Bald keine Statine mehr für Typ-2-Diabetiker? Wie ein deutscher Experte neue Daten zum Progressionsrisiko interpretiert

Anke Brodmerkel

Interessenkonflikte

18. Oktober 2021

Beginnen Patienten mit Typ-2-Diabetes eine Therapie mit Statinen, um ihren LDL-Wert zu senken, erhöht sich ihr Risiko, dass ihre Kohlenhydrat-Stoffwechselstörung fortschreitet, um mehr als ein Drittel. Das zeigt eine große retrospektive Kohortenstudie aus den USA, die jetzt in JAMA Internal Medicine veröffentlicht wurde [1].

Wie das Team um Prof. Dr. Ishak A. Mansi von Veterans Affairs North Texas Health System in Dallas berichtet, erhöhten Statine bei mehr als 83.000 Anwendern im Vergleich zur gleich großen Kontrollgruppe die Wahrscheinlichkeit, eine Insulinbehandlung zu beginnen, eine signifikante Hyperglykämie zu entwickeln, akute glykämische Komplikationen zu erleiden oder eine größere Anzahl oraler Antidiabetika zu benötigen.

Negative Effekte auf den Glukosestoffwechsel sind bekannt

Völlig überraschend kommen diese Ergebnisse nicht. Frühere Studien haben bereits gezeigt, dass Statine das Entstehen einer Insulinresistenz begünstigen, also Einfluss auf einen zentralen Krankheitsmechanismus des Typ-2-Diabetes haben. Auch die HbA1c-Werte nicht-diabetischer Patienten sind unter Statinen in der Regel höher als gewöhnlich.

 
Ich würde davor warnen, Statine bei Diabetikern nicht einzusetzen. Prof. Dr. Thomas Forst
 

„Dennoch würde ich davor warnen, Statine bei Diabetikern nicht einzusetzen“, sagt Prof. Dr. Thomas Forst, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Diabetes & Herz der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), im Gespräch mit Medscape. Zwar wirkten die Daten der neuen Studie sauber und realistisch; sie zeigten einmal mehr, dass Statine einen leicht negativen Effekt auf den Glukosestoffwechsel hätten. „Dennoch überwiegen meines Erachtens die Vorteile dieser Medikamente, nämlich der Schutz vor Herzinfarkt und Schlaganfall, bei weitem“, betont Forst.

„Sehr viele Diabetiker nehmen ja Statine ein, da ihre Grunderkrankung das Auftreten koronarer Ereignisse begünstigt“, erläutert der DDG-Experte. Hierzulande werde Diabetespatienten gemäß den Nationalen Versorgungsleitlinien ab einem LDL-Wert von 100 mg/dl zur Statintherapie geraten. Hatten die Patienten bereits koronare Vorereignisse, empfehlen die neuesten Leitlinien der European Society for Kardiology (ESC), mit der Behandlung schon ab Werten von 70 mg/dl zu beginnen. „Und von diesen Empfehlungen würde ich auch nach der Studie von Mansi und seinem Team keinen Millimeter abweichen“, sagt Forst.

Studie zeigt Dosis-Wirkungs-Beziehung 

Obwohl die Effekte der Statine auf den Glukosestoffwechsel größtenteils bekannt sind, waren ihre Auswirkungen auf den Verlauf und die Kontrolle des Typ-2-Diabetes bei Patienten, die bereits eine entsprechende Diagnose haben, bisher weitgehend unklar. Um die Krankheitsprogression nach Beginn der Statineinnahme zu bewerten, analysierten Mansi und Kollegen Daten einer nationalen Kohorte von Patienten, die zwischen 2003 und 2015 vom US-Department of Veterans Affairs medizinisch versorgt worden waren. Die Teilnehmer waren im Durchschnitt 60,1 Jahre alt und hatten während des Beobachtungszeitraums eine Diabetesdiagnose erhalten. 94,9% waren Männer.

Das Team um Mansi verglich 83.022 Personen, die im Studienverlauf eine Therapie mit Statinen begonnen hatten, mit einer gleich großen Anzahl von Patienten, denen erstmals H2-Rezeptorenblocker oder Protonenpumpenhemmer verordnet worden waren – also Medikamente, welche die Magensäure reduzieren. Als zusammengesetzten Endpunkt „Diabetesprogression“ definierten die Forscher folgenden Punkte:

  • Beginn der Insulin-Gabe,

  • Erhöhung der Anzahl von Glukose-senkenden Medikamentenklassen,

  • Auftreten von mindestens 5 Blutzuckermessungen mit 200 mg/dL oder mehr,

  • Diagnose von Ketoazidose oder unkontrolliertem Diabetes.

Wie die Wissenschaftler berichten, trat eine Diabetesprogression bei 55,9% der Statinanwender und bei 48,0% der Kontrollen auf. Das entspricht einer Steigerung des Risikos durch Statine um 37%. Auch jede Einzelkomponente des zusammengesetzten Endpunktes war bei den Statinnutzern signifikant erhöht.

Eine weitere Analyse der Daten zeigte zudem eine Dosis-Wirkungs-Beziehung, wobei eine stärkere Senkung des LDL-Cholesterins mit einem deutlicheren Fortschreiten des Diabetes einherging.

Nutzen-Risiko-Abwägung: Weitere Studien sind erforderlich

In der Studie habe man feststellen können, dass die Einnahme von Statinen mit einem höheren Risiko sowohl für eine Eskalation der Diabetestherapie als auch für hyperglykämische Komplikationen verbunden sei, schreiben Mansi und Kollegen. Diese metabolischen Kosten seien in den randomisierten, kontrollierten Studien zu Statinen nicht berücksichtigt worden. „Weitere Forschungsarbeiten sind erforderlich, um einen risikogerechten Ansatz für die Abwägung des kardiovaskulären Nutzens einer Statintherapie mit dem Risiko einer Diabetesprogression zu finden“, so das Fazit der Autoren.

 
Kein Diabetespatient profitiert, wenn er zwar gute Zuckerwerte hat, aber sein LDL dafür in die Höhe geht (…). Prof. Dr. Thomas Forst
 

Ganz teilt Forst diese Ansicht nicht. „Hohe LDL-Werte sind neben Bluthochdruck die Haupttreiber von Herzinfarkt und Schlaganfall“, sagt er. „Und kein Diabetespatient profitiert, wenn er zwar gute Zuckerwerte hat, aber sein LDL dafür in die Höhe geht – und er dann schlussendlich an einer kardiovaskulären Erkrankung stirbt.“

Mansi und seine Kollegen schreiben dazu: „Das mit der Einnahme von Statinen verbundene höhere Risiko einer Diabetesprogression mag zumindest kurz- und mittelfristig weniger folgenreich erscheinen als der kardiovaskuläre Vorteil der Statineinnahme, insbesondere wenn diese zur Sekundärprävention eingesetzt wird.“ Sie geben aber auch zu bedenken, ein Fortschreiten des Diabetes habe langfristige Folgen für die die Lebensqualität und den Behandlungsaufwand. Beides müsse bei Nutzen-Risiko-Abwägungen vor allem bei der Primärprävention berücksichtigt werden.
 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....