Cannabis weiterhin auf Rezept? Risiken und Wirkung kaum untersucht – Schmerzgesellschaft kritisiert immer noch fehlende Evidenz

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

27. Oktober 2021

Patienten mit einer schwerwiegenden Erkrankung haben seit März 2017 unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf Cannabis auf Rezept. Jeder Haus- und Facharzt darf seitdem getrocknete Cannabisblüten und -extrakte sowie Arzneimittel mit den Wirkstoffen Dronabinol und Nabilon verordnen. Die Kassen übernehmen in der Regel die Kosten.

 
Die Behandlung chronischer Schmerzen mit medizinischem Cannabis steht in einem wachsenden Spannungsfeld von finanziellen Interessen, Hoffnungen der Betroffenen und einer nicht nachgewiesenen Effektivität. Prof. Dr. Frank Petzke
 

Trotz fehlender arzneimittelrechtlicher Prüfung und Zulassung können so Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen „bei nicht ganz entfernt liegender Aussicht auf eine positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder Linderung von schwerwiegenden Symptomen“ Cannabinoide erhalten. Stehen etablierte Therapieverfahren nicht zur Verfügung, waren sie erfolglos oder dem Patienten nicht zumutbar, kommt eine Versorgung mit Cannabis infrage.

In hochwertigen Studien gibt es allerdings nach wie vor keinen sicheren Wirkungsnachweis, und auch die Risiken einer längerfristigen Behandlung sind kaum untersucht, stellte Prof. Dr. Frank Petzke, Leiter der Schmerzmedizin an der Universität Göttingen und Sprecher der Ad-hoc-Kommission „Cannabis in der Medizin“ der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V., auf der Online-Pressekonferenz der Deutschen Schmerzgesellschaft und der Deutschen Migräne-und Kopfschmerzgesellschaft klar [1].

„Die Behandlung chronischer Schmerzen mit medizinischem Cannabis steht in einem wachsenden Spannungsfeld von finanziellen Interessen, Hoffnungen der Betroffenen und einer nicht nachgewiesenen Effektivität“, konstatierte Petzke.

 
Diese hohe Summe legt nahe, dass ein wirtschaftlich interessanter Markt mit erheblichen Kosten für die Solidargemeinschaft entstanden ist. Prof. Dr. Frank Petzke
 

Wie die Deutsche Schmerzgesellschaft mitteilt, wurde im ersten Halbjahr 2021 medizinisches Cannabis in Höhe von fast 90 Millionen Euro in 185.000 Einzelverordnungen verschrieben. „Diese hohe Summe legt nahe, dass ein wirtschaftlich interessanter Markt mit erheblichen Kosten für die Solidargemeinschaft entstanden ist“, sagt Petzke.

2022: Begleitstudie zu medizinischem Cannabis wird ausgewertet

Derzeit zählen manche Formen der Epilepsie, schmerzhafte Spastizität bei Multipler Sklerose und Übelkeit und Erbrechen nach Chemotherapie bei Versagen anderer Optionen zu den Indikationen mit speziell zugelassenen Cannabis-basierten Arzneimitteln, die ärztlich direkt verordnet werden können.

Alle anderen möglichen Indikationen für eine Therapie mit medizinischem Cannabis – einschließlich der Behandlung von Schmerzen – benötigen ein besonderes Antragsverfahren. Dabei gilt als Faustregel: Nur wenn eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt, für die die Standardtherapien bereits ausgeschöpft sind oder nicht zur Anwendung kommen können, kann die Kostenübernahme bei der Krankenkasse beantragt werden.

Der Behandler muss zudem bescheinigen, dass eine – so das Gesetz – „nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht“.

Die Deutsche Schmerzgesellschaft hebt hervor, dass es sich bei Cannabis um „kein Wundermittel“ handele. In der Schmerztherapie könne es derzeit nur bei Patienten mit nicht anders behandelbaren schwersten chronischen Nervenschmerzen eingesetzt werden.

Cannabinoide sollten nicht als einzige Maßnahme gesehen werden, sondern nur in Kombination mit physiotherapeutischen und psychotherapeutischen Verfahren. Eine langfristige Therapie sei nur bei einer anhaltenden positiven Wirkung sinnvoll.

Nächstes Jahr steht die Auswertung der gesetzlich geforderten Begleiterhebung an. Alle Ärzte, die medizinisches Cannabis verschreiben, und alle Patienten, die mit Cannabis therapiert werden, sind verpflichtet, an der 5-jährigen Begleitstudie teilzunehmen.

Diagnose, Dosis, Wirkungen, Nebenwirkungen und weitere Angaben werden dabei anonymisiert an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) übermittelt. Im Anschluss wird der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die Ergebnisse der Studie nutzen, um festzulegen, wann eine Therapie mit Cannabis sinnvoll ist.

Bilanz fällt durchwachsen aus

Was hat sich in den 5 Jahren getan? Die Bilanz der Schmerzgesellschaft fällt durchwachsen aus. So habe sich die Evidenzgrundlage auf Basis randomisierter klinischer Studien in dieser Zeit wenig weiterentwickelt; für fast alle Indikationen besteht kein sicherer Wirkungsnachweis, insbesondere für Cannabisblüten und -extrakte. Auch die Risiken und Nebenwirkungen einer längerfristigen Behandlung mit medizinischem Cannabis sind weiterhin kaum beschrieben und erfasst.

Andererseits lieferten offene und nicht kontrollierte Studien immer wieder Hinweise auf positive Effekte in selektierten Patientengruppen, die auch in der klinischen Erfahrung bestätigt werden. In der Begleiterhebung berichten die behandelnden Ärzte und Ärztinnen über positive Effekte nach einem Jahr Behandlung bei etwa 2 Dritteln der 10.000 dokumentierten Patienten – die bei Weitem häufigste Indikation sind chronische Schmerzen.

Das breite Spektrum an Cannabinoid-haltigen Fertigarzneimitteln und Zubereitungen in Form von diversen Blütenprodukten, standardisierten Extrakten und einer Vielzahl konkurrierender Anbieter schafft einerseits verbesserte therapeutische Optionen, sagt Petzke. Die Vielzahl mache es den Behandlern und Patienten aber auch schwer, das richtige Präparat auszuwählen.

Gemischt sind auch die Erfahrungen mit dem Genehmigungsverfahren durch die Krankenkassen und den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK): manchmal sehr kooperativ, manchmal wenig transparent.

Nicht selten würden Evidenzstandards oder Vorbehandlungen gefordert, die über den Rahmen der gesetzlichen Anforderungen hinausgehen. Ablehnungen ihres Antrags bleiben für viele Patienten nicht nachvollziehbar.

„Patienten mit schweren Erkrankungen und Schmerzen und Ärztinnen und Ärzte haben ein gut nachvollziehbares Interesse an einer Behandlungsoption mit Cannabis“, sagte Petzke.

Die geringe Evidenz und eine fehlende Zulassung für viele potenzielle Indikationen erforderten aber auch eine kritische und rationale Auseinandersetzung über das Genehmigungsverfahren, sinnvolle Indikationen, den tatsächlichen Nutzen, langfristige Risiken und auch Kosten der Behandlung, so Petzke.

Die Deutsche Schmerzgesellschaft begrüßt deshalb einen konstruktiven Dialog der beteiligten Interessensgruppen im Jahr 2022, an dem sie sich auch aktiv beteiligen wird.

 

Kommentar

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