Der jüngste Entwurf einer Stellungnahme der US Preventive Services Task Force (USPSTF) zur präventiven ASS-Verordnung ist besorgniserregend: „Die USPSTF kommt mit mäßiger Sicherheit zu dem Schluss, dass eine ASS-Einnahme beginnend ab 60 Jahren zur Primärprävention kardiovaskulärer Ereignisse keinen Nettobenefit hat.“ Ich habe keine Einwände gegen die Daten und schätze die Bemühungen der Wissenschaftler, aber die öffentliche Erklärung ist zumindest unvollständig und wurde im besten Fall gefährlich schlecht vermittelt.
Als Ärzte wissen wir, wie man mit derartigen Informationen am besten umgeht, aber die meisten der Patienten, die ein erhebliches kardiovaskuläres Risiko haben, sind Laien. Wie viele von denen haben wohl heute Morgen ihr ASS weggelassen? Manche dieser Patienten haben noch nie eine Stunde wegen Herzproblemen im Krankenhaus verbracht, aber sie haben ihr Infarktrisiko verringert, indem sie ihre Thrombozytenfunktion täglich bewusst durch Einnahme von 81 mg ASS manipulieren. Und das sollten sie auch weiterhin tun.
Ein Fallbericht
Nehmen wir z.B. Herrn B., einer meiner ganz typischen Patienten, wie ich im Laufe der Jahre viele gesehen habe. Er ist 68 und hatte noch nie ein kardiales Ereignis oder eine gastrointestinale Blutung. Zu seiner täglichen Routine gehören ein Spaziergang sowie die Einnahme eines Statins und 100 mg ASS, da sein Agatston-Score (Calcium-Score) mit 58 Jahren 10.000 betrug.
Damals, also vor 10 Jahren, kam er das 1. Mal zu mir. Er machte sich Sorgen, da sein Vater im gleichen Alter an einem Herzinfarkt verstorben war. Seine linksventrikuläre Ejektionsfraktion ist heute normal und sein Belastungs-EKG zeigt im Bruce-Protokoll nach 8 Minuten eine ST-Strecken-Senkung von 1 mm ohne pektanginöse Beschwerden. Da er gut informiert ist und sich über die neuesten kardiologischen Empfehlungen auf dem Laufenden hält, ist er genau der Typ Patient, für den diese neue USPSTF-Stellungnahme verhängnisvoll sein könnte, wenn er sein ASS absetzen würde.
Primärprävention: Auch an Kalzium denken
Im Oktober 2020 konnte anhand der DALLAS Heart Study gezeigt werden, dass Personen mit einem Agatston-Score (Kalzium-Score) über 100 eine höhere kumulative Inzidenz von Blutungen und atherosklerotisch bedingten kardiovaskulären Erkrankungen (ASCVD) aufwiesen als Personen ohne koronare Kalkablagerungen. Nach Adjustierung an klinische Risikofaktoren wurde der Zusammenhang zwischen dem Agatston-Score und Blutungen abgeschwächt und war statistisch nicht mehr signifikant, während der Zusammenhang zwischen dem Score und atherosklerotisch bedingten kardiovaskulären Erkrankungen bestehen blieb.
Ich fragte einen der Ärzte, Dr. Amit Khera vom UT Southwestern Medical Center, nach aktuellen Empfehlungen. Er betonte, dass sowohl die Präventionsleitlinien der AHA/ACC (American Heart Association/American College of Cardiology) als auch die USPSTF-Erklärung besagen, dass ASS bei Patienten mit höherem kardiovaskulärem Risiko weiterhin in Betracht gezogen werden könne. Die USPSTF definiert dies als ein 10-Jahres-ASCVD-Risiko von über 10%.
Khera hatte an der Erstellung der Leitlinien für 2019 mitgewirkt und erklärte jetzt, dass das Leitlinienkomitee absichtlich keine spezifischen Empfehlungen zur Abgrenzung des höheren Risikos abgegeben habe, da die Datenlage zu diesem Zeitpunkt nicht eindeutig gewesen sei. Seitdem hätten einige Arbeiten, wie etwa die in JAMA Cardiology veröffentlichte Analyse der Dallas Heart Study, gezeigt, dass Patienten mit einem geringen Blutungsrisiko und einem Agatston-Score > 100 einen Nettobenefit aus der ASS-Einnahme ziehen können. „Daher bespreche ich bei einem hohen Agatston-Score und geringem Blutungsrisiko mit den Patienten die Möglichkeit, mit der ASS-Einnahme zu beginnen oder sie fortzusetzen“, sagte er.
Bei Laien kommt die falsche Botschaft an
Ich habe am 12. Oktober bei ABC World News Tonight den Bericht über die USPSTF-Erklärung gesehen und war sofort beunruhigt. Da die Einschaltquoten der „Big-Three“-Sender in die Millionen gehen, könnte die simple Botschaft, ASS abzusetzen, für viele Risikopatienten ernste Folgen haben. Die blutverdünnende Wirkung einer ASS-Einzeldosis hält etwa 10 Tage an. Es wird interessant sein, zu sehen, ob die Infarktrate im Laufe der Zeit ansteigt. Diese Frage würde sich bei einer besser formulierten Erklärung wohl gar nicht stellen. Ich fürchte daher, dass die fehlende Nuancierung für einige Patienten zu einem großen Problem werden könnte.
In JAMA Cardiology schreiben Khera und sein Team, dass die ASS-Einnahme keine Patentlösung sei: eine Aussage, der wahrscheinlich alle Ärzte zustimmen dürften. Die USPSTF-Stellungnahme hätte den Hinweis enthalten sollen, dass die ASS-Einnahme bei einem hohen Agatston-Score und geringem Blutungsrisiko immer noch eine sehr gute Wahl sei, auch wenn sich kein kardiovaskuläres Ereignis eingestellt hätte. Und wenigstens hätte die USPSTF-Stellungnahme die Empfehlung für Patienten enthalten müssen, die ASS-Behandlung nicht eigenmächtig abzusetzen, sondern in jedem Fall die Meinung des behandelnden Arztes einzuholen.
Ich hoffe, dass Patienten wie Herr B. die richtige Botschaft noch rechtzeitig erreicht.
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Diesen Artikel so zitieren: ASS einfach weglassen? Kardiologin findet kritische US-Stellungnahme zu weniger Primärprävention mit ASS „verhängnisvoll“ - Medscape - 4. Nov 2021.
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