Wir essen zu ungesund, weil Politik beim Umsetzen der Ernährungsempfehlungen versagt: Wann kommt Deutschland aus den Startlöchern?

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

21. Oktober 2021

Wie einfach ist es, sich gesund zu ernähren? Deutschland hat dabei noch reichlich Nachholbedarf. Das ist das Fazit, das Experten auf der Online-Pressekonferenz der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU München) und des Leibniz-Instituts für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) gemeinsam mit der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK) zogen [1].

55 Experten aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft hatten 43 Länder auf den Food Environment Policy Index (Food-EPI) hin verglichen und untersucht, wie Deutschland dabei abschneidet, nachhaltige Ernährungsumfelder zu schaffen. Die Ergebnisse sind ernüchternd: Von 13 Bereichen erzielt Deutschland demnach nur in 2 Bereichen kein schlechtes Resultat.

„Die Ergebnisse des Food-EPI 2021 zeigen, dass Deutschland aktuell weit hinter internationalen Best Practices zur Schaffung gesunder und nachhaltiger Ernährungsumfelder zurückbleibt und dringender Reformbedarf besteht“, kommentiere Dr. Peter von Philippsborn, Wissenschaftler am Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung der LMU München und einer der Autoren, die Ergebnisse. Nur bei der Entwicklung offizieller Ernährungsempfehlungen und bei der Datensammlung und Datenauswertung steht Deutschland im internationalen Vergleich recht gut da.

Beim Umsetzungsgrad international praktizierter Methoden bei den Lebensmittelpreisen, bei der Regulierung von Werbung und beim Lebensmittelangebot hapert es allerdings ziemlich – da erreicht Deutschland lediglich die Stufen „niedrig“ oder gar „sehr niedrig“. Kein Bereich sei durch die hiesige Politik sehr gut umgesetzt worden, bilanzieren die Autoren.

Gesunde Ernährung leicht umsetzbar? Von wegen

15% aller Todesfälle und mehr als 17 Milliarden Euro Gesundheitskosten pro Jahr gehen in Deutschland auf unausgewogene Ernährung zurück. 25% der Erwachsenen in Deutschland haben starkes Übergewicht und rund 10% sind an Diabetes mellitus erkrankt -Tendenz steigend. Hinzu kommt: das globale Ernährungssystem verursacht 25% der weltweiten Treibhausgasemissionen und ist hauptverantwortlich für das Artensterben.

Die Experten sehen die Politik in der Pflicht zu handeln. Viele Menschen versuchen sich ausgewogen zu ernähren, betonten sowohl von Philippsborn als auch PD Dr. Antje Hebestreit von der Abteilung für Epidemiologische Methoden und Ursachenforschung am BIPS in Bremen. Im Alltag lasse sich das jedoch nicht immer leicht umsetzen: quengelnde Kinder an Supermarktkassen voller Süßwaren, kaum verständliche Nährstofftabellen auf Lebensmittelverpackungen, aufdringliche Werbung für Fastfood und Softdrinks, die Wahl zwischen billiger Schnitzelsemmel und teurerem Salat.

Dass es weder an Wissen noch an gutem Willen mangelt bestätigte auch Prof. Dr. Diana Rubin, Leiterin des Zentrums für Ernährungsmedizin Vivantes Region Nord, Berlin: „Über 90% aller Menschen geben in Umfragen an, sich gesund ernähren zu wollen. Das Problem ist, dass unsere Ernährungsumfelder es uns schwer machen, uns ausgewogen zu ernähren.“ Denn sie seien geprägt von der allgegenwärtigen Verfügbarkeit von wenig gesunden Lebensmitteln, die geschickt beworben, attraktiv präsentiert und günstig angeboten würden.

 
Über 90% aller Menschen geben in Umfragen an, sich gesund ernähren zu wollen. Das Problem ist, dass unsere Ernährungsumfelder es uns schwer machen, uns ausgewogen zu ernähren. Prof. Dr. Diana Rubin
 

Dabei hängen Klima- und Umweltschutz und Gesundheit eng zusammen: „Ein Viertel der globalen Treibhausgasemissionen sind durch unsere Ernährung bedingt und das Ernährungssystem ist hauptverantwortlich für den Biodiversitätsverlust, die Entwaldung und den Verlust von Süßwasserreserven. Und zugleich ist kaum etwas so wichtig für unsere körperliche und psychische Gesundheit wie unsere Ernährung.

Die gute Nachricht sei, so Philippsborn: „Durch eine ausgewogene Ernährung können wir Klima, Umwelt und unsere Gesundheit zugleich schützen. Eine Ernährung entsprechend den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) spare – verglichen mit der derzeitigen durchschnittlichen Ernährungsweise – rund ein Viertel der ernährungsbedingten Treibhausgasemissionen ein – und sei auch deutlich gesünder.

Mehrwertsteuer für Obst und Gemüse senken, Werbung einschränken

Die Autoren haben 28 Reformoptionen identifiziert und nach 3 Kriterien bewertet: den Beitrag zur Verbesserung der Ernährung, die praktische Umsetzbarkeit und den Beitrag zum Abbau sozialer Ungleichheiten im Ernährungsstatus. Sie fordern 5 Maßnahmen um die Möglichkeit, sich ausgewogen zu ernähren, rasch und nachhaltig zu verbessern:

  • eine qualitativ hochwertige, gebührenfreie Schul- und Kitaverpflegung

  • eine gesundheitsförderliche Mehrwertsteuerreform mit einer Steuervergünstigung für gesunde Lebensmittel wie Obst und Gemüse

  • eine Herstellerabgabe auf Softdrinks

  • eine gesetzlich verbindliche Regulierung von Kinder-Lebensmittelmarketing

  • gesunde Verpflegungsangebote in öffentlichen Einrichtungen wie Kliniken, Behörden, Hochschulen und Seniorenheimen

Nachdrücklich fordern sie, auf Kinder zugeschnittene Werbung für ungesunde Lebensmittel einzuschränken: „Kinder sehen in Deutschland jeden Tag im Durchschnitt 15 Werbespots für ungesunde Lebensmittel, davon 10 im Fernsehen und 5 im Internet. Hieran haben auch freiwillige Selbstverpflichtungen der Lebensmittel- und Werbeindustrie nichts geändert.

Die Politik ist in der Pflicht, Kinder vor gesundheitsschädlicher Werbung zu schützen“, betonte Barbara Bitzer, Sprecherin der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK). Dass verbindliche Regeln notwendig sind, bekräftigte auch Hebestreit: „Leider hat die Lebensmittel‐ und Werbeindustrie ihre unverbindlichen, selbst gegebenen Regelwerke zu Kinder‐Lebensmittelwerbung bislang konsequent ignoriert – und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich dies in Zukunft ändern wird, solange die Regeln freiwillig und unverbindlich bleiben.“

 
Politik darf nicht länger Rücksicht auf die Lebensmittelindustrie nehmen. Barbara Bitzer
 

Gesunde Lebensmittel müssten billiger und ungesunde wie z.B. Softdrinks teurer werden, sagte Bitzer und fügte hinzu: „Politik darf nicht länger Rücksicht auf die Lebensmittelindustrie nehmen.“ Möglicherweise sei es auch sinnvoll, den gesundheitlichen Verbraucherschutz künftig im Gesundheitsministerium anzusiedeln um Interessenkonflikte zu vermeiden, so Bitzer.

Die Zeit drängt: Jetzt ist die Politik gefragt

Die Experten sehen jetzt die Politik am Zug. „Von der kommenden Bundesregierung erwarten wir konkrete, praktische Maßnahmen, um eine ausgewogene Ernährung für alle im Alltag möglich zu machen. Dazu gehört ein Bundesinvestitionsprogramm für die Kita- und Schulverpflegung, wie es vom wissenschaftlichen Beirat am Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) letztes Jahr vorgeschlagen wurde“, sagte von Philippsborn.

Zur Finanzierung solle eine Herstellerabgabe auf Softdrinks nach britischem Vorbild eingeführt werden. Um Kinder vor Werbung für ungesunde Lebensmittel zu schützen, müssten endlich verbindliche gesetzliche Regeln auf Bundesebene her. „Diese Vorhaben sollten auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben werden. SPD, Grüne und FDP haben in ihren Wahlprogrammen versprochen, mehr für die Förderung einer ausgewogenen Ernährung zu tun, insbesondere unter Kindern. Jetzt ist es an der Zeit, dieses Versprechen einzulösen. Die Zeit drängt – beim Klimaschutz, aber auch bei der Vorbeugung ernährungsbedingter Erkrankungen. Jetzt ist die Zeit zu handeln.“

 

Kommentar

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