Neue Daten liefern Anhaltspunkte für einen möglichen Zusammenhang zwischen einer Querschnittlähmung und Harnblasenkrebs. Sie zeigen aber auch, dass Harnblasen-Malignome spät im Langzeitverlauf der Querschnittlähmung auftreten. Die Zeitspanne war bei völlig ohne Katheter versorgten Patienten länger als bei Patienten mit Einmalkathetern. Zu dem Ergebnis kommen Dr. Ralf Böthig von der Abteilung Neuro-Urologie der BG-Klinik Hamburg und Kollegen [1,2]. Sie fordern, Nachsorge und Ansätze zum Screening mit zunehmender Dauer der Querschnittlähmung zu intensivieren.
Lebenserwartung von Querschnittgelähmten deutlich gestiegen
Zum Hintergrund: Jährlich erkranken in Deutschland etwa 30.000 Menschen an Tumoren der Harnblase. Nach einer aktuellen Schätzung leben weltweit 25-30 Millionen Patienten mit einer Rückenmarksverletzung oder -erkrankung (SCI/D); die jährliche Inzidenz (2016) liegt den Autoren zufolge weltweit bei fast 1 Million neuer Fälle.
Aufgrund des medizinischen Fortschritts hat sich die Lebenserwartung von Menschen mit SCI/D in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert. Bei ihnen ist Krebs derzeit die dritthäufigste Todesursache, wobei Blasen-Karzinome die zweithäufigsten Malignome nach Bronchial-Karzinomen sind.
Deshalb hat die Frage nach einem möglichen kausalen Zusammenhang zwischen SCI/D und Blasenkrebs in den letzten Jahren stark an Interesse gewonnen; bislang gab es recht heterogene Daten. 2 systematische Übersichtsarbeiten haben kürzlich eine gepoolte Inzidenzrate von 0,33% bzw. 0,60% berechnet.
Mehrere Forschergruppen haben in den letzten Jahren übereinstimmend Besonderheiten festgestellt: Blasenkrebs wird bei Patienten mit SCI/D in der Regel 1 bis 2 Jahrzehnte früher diagnostiziert als in der Allgemeinbevölkerung; der Primärtumor befindet sich bei der Erstdiagnose in fortgeschrittenerem Stadium und ist damit aggressiver.
Dies gilt Studienergebnissen zufolge auch für SCI/D-Patienten ohne Dauerkatheter. Die Tumoreigenschaften gingen laut Böthig und seinen Kollegen mit einer fast 7-mal höheren Blasenkrebs-Mortalitätsrate bei SCI/D-Patienten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung einher; die Mortalitätsrate sei dabei mit der Dauer der Lähmung gestiegen.
Daten von rund 7.000 Patienten ausgewertet
Die Wissenschaftler sind den Fragen nachgegangen, wann der günstigste Zeitpunkt für ein Screening auf ein Blasen-Karzinom bei querschnittgelähmten Patienten ist und welchen Einfluss die Behandlung der Blasenlähmung oder Blasenfunktionsstörung auf das Karzinom-Risiko hat.
Dazu analysierten sie die Daten von 7.004 Patienten, die zwischen 01. Januar 1998 und 31. Dezember 2018 im Querschnittgelähmten-Zentrum des Hamburger BG-Klinikums behandelt wurden. Insgesamt umfasste die Studie 135 SCI/D-Patienten mit einem Blasenkarzinom; bei knapp 80% handelte es sich um Männer; 32% der 135 Patienten hatten eine Tetraplegie, die übrigen eine Paraplegie. Das Alter zum Zeitpunkt der Querschnittslähmung betrug durchschnittlich 24 Jahre, und die Latenzzeit bis zur Tumordiagnose im Mittel 31,5 Jahre.
Nach Angaben von Böthig und Kollegen trat ein Tumor bei SCI/D-Patienten deutlich früher auf als in der Referenzgruppe. Hier betrug das mittlere Alter bei der Diagnose etwa 75 Jahre. Die Vergleichskohorte stammt aus einer Erhebung des Robert-Koch-Instituts zur deutschen Gesamtbevölkerung. Demzufolge sind Querschnittgelähmte im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung durchschnittlich etwa 20 Jahre jünger, wenn sie an Blasenkrebs erkranken. Darüber hinaus sind die Tumore zumeist fortgeschritten; die Prognose ist entsprechend schlecht.
Neurologische, aber keine onkologische Überwachung
Böthig: „Wir sehen immer wieder, dass Querschnittverletzte, die gegenüber der Allgemeinbevölkerung viel engmaschiger (neuro-)urologisch überwacht werden, trotzdem in viel jüngerem Alter an einem Harnblasenkarzinom erkranken, der Tumor zumeist sehr aggressiv ist und die Betroffenen dann oft nach relativ kurzer Zeit an ihrer Erkrankung sterben.“
Die durchgeführte Studie liefere nun neue Erkenntnisse: „Wir konnten bestätigen, dass die Lähmungsdauer offenbar einen Einfluss auf das Tumorrisiko ausübt und erstmals herausarbeiten, dass das Risiko auch bei querschnittgelähmten Patientinnen und Patienten ohne Dauerkatheter-Versorgung nach vielen Lähmungsjahren erhöht ist“, so Böthig. „Die Art der Blasenlähmung oder die Art der Blasenentleerung spielen offenbar keine primäre Rolle.“
Die Ergebnisse zeigten aber auch, dass Bemühungen um eine Früherkennung des Harnblasenkarzinoms leider nicht auf einzelne Gruppen unter Querschnittgelähmten fokussiert werden könnten, erklärte Böthig. „Stattdessen müssen wir mit zunehmender Lähmungsdauer bei allen Patientinnen und Patienten sehr wachsam sein.“
Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Coliquio.de .
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Medscape Nachrichten © 2021
Diesen Artikel so zitieren: Querschnittlähmung als möglicher Risikofaktor für Tumoren der Harnblase – Wissenschaftler fordern mehr Screenings - Medscape - 15. Okt 2021.
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