Vom Deutschen Diabetes Kongress berichtet Prof. Dr. Stephan Martin über die Zukunft der Diabetes-Therapie und die optimale Kombination der neuen Medikamente.
Transkript des Videos von Prof. Dr. Stephan Martin, Düsseldorf
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich befinde mich in Berlin beim Diabetes-Kongress 2022, der nun nach 2 Jahren Karenz wegen der COVID-19-Einschränkungen wieder stattfinden kann, und zwar als Hybrid-Kongress. Insgesamt sind 4.000 Teilnehmer vor Ort und 2.000 am Bildschirm.
Nationale Versorgungsleitlinien in der Diskussion
Was wird hier diskutiert? Natürlich gibt es viele neue Studien, viele neue Beobachtungen. Man hört aber viel zu den neuen Nationalen Versorgungsleitlinien (NVL), dazu ist jetzt eine Teilpublikation erschienen.
Interessanterweise stimmen diese NVL mit dem, was die Amerikanische und die Europäische Diabetes-Gesellschaft in den letzten Jahren immer in den jeweiligen Leitlinien empfohlen hat, überein.
Die Patienten erhalten zunächst Metformin, dann entscheiden wir in Abhängigkeit vom Vorliegen einer koronaren Herzerkrankung (KHK).
Haben die Patienten eine KHK oder ein vaskuläres Ereignis, dann erhalten diese Patienten sofort einen GLP1-Agonisten oder einen SGLT2-Inhibitor, wenn Herzinsuffizienz oder Niereninsuffizienz im Vordergrund stehen.
Wenn wir so die individuellen Ziele nicht erreichen, dann kommt eine weitere Substanz hinzu. Das heißt, ganz im Vordergrund stehen Metformin und SGLT2-Inhibitor oder GLP1-Agonist.
Wenn Personen kein hohes kardiovaskuläres Risiko haben, kann man auch andere Medikamente einsetzen, z.B. DPP4-Inhibitoren oder Sulfonylharnstoffe. Dabei unterscheiden sich die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und die Deutsche Diabetes Gesellschaft ein bisschen. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft empfiehlt, Sulfonylharnstoffe vorsichtig einzusetzen, während andere Fachgesellschaften etwas liberaler sind.
Neues Therapieprinzip Twinkretine
Interessanterweise werden hier auch einige große Studien als Poster präsentiert, die uns in den nächsten Jahren vielleicht zusätzlich zu den NVL neue Wege in der Therapie eröffnen.
Es handelt sich um ein neues Wirkprinzip. Wir haben über die GLP1-Agonisten in den letzten Jahren viel über das Inkretin-System gehört. Inkretine sind Moleküle, die der Körper selbst produziert und die dazu führen, dass verschiedene Körperfunktionen wie Magenentleerung, Sättigungsgefühl oder auch die Glucagon-Ausscheidung maßgeblich verändert werden.
Jetzt ist vor kurzem von der amerikanischen Zulassungsbehörde (FDA) ein neuer Stoff akzeptiert worden, der in eine ähnliche Gruppe gehört, die Twinkretine. Es handelt sich um duale Rezeptoragonisten, die sowohl an GLP1- als auch an GIP-Rezeptoren binden. Die FDA hat nun mit Tirzepatid das erste Twinkretin zugelassen.
Tirzepatid wurde und wird im SURPASS-Programm klinisch geprüft. Beim Diabetes-Kongress wurden daraus verschiedene Studien vorgestellt.
In der SURPASS-1-Studie (P028) wurde Tirzepatid im Vergleich zu Placebo untersucht und man hat eine beachtliche Senkung des HbA1c-Werts um 1,7 Prozentpunkte erreicht. Die mit Tirzepatid behandelten Patienten nahmen bis zu 7,8 kg Körpergewicht ab.
Die SURPASS-2-Studie (P010) verglich Tirzepatid und Semaglutid. Semaglutid senkt bislang unter den GLP1-Agonsten das Körpergewicht am stärksten. Tirzepatid hat in der höchsten Dosierung den HbA1c-Wert im Vergleich zu Semaglutid nochmal um 0,45 Prozentpunkte verringert und das Körpergewicht um weitere ca. 5 kg gesenkt.
In der SURPASS-3-Studie (P030) wurde Tirzepatid mit dem extrem lang wirksamen Insulin degludec verglichen. Hier wurde der HbA1c-Wert nochmals um 0,6 bis 1 Prozentpunkt gesenkt und das Körpergewicht sank unter Tirzepatid um 9 bis 13 kg, während die Personen unter Insulin bis zu 2 kg zugenommen haben.
Die üblichen Nebenwirkungen sind die auch von GLP1-Agonisten bekannten Symptome wie Magen-Darm-Unverträglichkeit und Übelkeit. Hinzu kommt, dass Tirzepatid bei Personen mit C-Zell-Karzinom der Schilddrüse oder einem medullären Schilddrüsenkarzinom oder bei Personen mit entsprechender familiärer Belastung nicht eingesetzt werden soll.
Ist Tirzepatid ein Game Changer?
Zum einen sieht man, dass die Entwicklung weiter weg geht vom Insulin. Zum zweiten muss man natürlich auch bei dieser neuen Substanz die Endpunkt-Studie abwarten, deren Ergebnisse aber erst 2024 erwartet werden.
Aber es geht weiter. Wir wollen versuchen unsere Patienten wegzubekommen vom erhöhten Gewicht hin zur Gewichtsreduktion.
Diese Substanz bietet nochmals eine große Chance. Man kann vielleicht hier mit diesen dramatischen Gewichtsverlusten bis zu 13 kg erreichen, dass wir den Menschen helfen Gewicht abzunehmen und sie dann evtl. die Chance haben, das selbst hinzubekommen. Ob wir das dauerhaft geben? Das wird vermutlich sehr teuer. Wir können nicht alle Menschen nur mit Medikamenten behandeln.
Aber eine Chance wäre vielleicht eine Stoßtherapie. Das kennen wir z.B. aus dem Bereich der Cortison-Behandlung. Wir behandeln die Patienten und senken ihr Gewicht, dann haben sie einen anderen Startpunkt zur Änderung ihres Lebensstils. Wir motivieren sie, wir helfen ihnen, aber dann müssen sie auch einen eigenen Beitrag leisten.
Das ist so meine Vorstellung, wie man mit diesen neuen Substanzen vielleicht umgehen kann. Vielleicht ist diese Meinung eine Rarität. Ich glaube wir müssen immer wieder sehen, dass die Ursache der Erkrankungen der Lebensstil ist, den wir immer im Auge behalten müssen.
Ich hoffe, es war für Sie interessant.
Liebe Grüße aus Berlin
Ihr Stephan Martin
Medscape © 2022
Diesen Artikel so zitieren: „Gute Abnehmerfolge und immer weiter weg vom Insulin“: Wie die Twinkretine die Diabetes-Therapie verändern können - Medscape - 9. Jun 2022.
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