Zwar stehen respiratorische Probleme bei schwer erkrankten COVID-19-Patienten im Vordergrund. „Mittlerweile wissen wir jedoch, dass neben den Atemwegen insbesondere das Herz-Kreislauf-System – durch eine Schädigung der Blutgefäße –von dieser Erkrankung betroffen werden kann“, erklärte PD Dr. Farzin Adili, Direktor der Klinik für Gefäßmedizin, Gefäß- und Endovascularchirurgie am Klinikum Darmstadt auf einer Online-Pressekonferenz anlässlich der Hybridjahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin (DGG) [1].

PD Dr. Farzin Adili
Zur Vermeidung von Langzeitfolgen um so wichtiger sei die therapeutische Beeinflussung einer dafür oft verantwortlichen gestörten Blutgerinnung.
Endothelzellen als unmittelbares Angriffsziel des Virus
Wie DGG-Vorstandsmitglied Adili erläuterte, nutzt SARS-CoV-2 die Rezeptoren des Angiotensin-Converting Enzyms 2 (ACE2), um die Infektion einzuleiten: „Diese Rezeptoren für ACE2 befinden sich in hoher Dichte in der Innenwand der Atemwege als Haupteintrittspforte für das Virus, aber auch in den Endothelzellen der Blutgefäße, wo reichlich ACE2 gebildet wird. Damit werden diese Zellen zum unmittelbaren Angriffsziel für das Virus.“
Die Infektion der Endothelzellen führt zu einer heftigen Entzündungsreaktion. Mögliche Folgen in der Lunge sind Pneumonie, Lungeninfarkt und ARDS (Adult Respiratory Distress Syndrome).
Risiko für generelle vaskuläre Dysfunktion
Über die Entzündung der Gefäßwände kann es jedoch auch an anderen Stellen zu einer viralen Schädigung des Herz-Kreislauf-Systems und damit einer generellen vaskulären Dysfunktion kommen: So führt die Infektion Adili zufolge u.a. zu einer Aktivierung der Gerinnungskaskade, einer Unterdrückung fibrinolytischer Mechanismen und damit zu makro- und mikrovaskulären thrombotischen Ereignissen mit der möglichen Folge akuter arterieller und venöser Verschlüsse auch in lebenswichtigen Organen und in den Extremitäten.
Das Risiko venöser Thromboembolien kann Studien zufolge mit einer Inzidenz von bis zu 25% und einer Lungenembolie-Inzidenz von 20% bei hospitalisierten COVID-19-Patienten beträchtlich sein.
„Die thrombotischen Ereignisse in den Lungengefäßen“, so der Darmstädter Gefäßmediziner, „sind dabei nicht nur auf verschleppte Thromben aus tiefen Beinvenen zurückzuführen, sondern werden ebenso durch Thromben verursacht, die direkt in den Lungengefäßen entstehen.“
Weitere Anhaltspunkte für Gefäßmanifestationen der endothelialen Dysfunktion lieferten Berichte, die auf die höhere Inzidenz von Schlaganfällen bei COVID-19-Patienten hinweisen, sowie eine retrospektive Fall-Kontroll-Analyse, die zeigt, dass COVID-19 ein unabhängiger Risikofaktor für Schlaganfälle ist.
Antikoagulation als zentrales Therapieelement
Die große Bedeutung der durch SARS-CoV-2-Infektionen induzierten gefäßmedizinischen Pathologien lässt sich Adili zufolge auch anhand der aktuellen RKI-Empfehlungen zur Pharmakotherapie ablesen: „Die therapeutische Beeinflussung der gestörten Blutgerinnung durch eine medikamentöse Antikoagulation stellt dabei neben der antiinflammatorischen und teilweise auch experimentellen antiviralen Therapie das zentrale Element der pharmakologischen COVID-19-Behandlung dar.“
Hinweise auf die Gerinnungsaktivierung gibt die Bestimmung der D-Dimere. Diese wird bedarfsadaptiert empfohlen, wie Adili gegenüber Medscape erläuterte. Ansonsten gelten keine besonderen Empfehlungen bezüglich der Gerinnungsdiagnostik im stationären oder ambulanten Bereich.
Für den ambulanten Bereich wird off-label empfohlen, dass wenn bei alten und/oder vorerkrankten Patientinnen und Patienten mit SARS-CoV-2-Infektion die D-Dimere um mindestens das 1,5 bis 2-Fache des Normwertes erhöht sind, eine prophylaktische Heparinisierung mit einem niedermolekularen Heparin (NMH) erfolgen sollte.
Hierbei gibt es allerdings eine wichtige Einschränkung, so der Darmstädter Gefäßmediziner: „Nicht durchgeführt werden sollte die prophylaktische Heparinisierung bei vorbestehender oraler Antikoagulation, vorsichtig abzuwägen ist sie bei bestehender ASS-Dauertherapie.“ Details dazu finden sich in der S1-Handlungsempfehlung der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM): „SARS-CoV-2/Covid-19-Informationen und Praxishilfen für niedergelassene Hausärztinnen und Hausärzte“.
Zwar fehlen bisher effektive Medikamente gegen das Virus selbst. Zur Verhinderung schwerwiegender vaskulärer Infektionsfolgen gebe es aber, so Adili, vielfältige konservative, interventionelle und operative Therapiemöglichkeiten der Gefäßmedizin. Beispiele hierfür sind im Bedarfsfall neben der Antikoagulation und Thrombolyse Katheterinterventionen zur Gerinnselentfernung und Thrombektomien.
Gefäßpatienten profitieren besonders von der Corona-Impfung
Als überaus wichtig bezeichnete Adili die Prävention: So sollten sich Menschen, die an vaskulären Erkrankungen leiden, unbedingt gegen das Coronavirus impfen lassen, da sie ein erheblich erhöhtes Risiko für Thrombosen und Embolien und damit schwere oder gar tödliche COVID-19-Verläufe haben.
Dies gelte ganz besonders für Patienten nach gefäßchirurgischen Eingriffen – etwa nach der Operation eines Aortenaneurysmas, der chirurgischen Rekanalisation stark arteriosklerotisch verengter Arterien oder nach der Amputation einer Extremität aufgrund einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit.
Das Risiko insbesondere für Gefäßpatienten, als Nebenwirkung einer COVID-19-Impfung ein vaskuläres Ereignis (wie eine Sinusvenenthrombose oder eine Embolie) zu erleiden, sei zwar nicht absolut auszuschließen, aber statistisch äußerst minimal: „Hier sind potenzieller Nutzen und Schaden der Impfung ins Verhältnis zu setzen. Und es ist zu berücksichtigen, dass die möglichen Folgen einer Corona-Infektion bei Gefäßpatienten im Vergleich zu Menschen ohne Gefäßerkrankung so viel gravierender sind, dass im Sinne einer Bilanzentscheidung in den allermeisten Fällen dringend zu einer Impfung zu raten ist.“
Credits:
© Felipe Caparros Cruz
Lead image: Dreamstime.com
Medscape © 2021
Diesen Artikel so zitieren: COVID-19 ist vor allem auch eine Erkrankung der Blutgefäße: Ein Experte erklärt, wie man medikamentös Langzeitschäden verhindert - Medscape - 21. Okt 2021.
Kommentar