COVID-19, Tinnitus, Autismus-Spektrum-Störungen und mehr: Wichtige Leitlinien-Aktualisierungen für die Praxis

Marc Fröhling

Interessenkonflikte

30. Dezember 2021

Was hat sich bei der Diagnostik und Therapie wichtiger Krankheitsbilder getan? Unser Beitrag fasst wichtige Empfehlungen aus neu veröffentlichten oder geänderten Leitlinien zusammen.  

Rauschen, Klingeln, Dröhnen: Was hilft bei chronischem Tinnitus – und was nicht?

Seit mindestens 3 Monaten bestehende, für Betroffene belastende Ohrgeräusche: Unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e.V., Bonn (DGHNO-KHC) wurde die S3-Leitlinie „Chronischer Tinnitus“ überarbeitet. Neu ist auch eine allgemeinverständliche Patientenleitlinie. Bei chronischem Tinnitus kann es auch zu weiteren physischen und psychischen Belastungsstörungen kommen, die im Gespräch und mittels standardisiertem Tinnitus-Fragebogen erfasst werden sollen.

Ziel der Therapieempfehlungen ist, langfristige Belastungen zu verringern. Die Diagnostik-gestützte Beratung und Aufklärung (Tinnitus-Counselling) ist dabei die Basis jeder Therapie. Daneben nennt die Leitlinie weitere evidenzbasierte Empfehlungen. Erstmals wurden jedoch auch nicht geeignete Empfehlungen gelistet, darunter wenig evidente App-gestützte Soundtherapien und Nahrungsergänzungsmittel wie Betahistin sowie Stärkungsmittel.

Diagnostik und Therapie der Kohlenmonoxidvergiftung

Kohlenstoffmonoxid gilt als hochgefährlich. Das geruch- und farblose Gas entsteht bei unvollständigen Verbrennungsvorgängen kohlenstoffhaltiger Stoffe, etwa in defekten Heizungsanlagen, Kaminen und Öfen. 

Gerät Kohlenmonoxid in die Atemwege, kann es schwere Hirnschäden verursachen oder einen Menschen töten. Im Jahr 2007 wurden in Deutschland rund 4.000 stationäre Fälle von Kohlenmonoxidvergiftung registriert. Im Jahr 2018 sind laut Statistischem Bundesamt 629 Personen an den Folgen einer Kohlenmonoxidvergiftung gestorben. Hinzu kommt eine deutlich höhere Zahl ambulant versorgter Patientinnen und Patienten.

Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e.V. hat nun als federführende Fachgesellschaft die neue „S2k-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der Kohlenmonoxidvergiftung“ erstellt. Sie soll Informationen und Instruktionen bei der Diagnostik und Behandlung geben:

  • für die rettungsdienstliche Erstversorgung durch medizinisches Assistenzpersonal und Ärzte,

  • für die Prinzipien der klinischen Erstversorgung,

  • für die Entscheidung eines Primär- oder Sekundärtransports zu einer hyperbarmedizinischen Therapie und

  • für die weitere medizinische Versorgung.

Komplementäre und alternative Medizin bei Krebs

Über 150 Empfehlungen und Statements zu aktuell in Deutschland genutzten Methoden und Substanzen der komplementären und alternativen Medizin beinhaltet die neue S3-Leitlinie „Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen Patienten und Patientinnen“, die unter Federführung der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG), der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO), der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) und der Deutschen Gesellschaft für Radioonkologie (DEGRO) erarbeitet wurde. Neben onkologisch Tätigen sind die Empfehlungen und Informationen zur vorliegenden Evidenz auch an alle Ärzte gerichtet, die Patienten begleiten. 

Die Leitlinie umfasst 4 thematische Blö >Medizinische Systeme

  • Mind-Body-Verfahren

  • Manipulative Körpertherapien

  • Biologische Therapien

Die umfangreiche Dokumentation zeigt, dass für die meisten Methoden der komplementären Medizin nur wenig wissenschaftliche Daten vorliegen. Auch kleine Teilnehmerzahlen schränken die Interpretation der Ergebnisse ein. Zwar zeigen einige Studien, dass sich die Anwendung komplementärmedizinischer Methoden günstig auf bestimmte Nebenwirkungen der onkologischen Therapie oder auf die Lebensqualität der Betroffenen auswirken könnte. Jedoch ist insbesondere die Berücksichtigung potenzieller Arzneimittelinteraktionen in der Onkologie von hoher Bedeutung.

Deshalb empfiehlt die Leitlinie, dass alle Krebspatienten frühestmöglich und im Verlauf wiederholt zur aktuellen und geplanten Anwendung von komplementären Maßnahmen informiert werden sollen. Onkologische S3-Leitlininien wie diese können über die App vom Leitlinienprogramm Onkologie abgerufen werden.

COVID-19: Neue Empfehlungen zur stationären Therapie

Die S3-Leitlinie zur stationären Therapie von Patienten mit COVID-19 ist seit Anfang Oktober in einer weiteren, aktualisierten Version veröffentlicht. Erstmals werden darin monoklonale Antikörper sowie Januskinase-Inhibitoren (JAK-Inhibitoren) als verfügbare medikamentöse Therapieoptionen genannt, die in randomisierten kontrollierten Studien nachweislich die Sterblichkeit reduziert haben. 

Auch für die Thromboseprophylaxe und Antikoagulation sowie die Bauchlagerung von wachen Patienten sind neue Empfehlungen aufgeführt. Durch die Bauchlagerung lasse sich die Häufigkeit späterer Intubationen reduzieren, so Leitlinienkoordinator Prof. Dr. Stefan Kluge, Direktor der Klinik für Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

Bei den Aktualisierungen steht die Patientensicherheit im Mittelpunkt. Durch die konsequente kritische Analyse einer Vielzahl von medikamentösen Therapieansätzen zur Behandlung von COVID-19 (Colchicin, Ivermectin, Rekonvaleszenten-Plasma, etc.) konnte mittlerweile auch ein Katalog an Negativ-Empfehlungen erstellt werden, um Schädigungen zu vermeiden. 

S3-Leitlinie zur Therapie bei Autismus-Spektrum-Störungen publiziert

Die 1. interdisziplinäre S3-Leitlinie zur evidenz-basierten Therapie bei Autismus-Spektrum-Störungen wurde im vergangenen Mai veröffentlicht. Sie wurde federführend von Prof. Dr. Christine M. Freitag vom Universitätsklinikum Frankfurt erarbeitet, die herausgebende Fachgesellschaft ist die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP). 

Die neue Leitlinie gibt konkrete Handlungsempfehlungen zur Therapie des komplexen Krankheitsbildes und vervollständigt die bereits vorhandene S3-Leitlinie zur Diagnostik. Aufgenommen wurden alle bis 2018 anhand kontrollierter oder randomisiert-kontrollierter Studien untersuchten Therapieansätze, die bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Autismus-Spektrum-Störung eingesetzt werden. Dazu zählen psychosoziale, medikamentöse und andere Interventionen. 

Therapie des ischämischen Schlaganfalls: Leitlinie komplett überarbeitet

Bereits im späten Frühjahr wurde von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Schlaganfallgesellschaft (DSG) die aktualisierte und erweiterte S2e-Leitlinie zur Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls publiziert. 

Um das Risiko bleibender Schäden zu vermindern, ist ein schneller Behandlungsbeginn entscheidend. Deshalb sollen alle Patienten in einer Stroke Unit behandelt werden. Außerdem soll eine sofortige zerebrale Diagnostik mit CT oder MRT erfolgen, um zwischen Ischämie und Blutung unterscheiden und rasch das therapeutische Procedere festlegen zu können. Neu aufgenommen oder aktualisiert wurden darüber hinaus:

  • Aspekte des Post-Stroke-Delirs,

  • Aspekte der kardiovaskulären Diagnostik, 

  • geschlechtsspezifischen Unterschiede. 

Neue Empfehlungen zur systemischen Therapie bei Brustkrebs

Das Leitlinienprogramm Onkologie hat unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) die S3-Leitlinie Früherkennung, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Mammakarzinoms aktualisiert. Zu den wichtigsten Aspekten zählen Empfehlungen zum Einsatz von zielgerichteten Therapien, etwa mit CDK4/6-Inhibitoren, bei Patientinnen mit fortgeschrittenem Brustkrebs. Neue Zulassungen und Studiendaten zur zielgerichteten Therapie hatten eine fokussierte Aktualisierung zur Systemtherapie notwendig gemacht.

Chronischer Husten bei Erwachsenen

Im Sommer 2021 hat die DEGAM eine neue Leitlinie zu akutem und chronischem Husten bei Erwachsenenherausgegeben. 

Entsprechend der gängigen Nomenklatur wird bei einer Dauer von mehr als 8 Wochen von chronischem Husten gesprochen. Um zu einer schnellen Diagnosestellung zu gelangen, ist ein systematisches Vorgehen und damit eine gezielte Anamnese sowie eine gründliche körperliche Untersuchung essenziell. Das Rauchverhalten der erkrankten Person spielt dabei eine besondere Rolle. 

Wenn trotz strukturiertem diagnostischem Vorgehen keine Ursache für den Husten gefunden werden kann, wird dieser als chronischer Husten ohne erklärbare Ursache oder ungeklärter chronischer Husten bezeichnet. Bei der Therapie lassen sich generell verschiedene medikamentöse sowie nicht-medikamentöse Optionen unterscheiden. 

Leitlinie umfasst erstmals gemeinsam akute und chronische Pankreatitis

Unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) ist eine neue S3-Leitlinie für Diagnose und Therapie der akuten und chronischen Pankreatitis erarbeitet worden. 

Die akute Pankreatitis ist in der Regel binnen weniger Wochen überstanden, die nekrotisierende Pankreatitis allerdings mit einer hohen Sterblichkeitsrate assoziiert, vor allem, wenn sie durch Alkohol ausgelöst worden ist. 

Entscheidend für die Prognose ist die frühe Diagnose, die korrekte Einschätzung des Schweregrads und die interdisziplinäre Therapie. Erstmals sind in der Leitlinie die akute und chronische Pankreatitis gemeinsam erfasst, um die Übergänge der beiden ehemals getrennt wahrgenommenen Krankheitsbilder deutlich zu machen.

Hepatitis B: Weniger Neuinfektionen angestrebt

Seit 1. Oktober 2021 haben Versicherte ab 35 Jahren einmalig den Anspruch, sich beim Gesundheits-Check-up auf Hepatitis B und C testen zu lassen. Für das Screening stark gemacht hat sich die Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS), die kurz zuvor eine aktualisierte S3-Leitlinie zur Prophylaxe, Diagnostik und Therapie der Hepatitis-B-Virus (HBV)-Infektionpubliziert hat. 

Ziel der Autoren ist, die Zahl an Neuinfektionen zu verringern. Derzeit werden lediglich etwa 25% der mit dem Hepatitis-B-Virus Infizierten erfasst. Somit führt die Erkrankung zu hohen Versorgungskosten – ein Screening könnte die Situation verbessern. Insgesamt wurden in dem ausführlichen Update 57 Empfehlungen abgeändert und 44 Empfehlungen hinzugefügt. 

Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Coliquio.de.

 

Kommentar

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