Weltweit Millionen Todesfälle durch Sepsis wären vermeidbar – was dafür zu tun ist und was wir von COVID-19 lernen können

Dr. Klaus Fleck

Interessenkonflikte

16. November 2021

Weltweit erleiden jedes Jahr geschätzt etwa 50 Millionen Menschen eine Sepsis, für rund 11 Millionen von ihnen endet diese schwerste Komplikation von Infektionen tödlich. Dabei wären die meisten Sepsis-Todesfälle vermeidbar, so die WHO.

Welche Strategien gegen Sepsis in Frage kommen und welche Lehren dabei aus der Corona-Pandemie zu ziehen sind, darüber diskutierten Experten auf dem diesjährigen World Health Summit. Er fand als Hybrid-Veranstaltung über 3 Tage in Berlin und digital statt – mit weltweit rund 6.000 Teilnehmern aus 120 Nationen [1].

Sepsis ist das Resultat einer überschießenden Immunantwort des Körpers auf eine Infektion (meist durch Bakterien, aber auch durch Viren, Pilze oder anderen Mikroorganismen) und kann zu schwersten Funktionsstörungen in verschiedenen Organen sowie dem Herz-Kreislauf- und Gerinnungssystem führen. An COVID-19 erkrankte Patienten in kritischem Zustand erfüllen in aller Regel die diagnostischen Kriterien einer viralen Sepsis, und bei den mittlerweile mehr als 5 Millionen Corona-Todesfällen gelten Sepsis und septischer Schock als wichtigste Todesursachen.

COVID-Versorgungselemente als Modell

„Bisherige Erfahrungen, die wir beim klinischen Management von COVID-19 gemacht haben, lassen sich auch für den Umgang mit Sepsis infolge anderer Infektionserreger bzw. anderer Infektionskrankheiten nutzen“, sagte Dr. Janet Diaz, Leiterin des WHO Emergency Programme Clinical Response to COVID-19.

Die Fortschritte, die durch die hohe Priorität für die Entwicklung von Impfstoffen, bei der Aufklärung über die Frühsymptome von COVID-19 in den Medien, bei der Schnelldiagnostik zur Sicherung der Diagnose und bei der Entwicklung neuartiger Medikamente gegen das Coronavirus gemacht wurden, sollten für alle Sepsis-Patienten gewährleistet sein.

 
Bisherige Erfahrungen, die wir beim klinischen Management von COVID-19 gemacht haben, lassen sich auch für den Umgang mit Sepsis infolge anderer Infektionserreger … nutzen. Dr. Janet Diaz
 

Dies gelte auch für den Zugang zur medizinischen Grundversorgung und zu einer frühzeitigen Notfall- und Intensivversorgung. Vor allem in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen ist dies weder bei COVID-19 noch bei Sepsis anderer Ursachen der Fall.

Auch in Industrieländern wie Deutschland entwickelt sich Sepsis in bis zu 80% der Fälle außerhalb des Krankenhauses – Hauptursachen sind Infekte der Atemwege, des Bauchraums, der Harnwege und Wundinfektionen. Sepsis ist ein Notfall, der in jedem Fall im Krankenhaus bzw. auf der Intensivstation behandelt werden muss.

Wie aus dem im vergangenen Jahr erschienenen Global Report on the Epidemiology and Burden of Sepsis der WHO hervorgeht, betrifft die Erkrankung weltweit Menschen jeden Alters und unverhältnismäßig stark vulnerable Bevölkerungsgruppen wie schwangere und kürzlich schwanger gewesene Frauen, Neugeborene, Kleinkinder, ältere Menschen, Personen mit chronischen Erkrankungen und immungeschwächte Menschen. Ins Auge fällt dabei der hohe Kinderanteil von rund 50% (von denen die meisten jünger als 5 Jahre sind).

Drei Viertel der Überlebenden mit Langzeitfolgen

Die Zahl von weltweit jährlich rund 11 Millionen Sepsis-Toten entspricht etwa 20% aller weltweiten Todesfälle. In Deutschland wird von circa 130.000 Sepsis-Erkrankungs- und circa 75.000 Todesfällen pro Jahr ausgegangen. Hierzulande ist Sepsis die dritthäufigste Todesursache nach kardiovaskulären Erkrankungen und Krebs und mit rund 15% aller Krankenhaustodesfälle assoziiert.

Wer die Krankheit überlebt, hat trotzdem mit erheblichen Folgen zu rechnen: „Drei Viertel aller Überlebenden leiden in den ersten 12 Monaten nach der Sepsis oder auch länger unter neuen körperlichen, seelischen und kognitiven Beeinträchtigungen“, sagte Dr. Carolin Fleischmann-Struzek vom Institut für Infektionsmedizin und Krankenhaushygiene am Universitätsklinikum Jena.

 
Drei Viertel aller Überlebenden leiden in den ersten 12 Monaten nach der Sepsis oder auch länger unter neuen körperlichen, seelischen und kognitiven Beeinträchtigungen. Dr. Carolin Fleischmann-Struzek
 

Dies ergab das von ihr geleitete Projekt SEPFROK (Sepsis: Folgeerkrankungen, Risikofaktoren, Versorgung und Kosten), das erstmals bundesweit die Folgen einer Sepsis auf Basis von Versichertendaten der AOK untersuchte. Im Vordergrund der gesundheitlichen Probleme nach durchgemachter Sepsis standen neuromuskuläre und muskuloskeletale, kardiovaskuläre, urogenitale und renale Beeinträchtigungen.

Weitere Ergebnisse der jetzt im JAMA publizierten Studie, über die die Jenaer Forscherin berichtete: Ein Drittel der Überlebenden, die vorher nicht pflegebedürftig waren, benötigten im 1. Jahr nach durchgemachter Sepsis pflegerische Unterstützung. Die postakute Mortalitätsrate innerhalb des 1. Jahres lag bei 30,5%.

„Dabei fiel auf, dass sowohl die Pflegebedürftigkeit als auch die erhöhte Mortalität nicht nur nach besonders schwerer Sepsis auftrat, sondern auch bei Patienten, die eine Sepsis ohne Organdysfunktion und ohne Aufenthalt auf einer Intensivstation durchgemacht hatten.“ Dies zeige, dass viele Sepsis-Patienten auch längerfristig eine spezifische Betreuung benötigten.

Mehr epidemiologische Studien nötig

Bei globaler Betrachtung zeigt die Sepsis erhebliche regionale Unterschiede, wobei etwa die Mortalitätsrate in Ländern mit niedrigem Einkommen bis zu 10-mal höher ist als in Industrieländern. „Generell“, so Fleischmann-Struzek, „gibt es nach wie vor einen großen Mangel an epidemiologischen Daten, um weltweit effektiver gegen die Sepsis und ihre Langzeitfolgen vorzugehen.“ Und bereits existierende Studienergebnisse ließen sich – etwa aufgrund unterschiedlicher Definitionen und Studiendesigns – nicht einfach von einem Land auf andere Länder übertragen.

„Hinzu kommen Diskrepanzen zwischen klinischen Daten und administrativer Diagnosekodierung, die vermuten lassen, dass die Sepsis-Inzidenz in einigen Industrieländern niedriger eingeschätzt wird als sie tatsächlich ist.“ Um in diesen Bereichen Verbesserungen zu erzielen, sind der Jenaer Forscherin zufolge u.a. mehr finanzielle Mittel und die Entwicklung von international gültigen Standards für epidemiologische Sepsis-Studien notwendig.

Mehr und bessere Daten zu Sepsis könnten ebenfalls dazu beitragen, dass das Problem in der allgemeinen Wahrnehmung den ihm gebührenden Stellenwert erhält.

Antimikrobielle oder antivirale Therapie ist zu ergänzen

„Die meisten Menschen wissen leider nicht, was Sepsis überhaupt ist“, sagte dazu Prof. Dr. Konrad Reinhart, Gründungspräsident der Global Sepsis Alliance und Vorsitzender der deutschen Sepsis-Stiftung. Vielfach nicht bekannt sei zudem, dass die meisten Patienten, die das Opfer einer Infektion werden, nicht an dieser selbst, sondern an der Schädigung der körpereigenen Organe durch immunologische Abwehrreaktionen sterben.

Erstmals erkannte diesen Zusammenhang übrigens der kanadische Mediziner Sir William Osler bereits im Jahr 1904. „Diese Tatsache“, so der Anästhesist und Intensivmediziner Reinhart, „bedeutet, dass Sepsis anders als eine unkomplizierte Infektion nicht nur antimikrobiell oder antiviral, sondern wegen ihrer Beeinträchtigung von Organsystemen auch organunterstützend behandelt werden muss.“

 
Die meisten Menschen wissen leider nicht, was Sepsis überhaupt ist. Prof. Dr. Konrad Reinhart
 

Dass die Bedrohung durch Sepsis im Laufe des vergangenen Jahrhunderts mehr und mehr in Vergessenheit geriet, hängt Reinhart zufolge mit der erfolgreichen Zurückdrängung von Infektionskrankheiten und den dadurch bedingten Todesfällen in den Industrieländern zusammen – die auf ärmere Länder freilich weit weniger zutraf.

Ein wichtiges Zeichen dafür, dass sich etwas in der Wahrnehmung verbesserte, war im Jahr 2017 die Sepsis-Resolution der WHO: „Damit wurde Sepsis endlich als globale Gesundheitspriorität definiert. Die Resolution weist darauf hin, dass Sepsis ein schnellstmöglich zu behandelnder Notfall ist, betont aber ebenso, dass sie oft die klinische Entgleisung gewöhnlicher und vermeidbarer Infektionen wie etwa der Atemwege, des Gastrointestinaltrakts, der Harnwege oder von Hautwunden sein kann“, so Reinhart. „Die Vermeidung dieser Infektionen gelingt oft durch Impfprogramme und eine verbesserte Hygiene – und auch das wurde durch COVID-19 besonders deutlich.“

Deutschland mit Nachholbedarf bei der Sepsis-Bekämpfung

Als Beispiele für Länder mit besonderen Erfolgen gegen Sepsis nannte Reinhart Australien und Neuseeland: „Innerhalb von 12 Jahren (2000 bis 2012) gelang es dort, die Sepsis-Mortalität nahezu zu halbieren.“ Dabei halfen insbesondere die Etablierung eines verpflichtenden Meldesystems für kritische klinische Vorkommnisse (Clinical Incidence Reporting) und spezieller Rapid Response Teams aus Ärzten und medizinischem Assistenzpersonal: Sie behandeln medizinische Notfälle bei hospitalisierten Patienten außerhalb von Intensivstationen.

In den USA, berichtete Reinhart, habe es zwischen 2009 und 2014 eine relative Verringerung der Sepsis-Todesfälle um 41% gegeben – während eine solche in Deutschland im gleichen Zeitraum lediglich 12% betrug. „Hier besteht bei uns also noch erheblicher Verbesserungs- bzw. Nachholbedarf!“

Sehr wichtig für Erfolge im Kampf gegen Sepsis ist Reinhart zufolge, dass dieser nicht nur vom medizinischen Personal geführt wird: „Notwendig sind dabei eine entschiedene Unterstützung durch die Politik und mehr Bewusstsein für das Thema Sepsis in der Bevölkerung.“ Aus diesem Grund findet hierzulande aktuell die vom Aktionsbündnis Patientensicherheit und weiteren Organisationen initiierte und vom Bundesgesundheitsministerium unterstützte Kampagne „Deutschland erkennt Sepsis“ statt.
 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....