„Ich will mich nicht ausziehen!“ Tipps, wie man als Arzt mit kulturellen Besonderheiten von Patienten respektvoll umgeht

Batya Swift Yasgur

Interessenkonflikte

16. November 2021

Prof. Dr. Sterling Ransone ist Hausarzt in Deltaville, Virginia. Als er an die Tür des Behandlungsraumes klopft und eintritt, sitzt eine 28-jährige Frau auf dem Untersuchungstisch und klagt über Fieber, Halsschmerzen und Verstopfung.

Ransone fragte, ob es in Ordnung sei, wenn er ihr Hemd anhebe, um ihr Herz und ihre Lungen abzuhören. Sie schüttelte leicht den Kopf. Er beschloss, sie auszukultieren, ohne ihr dafür die Kleidung auszuziehen, aber als er eine Hand auf ihre Schulter legt und sie mit dem Stethoskop am Rücken abhören möchte, zuckt sie zusammen. Anstatt mit der Untersuchung fortzufahren, fragt Ransone die Patientin, ob alles in Ordnung sei.

Es stellte sich heraus, dass sie Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden war und nicht wollte, dass ein Mann ihre Kleidung auszieht oder ihre Brust oder ihren Rücken anfasst. Glücklicherweise gab es in Ransones Praxis eine weibliche Kollegin, welche die Patientin auskultieren konnte.

„Ich bin froh, dass ich die Patientin gefragt habe, was mit ihr los ist, denn sonst hätte ich nicht erfahren, was sie durchlitten hat“, sagte Ransone, Präsident der American Academy of Family Physicians. „Die Patientin fühlte sich danach respektiert und sicher, und die therapeutische Beziehung wurde gestärkt statt beeinträchtigt.“

 
Ich praktiziere seit 25 Jahren, und es gehört zu meinen Prioritäten, dafür zu sorgen, dass sich der Patient wohl und respektiert fühlt, und zwar schon bei der allerersten Begegnung. Prof. Dr. Sterling Ransone
 

Die Würde des Patienten zählt für Ransone zu den höchsten Werten seines Berufes. Er erzählt, wie sich während seines Medizinstudiums bei einer Visite der Oberarzt und mehrere Assistenzärzte und Studenten in das halbprivate Zimmer einer älteren Frau drängten, die im Bett lag. Der Oberarzt zog die Bettdecke zurück und ließ die Patientin so daliegen, während er ihren Fall besprach.

„Ich habe mich für sie geschämt und viel gelernt, als ich diese Frau beinahe nackt vor all diesen Fremden liegen sah“, sagte Ransone, der auch ärztlicher Leiter der Riverside Fishing Bay Family Practice in Deltaville ist und zudem als Professor für Familienmedizin und Public Health an der Virginia Commonwealth University in Richmond unterrichtet. „Ich praktiziere seit 25 Jahren, und es gehört zu meinen Prioritäten, dafür zu sorgen, dass sich der Patient wohl und respektiert fühlt, und zwar schon bei der allerersten Begegnung.“

Das Trauma mitdenken

Laut Dr. Lauren Radziejewski, Leiterin des klinischen Programms „Transgender Medicine and Surgery“ am Mount Sinai Center in New York, sind Traumata ein häufiger Grund dafür, dass Patienten sich nicht entkleiden wollen.

„Wir lehren und befürworten bei Maßnahmen, die potenziell Erinnerungen an ein Trauma auslösen können, ein jederzeit behutsames Vorgehen. Und ich würde sicherlich jede Art von Behandlung oder Anwendung, bei der die Menschen ihre Kleidung ausziehen müssen, als potenziell auslösend bezeichnen“, sagte sie.

 
Jedes Trauma, das mit Verletzung und Entmachtung einhergeht … kann dazu führen, dass Menschen in einer sensiblen Situation, die als invasiv oder entmündigend empfunden werden kann, eher zurückhaltend sind. Dr. Lauren Radziejewski
 

Ein Trauma kann durch viele Faktoren verursacht werden. „Traumata sexueller Natur, wie z.B. erfahrene sexuelle Gewalt, sind die offensichtlichsten, die einem in den Sinn kommen, aber jedes Trauma, das mit Verletzung und Entmachtung einhergeht, auch nicht sexueller Art, kann dazu führen, dass Menschen in einer sensiblen Situation, die als invasiv oder entmündigend empfunden werden kann, eher zurückhaltend sind“, so Radziejewski.

Erst reden, dann anfassen

Laut Prof. Dr. Alicia Arbaje, Leiterin der Forschungsabteilung für medizinisches Schnittstellenmanagement am Center for Transformative Geriatrics Research, Division of Geriatric Medicine and Gerontology an der Johns Hopkins University in Baltimore, gibt es noch weitere und auch teils überlappende Gründe, sich nur ungern zu entkleiden: Diese können kultureller und religiöser Natur sein oder generationsbedingte Empfindlichkeiten oder ein körperliches Unbehagen widerspiegeln, die mit Übergangszeiten im Leben in Verbindung stehen (z.B. Pubertät, Menopause).

Es gibt allgemeine Grundsätze, die unabhängig vom Grund für das Unwohlsein von Patienten in diesen Situationen gelten. Andere sind speziell auf das jeweilige Problem oder Anliegen des Patienten zugeschnitten, so Arbaje.

 
Es ist wichtig, eine Beziehung aufzubauen, bevor man mit der körperlichen Untersuchung eines Patienten beginnt, vor allem bei Senioren oder anderen Patienten, die besondere Beschwerden haben könnten. Prof. Dr. Alicia Arbaje
 

„Heutzutage geht es in der Medizin oft um Geschwindigkeit. Man beeilt sich, um schnell zum nächsten Patienten weitergehen zu können“, sagte Arbaje, die auch Vorsitzende des Ausschusses für öffentliche Bildung der American Geriatric Society ist: „Aber es ist wichtig, eine Beziehung aufzubauen, bevor man mit der körperlichen Untersuchung eines Patienten beginnt, vor allem bei Senioren oder anderen Patienten, die besondere Beschwerden haben könnten.“

Sie rät den Ärztinnen und Ärzten, „sich Zeit zu nehmen, um zu reden, bevor man sie berührt“. Mit anderen Worten: „Finden Sie eine Möglichkeit für eine Begegnung, eine Art Treffen, selbst wenn es nur sehr kurz ist. Stellen Sie damit eine Beziehung her, bevor der Patient sich entkleidet oder bevor Sie den Patienten berühren, um ihn zu untersuchen.“

Sie räumte ein, dass dies in bestimmten klinischen Umgebungen schwierig zu bewerkstelligen sein könnte, aber: „Soweit es Ihnen möglich ist, sollten Sie versuchen, dieses Mehr an Zeit und diesen zusätzlichen Schritt in Ihren Arbeitsablauf zu integrieren.“

Man könne sich zunächst mit dem Patienten in der Praxis oder im Untersuchungszimmer hinsetzen, um sich dessen Anliegen anzuhören. Wenn für eine Untersuchung etwa ein Kittel erforderlich sei, könne der Patient diesen anziehen, nachdem der Arzt den Raum verlassen habe. Dies sorge für ein besseres und vertrauensvolleres Verhältnis.

Die Wahl der Sprache sei vor allem im Gespräch mit älteren Menschen wichtig. Der Patient solle stets mit seinem Namen, ggf. auch Titel angesprochen werden. „Verwenden Sie keinesfalls joviale oder verniedlichende Ansprachen wie ‚Alter‘, ‚Junge‘, ‚Süße‘ usw. und auch keinen Plural wie in ‚Wie geht es uns denn heute?‘ Solche Ansprachen sind infantilisierend und herablassend und können dazu führen, dass sich der Patient oder die Patientin während des gesamten Termins und besonders beim Entkleiden unwohl fühlt.“

Sensibel bei Transgender-Personen

Viele Transgender-Personen hätten sexuelle Gewalt und übergriffige Berührungen erlebt, aber selbst diejenigen, die das Glück gehabt hätten, von solchen Erfahrungen verschont geblieben zu sein, hätten in der Regel traumatische Erfahrungen allein deshalb gemacht, weil sie transgender seien, falsch sozialisiert oder missverstanden wurden oder die ‚falschen‘ Genitalien haben, so Radziejewski.

Vor allem bei Transgender-Patienten müsse man davon ausgehen, dass es eine traumatische Vorgeschichte geben könne. „Bleiben Sie stets sensibel für das Unbehagen des Patienten, sich zu entkleiden. Erkennen Sie die Untersuchung selbst als möglichen Auslöser und ergreifen Sie geeignete Maßnahmen, um das Trauma abzumildern.“

 
Der Schlüssel besteht damit darin, ihnen bei jedem Schritt so viel Kontrolle wie möglich wiederzugeben. Dr. Lauren Radziejewski
 

Radziejewski gibt ihren Patienten dazu eine ganze Palette von Optionen an die Hand. „Menschen, die versuchen, sich nach einem Trauma wieder in der Welt zurechtzufinden, einschließlich einer nicht respektierten Identität, leiden oft unter einem völligen Kontrollverlust. Der Schlüssel besteht damit darin, ihnen bei jedem Schritt so viel Kontrolle wie möglich wiederzugeben.“

Bei einem männlichen Transgender-Patienten könne man z.B. sagen: „Ich sehe mir gerade Ihre Akte an, aber ich finde keinen dokumentierten Pap-Test.“ Nachdem sie den Sinn des Tests empfohlen habe, räume sie ein, dass der Patient sich dabei unwohl fühlen könne. Dann mache sie einige Vorschläge zur Umsetzung, die von komplett nicht-invasiv bis invasiv reichten: „Sie können sagen, dass Sie den Test nicht machen möchten, oder Sie können selbst einen Abstrich im Badezimmer durchführen, nachdem ich Ihnen erklärt habe, wie es geht. Wenn es Ihnen lieber ist, kann auch ein Mann den Abstrich vornehmen, und wenn Sie sich wohler fühlen, wenn jemand anderes als ich, also z.B. ihr vertrauter Hausarzt den Abstrich vornimmt, kann ich auch das arrangieren.“ Am Ende des Gesprächs seien die meisten Patienten damit einverstanden, dass Radziejewski selbst die Untersuchung durchführe.

Bei invasiven Untersuchungen empfiehlt sie, einen Termin speziell für diese Untersuchung zu vereinbaren, anstatt zu versuchen, einen sensiblen Vorgang in die für eine normale Konsultation vorgesehene Zeit zu quetschen, wenn auch andere Themen besprochen werden. „Das stärkt auch das Gefühl der Kontrolle“, sagt sie.

Ein solcher Ansatz ist nicht nur für Transgender-Patienten relevant, sondern für alle, die ein Trauma erlebt haben oder eine Art Scham im Zusammenhang mit ihrem Körper empfinden, sagte sie.

Ransone fragt Transgender-Patienten auch offen, mit welchem Pronomen sie angesprochen werden möchten. Vor der Untersuchung darüber zu sprechen, was gemacht wird und warum, fördere ebenfalls das Vertrauen, verbessere das Verhältnis und sorge dafür, dass der Patient sich wohler fühle.

Wer sollte anwesend sein?

Arbaje empfiehlt, in Vorgesprächen zu einer anstehenden Untersuchung auch darüber zu sprechen, wen der Patient oder die Patientin während der Untersuchung vielleicht als Begleitung dabeihaben möchte. Dies sei besonders wichtig bei geriatrischen Patienten, die möglicherweise von einem Familienmitglied oder einer Pflegeperson gebracht würden.

Jugendliche fühlten sich eventuell nicht wohl, wenn ein Elternteil bei einer Untersuchung anwesend sei. Um die Privatsphäre Heranwachsender zu schützen, bitte Ransone die Eltern mitunter, im Wartezimmer Platz zu nehmen: „Es gibt Themen, die Jugendliche nicht ansprechen wollen, wenn ihre Eltern dabei sind“, sagt er.

Eine Frage, die in manchen klinischen Situationen eine Rolle spielt, ist, ob die Anwesenheit einer weiteren Person das Wohlbefinden des Patienten oder der Patientin steigert oder beeinträchtigt. Dies ist oftmals eine Ermessensentscheidung. In Deutschland führen manche Gynäkologen Untersuchungen stets in Anwesenheit einer Arzthelferin durch. Auch in der Pädiatrie ist so etwas teilweise üblich. In den USA ist in einer Reihe von Bundesstaaten die Anwesenheit einer „Aufsichtsperson“ vom Gesetzgeber vorgeschrieben.

Ransone setzt eine Schreibkraft ein, die während der Konsultation Notizen macht. Die Patienten würden im Vorfeld darüber informiert und wären auch frei darin, diese Person herauszubitten, wenn ein Vier-Augen-Gespräch mit Ransone gewünscht ist.

Bei Ransone ist diese Hilfsperson eine Frau, die zugleich bei intimen Untersuchungen von Frauen zugegen ist: „Ich gehe davon aus, dass eine Aufsicht anwesend ist, und meine Patientinnen wissen das auch. Aber sie wissen auch, dass sie diese Person bitten können, den Raum zu verlassen“, sagt er. „In diesen Fällen dokumentiere ich das Gespräch in der Patientinnenakte, um mich juristisch abzusichern.“

Er empfiehlt, in Praxen Hinweisschilder anzubringen oder Informationen über die weiteren Personen mit in die Informationsbroschüren einer Praxis aufzunehmen.

Männer stehen vor besonderen Herausforderungen

Armin Brott ist leitender Redakteur bei „Talking About Men's Health“. Aus seiner Sicht wäre die Anwesenheit einer Aufsichtsperson im Raum, während eine Ärztin einen Mann untersucht, selbst bei einer männlichen Aufsicht „extrem unangenehm, seltsam und sogar voyeuristisch für den männlichen Patienten“.

Er wies darauf hin, dass männliche Ärzte bei der intimen Untersuchung einer Frau in der Regel eine Aufsichtsperson hinzuziehen, „um sich selbst rechtlich zu schützen und um es der Patientin vielleicht angenehmer zu machen, aber Ärztinnen sind in der Regel weniger besorgt darüber, dass sie möglicherweise beschuldigt werden könnten, einen Mann belästigt zu haben, und ziehen in der Regel keine Aufsichtsperson hinzu“.

Männer haben „besondere Bedürfnisse und Herausforderungen“, wenn es um die Gesundheit geht, sagte Brott, der auch als Berater im „Men's Health Network“ wirkt. Er zitierte Untersuchungen, nach denen Männer seltener zum Arzt gehen. „Es ist also schon schwierig genug, einen Mann in eine Praxis zu bekommen, egal ob zu einem Arzt oder zu einer Ärztin“, sagte er. Wenn sie sich einer intimen Untersuchung unterziehen müssten, sei es sogar noch unwahrscheinlicher, dass Männer eine Ärztin aufsuchten, weil sie sich dabei unwohl fühlten.

„Ich glaube, viele Männer haben Probleme mit der Sexualität und fürchten, während einer Untersuchung durch eine Ärztin erregt zu werden“, sagt Brott. „Ich bin mir sicher, dass Ärztinnen und Pflegerinnen daran gewöhnt sind, aber für den Patienten ist es extrem peinlich. Der Mann könnte befürchten, dass es als unerwünschte sexuelle Annäherung an die Ärztin wahrgenommen wird.

Der Weg, diese Bedenken zu zerstreuen, ist die Kommunikation, so Brott. Er erinnerte sich an seine eigene Erfahrung während einer Behandlung durch eine Ärztin, die er noch nie gesehen hatte. „Sie kam herein und ging von dem Moment an mit mir um, als wäre ich gar keine Person. Sie hat nicht viel gesagt. Es wäre hilfreich gewesen, wenn sie eine Art menschliche Verbindung zu mir aufgebaut und mit mir gesprochen hätte. So etwas wie: ‚Ich habe das schon tausendmal gemacht, das werden Sie auch merken‘, oder: ‚Möchten Sie, dass ich Ihnen beschreibe, was ich tue, oder soll ich es einfach so schnell wie möglich erledigen?‘“

Bei einer anderen Gelegenheit unterzog sich Brott einem Eingriff, der von 2 Ärztinnen durchgeführt wurde, die kommunikativer gewesen seien und auch etwas Humor in die Konsultation eingebracht hätten, „was mich beruhigte“, sagte er.

Wenn ein Mann unwillkürliche Zeichen von Erregung zeigt, wäre es hilfreich, ihn zu beruhigen, so Brott: „Sie können etwas sagen wie: ‚Keine Sorge, das ist ganz natürlich und passiert ständig. Lassen Sie uns weitermachen, und ich verschwinde so schnell wie möglich wieder.‘“

Einzelschritte erläutern

Alle Experten betonen, wie wichtig es ist, während der Untersuchung zu erklären, was man gerade tut, selbst wenn das auch im Vorfeld schon besprochen worden sein sollte.

„Während der Untersuchung ist es wichtig, grundsätzlich bei jedem Schritt zu erklären, was man tut. Das gilt ganz besonders bei älteren Menschen“, so Arbaje. Zum Beispiel: „Bitte machen Sie ihren Arm frei, damit ich das Gelenk besser untersuchen kann.“ Oft sei man unsicher, was man als Nächstes tun solle. Man könne auch fragen: „Gibt es etwas, das ich wissen sollte, bevor ich diesen Teil von Ihnen untersuche? Wie geht es Ihnen damit?“ Sie rät, den Patienten um ein „laufendes Feedback“ zu bitten: „Ist das okay so? Ist das zu grob?“

Dies sei besonders wichtig, wenn man eine Beckenuntersuchung durchführe oder den Bauch des Patienten abtaste, der ja ein persönlicherer Bereich sei als z.B. das Knie. Nur der zu untersuchende Körperteil solle freigelegt werden. Nach Beendigung dieses Untersuchungsschrittes solle dieser Körperteil wieder abgedeckt werden, bevor der nächste untersucht werde.

Das Bitten um Rückmeldung sei besonders wichtig, da viele ältere Patienten daran gewöhnt seien, Ärzte und andere medizinische Autoritäten nicht zu hinterfragen, sich aber möglicherweise insgeheim entwürdigt fühlten.

Arbaje weist darauf hin, dass das Feedback auch nonverbal sein könne: „Ein Zucken oder Zusammenzucken etwa sind Anzeichen für ein Unbehagen, das Sie mit dem Patienten besprechen oder empathisch anerkennen sollten.“

Vertrauensbildung endet nach Untersuchung nicht

Arbaje rät Ärzten, „nach der Untersuchung etwas mehr Zeit mit dem Patienten zu verbringen und nicht einfach zur Tür hinauszugehen und die Person so halb entkleidet oder in einem Kittel sitzen zu lassen“.

Bei älteren Menschen könne dies bedeuten, den Patienten etwa beim Anziehen der Schuhe und Socken oder ihnen beim Aufstehen von der Untersuchungsliege zu helfen. „Lassen Sie ein wenig Zeit, um die Begegnung abzuschließen. Erledigen Sie nicht einfach ihre Dinge, um alles Weitere dann ihren Mitarbeitern oder den Begleitpersonen zu überlassen, was sehr respektlos wirken kann“, sagte sie. Nur wenige Minuten an menschlichem Kontakt über die Untersuchung hinaus könnten das Verhältnis klar verbessern und dem Patienten helfen, sich respektiert und wohlzufühlen.

Ein angenehmes Umfeld schaffen

Das Wohlfühlen des Patienten sollte bereits beim Betreten der Praxis beginnen und nicht erst im Untersuchungsraum, so die Experten. Die allgemeine Atmosphäre in der Praxis, d.h. die Professionalität, Höflichkeit und Freundlichkeit aller Mitarbeiter, trage zu einem Gefühl der Sicherheit bei, das die Voraussetzungen dafür schaffe, dass sich der Patient leichter entkleide und untersuchen ließe.

Brott wies darauf hin, dass die meisten Arztpraxen eher „frauenfreundlich“ eingerichtet sind, z.B. in Pastellfarben gehalten und mit Blumenmotiven versehen. Im Wartezimmer liegen oft Frauenzeitschriften aus. Eine geschlechtsneutrale Einrichtung und ein breiteres Zeitschriftenangebot kommen auch Männern mehr entgegen. Die Positionen am Empfang und in der medizinischen Assistenz werden häufig von Frauen bekleidet. Hilfreich wäre es da, wenn die Praxen auch männliche Mitarbeiter beschäftigten, die Patienten in den Untersuchungsraum geleiten, Vitalwerte überprüfen usw. „Das würde einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass sich ein Mann willkommen und wohl fühlt, auch wenn er letztlich einer Ärztin gegenübersitzt“, sagte er.

 
Nach Möglichkeit gibt es männliche und weibliche nichtärztliche Praxismitarbeiter, wodurch sich Patienten beiderlei Geschlechts angesprochen fühlen. Dr. Lauren Radziejewski
 

Radziejewski pflichtete ihm bei: „Nach Möglichkeit gibt es männliche und weibliche nichtärztliche Praxismitarbeiter, wodurch sich Patienten beiderlei Geschlechts angesprochen fühlen.“

Auch die Einrichtung des Untersuchungsraums könne dazu beitragen, dass sich die Patienten wohlfühlen. In Ransones Untersuchungsraum liege der Patient mit dem Blick zur Tür auf der Untersuchungsliege. Während der Untersuchung bleibe die Tür verschlossen, damit niemand ungefragt eintreten könne.

„Wenn Patienten die Tür nicht im Blick haben, könnten sie klaustrophobisch werden oder sich eher gefangen fühlen. Ich bemühe mich auch, keine Position zwischen dem Patienten und dem Ausgang aus dem Zimmer einzunehmen“, so Ransone. „In meinem Untersuchungsraum gibt es zufällig keine Fenster, aber ich habe schon Situationen erlebt, in denen ein Patient direkt vor einem Fenster auf der Liege untersucht wird, was ein Gefühl der Sichtbarkeit und Verletzlichkeit auslösen kann, selbst wenn sich die Praxis in einem hohen Stockwerk befindet und eigentlich niemand in das Fenster sehen kann.“

Hilfskräfte im Untersuchungsraum platziert Ransone so, dass der Patient sie zwar sehen kann, aber diese selbst nicht allzu viel von der Untersuchung sehen können. „Ich glaube, es ist unangenehmer und löst tendenziell eher Ängste aus, wenn man weiß, hinter einem steht jemand, den man selbst nicht sieht“, sagt er.

Der geeignete Kittel ... wenn überhaupt

Ist es notwendig, dass Patienten sich entkleiden und auch noch einen Kittel anziehen? Diese Frage stellt sich vor allem vor dem Hintergrund, dass das Tragen eines Kittels Untersuchungen zufolge psychischen Stress auslösen kann.

Prof. Dr. Danielle Ofri von der medizinischen Fakultät der NYU Grossman School of Medicine und Internistin am Bellevue Hospital, beides New York, sagt, dass die Patienten in ihrer Praxis Straßenkleidung tragen, es sei denn, sie müssen sich einer vollständigen körperlichen Untersuchung unterziehen.

Auch bei einer Bauchuntersuchung kann es genügen, die Hose zu lockern und leicht herunterzulassen. Die Patienten sollten für Ofri die volle Kontrolle darüber behalten, wie sehr sie sich entblößen: „Der Patient sollte immer die Führung übernehmen, wenn es darum geht, die Kleidung für eine gezielte körperliche Untersuchung anzupassen oder zu öffnen. Und natürlich müssen wir immer um Erlaubnis bitten, bevor wir mit irgendeinem Teil der Untersuchung beginnen.“

 
Der Patient sollte immer die Führung übernehmen, wenn es darum geht, die Kleidung für eine gezielte körperliche Untersuchung anzupassen oder zu öffnen. Und natürlich müssen wir immer um Erlaubnis bitten, bevor wir mit irgendeinem Teil der Untersuchung beginnen. Prof. Dr. Danielle Ofri
 

Für bestimmte, vor allem invasive Untersuchungen sind Kittel gut geeignet, wenn mit Verschmutzungen gerechnet werden muss. Für Ransone sind Stoffkittel den Papierkitteln, die leichter reißen und so zu unnötiger Exposition führen könnten, vorzuziehen. Kittel, die den Rücken unbedeckt ließen, sollten nicht verwendet werden. Falls doch, könne der Rücken mit einem 2. Kittel bedeckt werden.

Dies sei besonders wichtig, wenn bei der Untersuchung quer durch den Raum gegangen werden müsse, wie etwa zur Beurteilung des Gangbildes oder wenn der Patient auf der Waage stünde. Alternativ könne dem Patienten auch ein zusätzliches Tuch oder Laken gereicht werden, das während der Untersuchung nach Belieben zur Verhüllung genutzt werden kann.

Ransome verwendet in seiner Praxis Kittel, die den Patienten vollständig bedecken. „Ich habe schon zu viele Menschen in zu kleinen Kitteln gesehen, deshalb achte ich darauf, dass der Patient die passende Größe bekommt. Der zusätzliche Stoff lässt auch Spielraum beim Drapieren, sodass auch nur der Teil des Körpers freigelegt wird, bei dem es erforderlich ist“, sagt er.

Inzwischen gebe es zahlreiche Arten von Kitteln, darunter auch kimonoartige Kittel mit Bändern und Druckknöpfen, die eine Teilentblößung ermöglichten. Alle Experten rieten dazu, nach Möglichkeit diese oder ähnliche Arten zu verwenden.

Kulturelle und religiöse Erwägungen

Es sei wichtig, dass Ärzte auf kulturelle und religiöse Faktoren Rücksicht nähmen, welche die Einstellung der Patienten zur Kleidung und zu gegengeschlechtlichen Ärzten beeinflussen könnten, sagte Ofri.

In manchen islamischen und ultraorthodoxen jüdischen Gruppen dürften etwa bestimmte Körperteile in Gegenwart eines Mannes, der nicht blutsverwandt oder verheiratet ist, nicht entblößt werden. Studien hätten gezeigt, dass hispanische und asiatische Frauen aus Scham keine Mammografie durchführen ließen.

Arbaje berichtet von einer 90-jährigen Patientin, deren Arzt eine Ultraschalluntersuchung des Beckens angeordnet habe. Die Ultraschallabteilung hätte die Untersuchung transvaginal durchgeführt. „Die Patientin, eine Witwe, kam aus einem katholischen Umfeld und betrachtete dies als ‚Betrug‘ an ihrem verstorbenen Ehemann und fühlte sich verletzt und schämte sich“, so Arbaje.

Ofri, Autorin von „Medicine in Translation: Journeys With My Patients“, sagte, dass sie muslimischen und orthodoxen jüdischen Männern begegnet sei, die ihr erlaubten, die Knie zu untersuchen, ihr aber nicht die Hand geben wollen, weil es verboten sei, eine nicht verwandte Frau zu berühren. Muslimische Patientinnen seien bereit, ihren Schleier abzulegen, weil Ofri eine Frau ist, aber sie würden sich bei einem männlichen Arzt unwohl fühlen.

Wann immer möglich, sollte eine Untersuchung oder Behandlung geschlechtskonform erfolgen. Wenn dies nicht möglich sei, sollte den Patienten angeboten werden, sich der Untersuchung nicht zu unterziehen, es sei denn, es handele sich um einen Notfall, sagte Ofri: „Es kann notwendig sein, den Termin auf einen Zeitpunkt zu verschieben, an dem ein gleichgeschlechtlicher Arzt verfügbar ist, oder den Patienten an einen anderen Arzt zu verweisen.“

Es sei wichtig, kulturelle und religiöse Erwägungen zu berücksichtigen, doch gebe es in jeder Kultur oder Religion Unterschiede. Die Experten raten daher, sich direkt am Patienten zu orientieren.

Bedürfnisse kognitiv eingeschränkter Patienten respektieren

Patienten mit kognitiven Beeinträchtigungen hätten besondere Bedürfnisse, sagt Arbaje. Vielfach handele es sich dabei um ältere Menschen mit Demenz, wenngleich Entwicklungsstörungen, neurodegenerative Erkrankungen und andere Probleme, welche die Kognition beeinträchtigen, Patienten jeden Alters und in jeder Lebensphase betreffen können.

„Menschen mit Demenz verstehen nicht unbedingt, was man tut und warum man sie berührt. Selbst Menschen im fortgeschrittenen Stadium haben oft noch ein Schamgefühl und fühlen sich durch eine Untersuchung möglicherweise entwürdigt“, so Arbaje.

Arbaje rät dazu, klar zu erklären, was gemacht wird. Die Sprache, die man verwende, solle respektvoll und nicht herablassend klingen, auch wenn der Patient nicht verstehe, was gesagt werde. Der Großteil der Kommunikation solle jedoch nonverbal erfolgen. „Strahlen Sie durch Ihren Tonfall und Ihre Berührung Freundlichkeit, Sicherheit und Ruhe aus“, so Arbaje.

 
Menschen mit Demenz verstehen nicht unbedingt, was man tut und warum man sie berührt. Prof. Dr. Alicia Arbaje
 

Bei kognitiv eingeschränkten Patienten sei es hilfreich, wenn ein vertrautes Familienmitglied oder eine Betreuungsperson bei der Untersuchung anwesend sei und keine fremde Person. Je nach Grad der Beeinträchtigung könne es auch hilfreich sein, einen vertrauten Gegenstand, z.B. eine Decke oder auch ein Stofftier dabei zu haben. Geruch und Textur könnten ein Gefühl der Sicherheit und Vertrautheit vermitteln.

Auch Berührungen, die nicht im Rahmen der Untersuchung stehen, könnten beruhigend wirken. „Wir haben oft Angst davor, einen Patienten zu berühren, weil wir nicht als unangemessen gelten wollen, aber Menschen, die im späteren Leben an Demenz erkrankt sind, werden häufig nicht ausreichend stimuliert, was liebevolle und fürsorgliche Berührungen angeht“, sagte sie. „Für Menschen in dieser Situation sind menschliche Berührungen üblicherweise nur noch praktischer oder klinischer Natur, wie das Baden der Person durch eine Pflegekraft oder die Blutdruckmessung. Eine beruhigende, menschliche Berührung oder die Anwesenheit einer anderen Person kann die Angst des Patienten lindern und sehr heilsam sein.“

Ein Leuchten in die Augen der Patienten zaubern

„Ich weiß nicht, wie oft sich Patienten bei mir bedankt haben, weil ich ihnen die Dinge klar und deutlich erklärte und ihnen z.B. das Recht eingeräumt habe, auf das Tragen eines Kittels, eine Untersuchung oder einen Eingriff zu verzichten“, so Radziejewski.

„Natürlich spreche ich Empfehlungen aus, mitunter auch sehr deutlich. Aber die Menschen möchten das Gefühl haben, dass die Praxis ihres Arztes oder ihrer Ärztin ein Ort ist, an dem sie in ihrer gesamten Existenz respektiert und anerkannt werden, an dem sie sich sicher fühlen können und ihre Würde gewahrt bleibt. Das sollte für jeden Patienten gelten, ganz gleich, woher er kommt, was er glaubt, wen er liebt oder wie alt oder klug er ist. Ein solcher Ort bringt die Augen der Patienten zum Leuchten und trägt entscheidend dazu bei, dass sie sich an meine Empfehlungen halten und sich befähigt fühlen, sich wirklich um ihre Gesundheit zu kümmern und wieder gesund zu werden“, sagte sie.

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
 

Kommentar

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