als um Gewalt und Suizidgedanken.“
Die meisten Anrufe erfolgten 6 Wochen nach Beginn der Pandemie
Im Mai 2020 stießen die Schweizer Forscher auf 2 Wissenschaftler der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, die eine ganz ähnliche Studie mit Daten aus Deutschland vorgenommen hatten: Valentin Klotzbücher vom Institut für Wirtschaftswissenschaften und Dr. Stephanie Reich von der Fakultät für Umwelt und Natürliche Ressourcen.
Die 4 Forscher beschlossen, ihre bisherige Arbeit in eine gemeinsame größere Studie einfließen zu lassen und auch die – bislang wissenschaftlich weitgehend ungenutzten – Daten von den Sorgentelefonen anderer Länder dafür auszuwerten. Dort hatte der erste Lockdown teilweise schon früher begonnen und war von noch härteren Maßnahmen begleitet gewesen.
Bei seiner Analyse fand das Team unter anderem heraus, dass in den untersuchten Ländern zeitweilig bis zu 35% mehr Anrufe eingingen als vor der Pandemie und dass der Höhepunkt im Mittel 6 Wochen nach deren Beginn erreicht war. „Anlässe der Anrufe waren meistens Angst, Einsamkeit und später auch Sorgen um die körperliche Gesundheit“, berichtet Klotzbücher im Gespräch mit Medscape.
Zudem stellten die Wissenschaftler fest, dass sonst vorherrschende Themen – etwa Beziehungsprobleme und finanzielle Schwierigkeiten – sowie Gewalt und Suizidgedanken nicht verstärkt vorkamen, sondern eher von akuten Pandemie-Sorgen verdrängt wurden.
Die Zahlen zur häuslichen Gewalt sind womöglich zu niedrig
Vor der Pandemie waren der Studie zufolge die vorherrschenden Anlässe für einen Anruf bei einem Sorgentelefon:
Beziehungsprobleme (37%),
Einsamkeit (20%) und
unterschiedliche Ängste (13%).
Mit der Pandemie stiegen die Anrufzahlen:
zu Ängsten um 2,4 und
zu Einsamkeit um 1,5 Prozentpunkte.
Zu Beziehungsproblemen sanken sie um 2,5 Prozentpunkte.
Andere normalerweise häufig auftauchende Themen wurden ebenfalls seltener, zum Beispiel die wirtschaftliche Lage (-0,6), Abhängigkeit und Gewalt (beide -0,3).
Lediglich bei Frauen unter 30 Jahren nahm die Zahl der Anrufe zum Thema Gewalt um 0,9 Prozentpunkte zu.
Inwieweit die Daten insbesondere zum Thema häusliche Gewalt verlässlich sind, ist allerdings nicht sicher. „Es ist durchaus denkbar, dass Menschen, die zu Hause Gewalt erfahren, im Lockdown gar nicht die Möglichkeit haben, bei einem Sorgentelefon anzurufen“, gibt Klotzbücher zu bedenken. Andere Untersuchungen weisen zudem daraufhin, dass die häusliche Gewalt infolge der Pandemie deutlich zugenommen hat.
Die internationale Hilfsorganisation Oxfam beispielsweise berichtet, dass während des ersten Lockdowns im Jahr 2020 in den 10 von ihr untersuchten Ländern die Zahl der Anrufe bei Hilfe-Hotlines um 25 bis 111% gestiegen sei. Die größte Zunahme war demnach in Malaysia zu verzeichnen, gefolgt von Kolumbien (79%), Italien (73%) und Südafrika (69%). Auch Somalia und China (jeweils 50%), Tunesien (43%), Zypern (39%), Argentinien und Großbritannien (jeweils 25%) verzeichneten signifikant mehr Anrufe.
Finanzielle Hilfen beseitigten viele Suizidgedanken
Für die aktuelle Nature-Studie werteten die Autoren in Deutschland, Frankreich und mehreren US-Bundesstaaten zudem Anrufe zum Thema Suizidalität gesondert aus. „Tendenziell nahmen Anrufe, in denen Suizidgedanken ausgesprochen wurden, immer dann zu, wenn in einem Land oder Bundesstaat restriktive politische Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie erhoben wurden“, berichtet Klotzbücher.
„Sie nahmen jedoch wieder ab, wenn finanzielle Unterstützungsleistungen ausgebaut wurden.“ Die Wirtschaftshilfen hätten somit einen doppelten Nutzen, ergänzt der Ökonom Brülhart: „Sie vermeiden nicht nur wirtschaftliche Kollateralschäden, sondern verbessern auch das psychische Befinden der Bevölkerung.“
Die gefundenen Ergebnisse zu diesem Thema seien in allen untersuchten Regionen ähnlich gewesen.
Geähnelt haben sich auch die vorherrschenden Themen während der einzelnen Corona-Wellen. „Wir hatten den Verdacht, dass die beruhigenden Befunde aus der ersten Welle, als es noch viel Solidarität und weniger Corona-Müdigkeit gab, vielleicht nicht repräsentativ sein könnten“, sagt Brülhart. „Daten, die wir später aus Deutschland und Frankreich von der zweiten und dritten Welle erhalten haben, zeigen jedoch, dass es keine großen zeitlichen Unterschiede in den Befindlichkeiten gab.“
Eine ähnliche Studie soll sich speziell den Kindern widmen
„Die allgemeine mentale Verfassung einer Bevölkerung zu erheben oder gar länderübergreifende Tendenzen aufzuspüren, ist sehr schwierig“, sagt Klotzbücher. „Nicht zuletzt deshalb werden psychische Aspekte in politischen Entscheidungsprozessen oft ausgeklammert – mit potenziell gravierenden Folgen.“ Mit der aktuellen Studie wolle man einen Beitrag leisten, um dem entgegenzuwirken.
Die Daten der Sorgentelefone seien eine lange vernachlässigte, aber sehr reichhaltige Quelle, um Rückschlüsse auf das psychische Befinden einer Bevölkerung oder bestimmter Bevölkerungsgruppen zu ziehen, sagt Klotzbücher. Gleichzeitig werde es spannend zu sehen sein, wie sich diese Daten mit denen aus anderen Quellen decken.
Klotzbücher selbst plant, gemeinsam mit einem neuen Team in einer weiteren Studie sein Augenmerk verstärkt auf die Kinder hierzulande zu legen und zu untersuchen, welche psychischen Effekte die Schulschließungen für sie hatten. Dazu will er die Anrufe bei Sorgentelefonen in Deutschland weiter auswerten und mit Daten aus Umfragen und von Krankenkassen vergleichen.
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Diesen Artikel so zitieren: Nummer gegen Corona-Kummer: Dies sind die Gründe, warum Menschen ein Sorgentelefon anrufen – große Analyse aus 19 Ländern - Medscape - 8. Dez 2021.
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