So fühlt der Mensch: Medizin-Nobelpreis 2021 geht an US-Forscher für Entdeckung von Temperatur- und Berührungsrezeptoren

Michael van den Heuvel

Interessenkonflikte

4. Oktober 2021

Der diesjährige Nobelpreis für Medizin geht an David Julius und Ardem Patapoutian für ihre Entdeckung von Rezeptoren für Temperatur und Berührung im Körper. „Die bahnbrechenden Entdeckungen durch die diesjährigen Nobelpreisträger haben es uns ermöglicht zu verstehen, wie Wärme, Kälte und mechanische Kräfte die Nervenimpulse auslösen, die es uns ermöglichen, die Welt um uns herum wahrzunehmen und uns an sie anzupassen“, so Patrik Ernfors vom Nobelkomitee in seiner Laudatio. Das Wissen werde genutzt, um Therapien für mehrere Krankheiten zu entwickeln, darunter chronische Schmerzen [1].

Julius nutzte Capsaicin, eine scharfe Verbindung aus Chilischoten, die ein brennendes Gefühl hervorruft, um einen Sensor in den Nervenenden der Haut zu identifizieren, der auf Hitze reagiert. Und Patapoutian verwendete druckempfindliche Zellen, um eine neue Klasse von Sensoren zu entdecken, die auf mechanische Reize in der Haut und in inneren Organen reagieren.

Beide Forscher kommen aus den USA. Julius forscht an der University of California, San Francisco, und Patapoutian am Scripps Research in La Jolla, Kalifornien.

Mit Capsaicin auf der Spur von Temperatursensoren

In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre sah Julius die Möglichkeit für große Fortschritte – der damals noch recht jungen Molekularbiologie sei Dank. Er arbeitete mit Capsaicin, einer chemischen Verbindung aus Chilischoten, die auf der Haut brennende Gefühle auslöst. Es war bereits bekannt, dass Capsaicin Nervenzellen aktiviert, die Schmerzempfindungen auslösen. Aber welche Mechanismen dem Vorgang zugrunde liegen, wussten Forscher nicht.

Julius und seine Mitarbeiter erstellten eine Bibliothek mit Millionen von DNA-Fragmenten. Ihre Sammlung enthielt alle Gene, die in sensorischen Neuronen exprimiert werden. Das Team formulierte als Hypothese, dass darin ein DNA-Fragment sein muss, dessen zugehöriges Protein auf Capsaicin reagiert.

Danach exprimierten die Forscher einzelne Gene aus ihrer Sammlung in Zellkulturen. Nach mühsamer Suche fanden sie tatsächlich ein Gen, das Zellen für Capsaicin empfindlich macht. Weitere Experimente zeigten, dass dieses Gen für ein neuartiges Ionenkanalprotein codiert. Der Capsaicin-Rezeptor wurde später TRPV1 (Transient Receptor Potential Vanilloid 1) genannt.

Als Julius die Fähigkeit des Proteins untersuchte, auf Wärme zu reagieren, erkannte er, dass er einen Wärmerezeptor entdeckt hatte, der bei Temperaturen aktiviert wird, die wir als schmerzhaft empfinden.

„Die Entdeckung von TRPV1 war ein entscheidender Durchbruch, der den Weg zur Entschlüsselung weiterer temperatursensitiver Rezeptoren ebnete“, betont Ernfors in der Laudatio. Unabhängig voneinander verwendeten Julius und Patapoutian die chemische Substanz Menthol, um TRPM8 zu identifizieren, einen Rezeptor, der nachweislich durch Kälte aktiviert wird. TRPM8 steht für Transient receptor potential cation channel subfamily M member 8.

Bald darauf fanden Wissenschaftler weitere Ionenkanäle, die mit TRPV1 und TRPM8 verwandt sind. Dabei zeigte sich, dass Kanäle durch unterschiedliche Temperaturen aktiviert werden. Viele Labors führten Forschungsprogramme durch, um die Rolle dieser Kanäle bei der Wärmeempfindung zu untersuchen, indem sie transgene Mäuse verwendeten, denen diese neu entdeckten Gene fehlten. „Julius' Entdeckung von TRPV1 war der Durchbruch, der es uns ermöglichte zu verstehen, wie Temperaturunterschiede elektrische Signale im Nervensystem auslösen können“, unterstreicht Ernfors.

Forschung unter Druck

Offen blieb jedoch, wie die Haut Druck wahrnimmt. Patapoutian und seine Mitarbeiter identifizierten zunächst eine Zelllinie, die ein messbares elektrisches Signal abgab, wenn einzelne Zellen mit einer Mikropipette angestochen wurden. Die Forscher nahmen an, dass ein spezieller Ionenkanal dafür verantwortlich ist.

Im nächsten Schritt konnte das Team 72 Kandidatengene identifizieren, die für einen möglichen Rezeptor codieren. Diese Gene wurden nacheinander inaktiviert, um das für die Mechanosensitivität verantwortliche Gen zu finden. Nach einer langwierigen Suche gelang es Patapoutians Team, ein einziges Gen zu finden, dessen Ausschaltung Zellen unempfindlich gegenüber Stößen mit der Mikropipette machte. Ein neuer und völlig unbekannter mechanosensitiver Ionenkanal war entdeckt worden und erhielt den Namen Piezo1, nach dem griechischen Wort für Druck.

Aufgrund seiner Ähnlichkeit mit Piezo1 wurde ein zweites Gen entdeckt und Piezo2 genannt. Sensorische Neuronen exprimieren Piezo2 in hohem Maße. Weitere Studien belegten, dass Piezo1 und Piezo2 Ionenkanäle sind, die direkt durch Druck auf die Zellmembranen aktiviert werden.

Die Vorarbeiten Patapoutians führten weltweit zu einer Reihe weiterer Veröffentlichungen. Dabei zeigte sich, dass Piezo2 nicht nur für den Tastsinn verantwortlich ist. Dieser Ionenkanal spielt auch eine Schlüsselrolle bei der Wahrnehmung von Körperposition und Bewegung, der so genannten Propriozeption. Bald darauf wurde klar, dass Piezo1- und Piezo2-Kanäle weitere wichtige physiologische Prozesse regulieren, darunter den Blutdruck, die Atmung und die Kontrolle der Harnblase. 

Von der Grundlagenforschung in die Anwendung

„Die bahnbrechenden Entdeckungen der TRPV1-, TRPM8- und Piezokanäle durch die diesjährigen Nobelpreisträger haben es uns ermöglicht, zu verstehen, wie Wärme, Kälte und mechanische Kräfte Nervenimpulse auslösen können, die es uns ermöglichen, die Welt um uns herum wahrzunehmen und uns an sie anzupassen“, schreibt das Nobelkomitee in einer Mitteilung. Das Wissen werde genutzt, um Behandlungen für eine Vielzahl von Krankheiten, einschließlich chronischer Schmerzen, zu entwickeln.

Capsaicin in topischen Präparaten beispielsweise macht die Haut und die Schleimhäute gegen Schmerzen unempfindlicher. Chronische Schmerzen neuropathischer und muskulärer Ursache verringern sich durch das Molekül ebenfalls.

 

Kommentar

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