Wie mentaler Stress das Herz belastet: Myokardischämie erhöht das Risiko für spätere kardiovaskuläre Ereignisse

Anke Brodmerkel

Interessenkonflikte

25. November 2021

Eine durch mentalen Stress ausgelöste Myokardischämie ist mit einem signifikant erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse bei Patienten mit stabiler koronarer Herzkrankheit (KHK) verbunden. Das haben US-Forscher in einer gepoolten Analyse von 2 prospektiven Kohortenstudien mit insgesamt 918 Probanden herausgefunden.

Das Team um Prof. Dr. Viola Vaccarino vom Department of Epidemiology an der Rollins School of Public Health der Emory University und Prof. Dr. Arshed Quyyumi vom Emory Clinical Cardiovascular Research Institute der Emory University School of Medicine in Atlanta, Georgia, veröffentlichte die Ergebnisse in JAMA  [1].

Die Autoren berichten, dass das Risiko für kardiovaskulären Tod oder einen nicht tödlichen Myokardinfarkt bei Patienten mit einer psychisch bedingten Ischämie rund 2,5-mal so hoch ist wie bei Patienten ohne diese Form der verminderten Durchblutung des Herzmuskels. Es seien allerdings weitere Untersuchungen erforderlich, um zu beurteilen, ob das Testen auf eine durch mentalen Stress ausgelöste Ischämie in der klinischen Praxis nützlich sei, schreiben die Forscher um Vaccarino und Quyyumi.

Bei den ausgewerteten Studien handelte es zum einen um die „Mental Stress Ischemia Prognosis Study“ (MIPS) und zum anderen um die „Myocardial Infarction and Mental Stress Study 2“ (MIMS2).

Stressempfindlichkeit als Risikofaktor

„Das ist eine sehr interessante Arbeit, die erstmals die prognostische Bedeutung einer durch mentalen Stress induzierten Myokardischämie bei KHK an einem großen Patientenkollektiv untersucht hat“, kommentiert Prof. Dr. Andreas Zeiher, außerordentlicher Professor für Kardiologie am Institute of Cardiovascular Regeneration der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Past-Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK), im Gespräch mit Medscape. Frühere Studien, die sich mit dem Thema beschäftigt hätten, seien alle deutlich kleiner gewesen.

 
Die US-Forscher konnten … methodisch sehr gut zeigen, dass tatsächlich 16% ihrer Probanden eine durch mentalen Stress ausgelöste Myokardischämie hatten. Prof. Dr. Andreas Zeiher
 

„Die US-Forscher konnten jetzt zum einen methodisch sehr gut zeigen, dass tatsächlich 16% ihrer Probanden eine durch mentalen Stress ausgelöste Myokardischämie hatten“, sagt Zeiher. „Zum anderen haben sie nachgewiesen, dass eine solche Ischämie das Risiko zu sterben, einen Infarkt zu erleiden oder wegen einer Herzinsuffizienz ins Krankenhaus zu kommen, mehr als verdoppelt.“

Beides habe seines Erachtens potentielle Konsequenzen. „Die Studie liefert wertvolle Hinweise darauf, dass es neben den bekannten Risikofaktoren wie Hypertonie oder Hyperlipidämie weitere Faktoren gibt, die weniger leicht zu erfassen sind, zum Beispiel eben eine erhöhte Stressempfindlichkeit“, erläutert Zeiher. Daraus ließen sich Behandlungsstrategien ableiten, etwa ein Stress-Management-Training oder regelmäßiges Ausdauertraining.

 
Die Studie liefert wertvolle Hinweise darauf, dass es neben den bekannten Risikofaktoren … weitere Faktoren gibt, die weniger leicht zu erfassen sind, zum Beispiel eben eine erhöhte Stressempfindlichkeit. Prof. Dr. Andreas Zeiher
 

Inwieweit solche Maßnahmen sinnvoll seien, müsse man aber in prospektiven Studien klären.

Aufgabe: Ein spontaner Kurzvortrag vor Publikum

Um die Auswirkungen von mentalem Stress auf die Herzgesundheit zu untersuchen, stellten die Forscher um Vaccarino und Quyyumi ihren Probanden, die im Mittel 60 Jahre alt waren, die folgende Aufgabe:

  • Sie erhielten am Morgen, noch auf nüchternen Magen, ein Thema, auf das sie sich 2 Minuten lang vorbereiten durften.

  • Anschließend mussten sie es 3 Minuten lang einem mindestens 4-köpfigen Publikum vorstellen, das den Vortrag bewertete.

  • Während des Tests wurden Blutdruck und Herzfrequenz aufgezeichnet.

  • Zudem sollten die Probanden ihr mentales Befinden anhand einer subjektiven Leidensdruckskala selbst einschätzen.

  • Zum Vergleich mussten sich die Teilnehmer zusätzlich einem konventionellen Belastungs- oder pharmakologischen Stresstest unterziehen.

Das Vorliegen einer Myokardischämie diagnostizierten die Studienärzte anhand von Single-Photonen-Emissions-Computertomografien. Rekrutiert wurden die Teilnehmer, von denen 34% weiblich waren, zwischen Juni 2011 und März 2016. Die letzte Nachuntersuchung erfolgte im Februar 2020.

Als primären Endpunkt ihrer Studie formulierten die Forscher eine Kombination aus kardiovaskulärem Tod oder erstem oder wiederholtem nichttödlichem Myokardinfarkt. Der sekundäre Endpunkt umfasste zusätzlich Krankenhausaufenthalte wegen Herzinsuffizienz.

Etwa jeder 6. reagierte auf Stress mit Ischämie

Wie die Wissenschaftler berichten, hatten von den 918 Probanden der Gesamtstichprobe – 618 hatten an MIPS und 300 an MIMS2 teilgenommen – 147 Patienten (16%) eine psychische, durch Stress verursachte Ischämie. 281 Patienten (31%) hatten eine konventionelle Stress-Ischämie und 96 (10%) hatten beides.

Im Verlauf der mittleren Nachbeobachtungszeit von 5 Jahren trat der primäre Endpunkt bei 156 Teilnehmern auf. Die gepoolte Ereignisrate betrug 6,9 pro 100 Patientenjahre bei Patienten mit und 2,6 pro 100 Patientenjahre bei Patienten ohne psychisch bedingte Ischämie.

Berücksichtigten die Forscher weitere Faktoren der Teilnehmer, entsprach dies einem 2,5-fach erhöhtem Risiko, den primären Endpunkt zu erreichen, wenn die Ischämie durch Stress und nicht konventionell verursacht worden war.

Im Vergleich zu Patienten ohne Ischämie (Ereignisrate: 2,3 pro 100 Patientenjahre) hatten Patienten mit alleiniger psychischer Stress-Ischämie ein signifikant erhöhtes Risiko (Ereignisrate: 4,8 pro 100 Patientenjahre), den primären Endpunkt zu erreichen – ebenso wie Patienten mit psychischer und konventioneller Stress-Ischämie (Ereignisrate: 8,1 pro 100 Patientenjahre, was einen additiven Effekt vermuten lässt).

Bei Patienten mit alleiniger konventioneller Belastungsischämie war das Risiko nicht signifikant erhöht (Ereignisrate: 3,1 pro 100 Patientenjahre).

Der sekundäre Endpunkt trat bei 319 Teilnehmern auf. Die Ereignisrate betrug 12,6 pro 100 Patientenjahre bei Patienten mit und 5,6 pro 100 Patientenjahre bei Patienten ohne psychische Stress-Ischämie.

Ein offenbar chronischer Prozess

„Leider wurden in der Studie manche blutdrucksenkenden Medikamente, etwa Betablocker und Nitrate, vor dem Stresstest abgesetzt“, sagt der deutsche Herzspezialist Zeiher. Insofern könne man nicht genau abschätzen, inwieweit sich die beobachteten Ergebnisse auf den Alltag übertragen ließen.

 
Die aktuelle Studie liefert eine Reihe interessanter Hypothesen, die es nun zu überprüfen gilt. Prof. Dr. Andreas Zeiher
 

„In jedem Fall deuten sie aber darauf hin, dass die Mechanismen, über die eine Myokardischämie zu kardiovaskulären Ereignissen in späteren Jahren führt, sich je nach Ursache der Minderdurchblutung voneinander unterscheiden“, sagt Zeiher. „Während bei einem konventionellen Belastungstest der periphere Widerstand in den Gefäßen geringer wird, nimmt er, bedingt durch die ausgeschütteten Katecholamine, beim mentalen Stresstest zu.“

Der Kardiologe Zeiher vermutet 3 Hauptmechanismen, über die eine stressinduzierte Myokardischämie das spätere Infarkt- und Sterberisiko erhöht:

  • „Erstens leiden die Betroffenen wahrscheinlich an einer Endothelfunktionsstörung im Bereich der Mikrozirkulation ihrer Koronararterien,

  • zweitens scheinen die Blutplättchen durch die Katecholamine aktiver zu werden, wodurch das Blut klebriger wird,

  • drittens gibt es Hinweise auf entzündliche Prozesse, die eine Rolle spielen.“

Interessant sei, dass die Kurven, die die kardiovaskulären Ereignisse aufzeigten, erst nach etwa 2 Jahren auseinandergingen. „Demnach scheint es sich um einen chronischen Prozess zu handeln, was darauf hindeutet, dass es einen grundlegenden Pathomechanismus gibt, über den Stress bei manchen Menschen das Herz in besonderem Maße schädigt“, erklärt Zeiher.

Andere Studien hätten gezeigt, dass bei diesen stressanfälligen Personen bestimmte Hirnregionen, die an der Entstehung von Emotionen beteiligt seien, oft überaktiv seien. „Auf alle Fälle liefert die aktuelle Studie eine Reihe interessanter Hypothesen, die es nun zu überprüfen gilt“, sagt Zeiher.

Weitere Studien sind erforderlich

Das sehen die Autoren der Analyse ähnlich. „Die koronare Herzkrankheit ist weltweit die häufigste Todesursache und Patienten mit chronischen Formen der KHK leiden unter erheblicher Morbidität, einschließlich hoher Raten wiederkehrender kardialer Ereignisse und eventuell auftretender Herzinsuffizienz“, schreiben sie.

„Weitere Forschungsarbeiten zur Identifizierung gefährdeter Bevölkerungsgruppen, zur Verbesserung der Risikostratifizierung und zum Verständnis nicht-traditioneller Risikofaktoren sind unerlässlich, um die Belastung der öffentlichen Gesundheit durch KHK zu verringern“, so die Autoren.
 

Kommentar

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