Die geschätzte glomeruläre Filtrationsrate (eGFR) ist Bestandteil der Diagnose einer chronischen Nierenerkrankung (CKD). Die eGFR nimmt allerdings physiologisch mit zunehmendem Alter ab. Eine kanadische Kohortenstudie zeigt jetzt, dass deshalb bis zu einem Drittel aller Patienten über 65 Jahren zu Unrecht als nierenerkrankt gelten könnten [1].
„Das ist keine Überraschung“, stimmt Prof. Dr. Jan Galle, Direktor der Klinik für Nephrologie und Dialyseverfahren in Lüdenscheid zu. „Die eGFR nimmt physiologischerweise definitiv ab etwa 50 Lebensjahren um circa 0,5 ml/Min pro Jahr Alter ab. Aber weitaus größer kann dieser Effekt durch begleitende Erkrankungen wie Bluthochdruck und vor allem Diabetes mellitus sein.“
Die kanadische Kohortenstudie verglich die Häufigkeit eines Nierenversagens bei Patienten, die längstens 5 Jahre zuvor als nierenerkrankt (CKD) oder nicht nierenerkrankt (non-CKD = über 65 Jahre und eGFR über 60 ml/Min/1,732) eingeteilt wurden.
Die über 200.000 Patienten mit CKD wurden dabei in 2 Gruppen eingeteilt: Einmal erfolgte die Einteilung aufgrund eines festen eGFR-Schwellenwertes von 60 ml/Min/1,732, zum anderen aufgrund eines altersangepassten eGFR-Schwellenwertes (unter 40 Jahren bei 75 ml/Min/1,732; zwischen 40 und 64 Jahren bei 60 ml/Min/1,732 und über 65 Jahre bei 45 ml/Min/1,732).
Betrachtete man alle Patienten über 65 Jahren gemeinsam, hatten 75% von diesen eine eGFR zwischen 45 und 59 ml/Min/1,732 bei normaler Albuminurie. Diese Patienten wurden in der Gruppe mit festem eGFR-Schwellenwert als Patienten mit CKD definiert, in der Gruppe mit altersangepassten eGFR-Schwellenwerten dagegen als Patienten ohne CKD.
Das Risiko für Nierenversagen steigt nicht unter einer eGFR von 60 ml
Das Risiko für ein Nierenversagen, definiert als eGFR von mehr als 3 Monaten unter 15 ml/Min/1,732 oder eine Nierentransplantation, lag bei allen diesen älteren Patienten nur um 0,12% höher als in der non-CKD-Kontrollgruppe. Das Mortalitätsrisiko war ebenfalls in beiden Gruppen nicht erhöht und stieg mit ansteigendem Alter parallel.
„Die Anfänge dieser Studie datieren zurück auf das Jahr 2009, wahrscheinlich um diese große Datenmenge zu generieren“, analysiert Galle. „Nach heutigem Stand ist die eGFR nicht der allein bestimmende Faktor, sondern die Rate der Albuminurie zählt ebenso viel zur Diagnose der Intensität einer Nierenerkrankung. In dieser Studie hat die überwiegende Mehrheit der analysierten Patienten allerdings eine milde Albuminurie.“
Statistisch valide Aussagen durch hohe Patientenzahlen
Die kanadischen Forscher um Dr. Ping Liu, University of Calgary, veröffentlichten ihre Studie aktuell in JAMA Internal Medicine. Sie griffen auf die Daten von fast 250.000 Menschen zurück, deren eGFR in den Jahren 2009 bis 2017 dokumentiert worden waren. Davon dienten über 90.000 Fälle als Kontrolle (non-CKD), die über 65 Jahre alt waren und über mindestens 3 Monate eine eGFR von über 60 ml/Min/1,732 aufgewiesen hatten. In die Basisdaten flossen Alter, Geschlecht, Albuminurie-, Diabetes- und kardiovaskulärer Status mit ein und wurden zur Bereinigung der statistischen Berechnungen genutzt.
Bezogen auf die Gesamtheit der betrachteten Patienten errechneten die Autoren, dass in der Gruppe mit altersangepasstem eGFR-Schwellenwert über ein Drittel weniger Untersuchte als CKD-Patienten eingestuft wurden als in der Gruppe mit dem festen eGFR-Schwellenwert von 60 ml/Min/1,732 (von 127.132 auf 81.209 betrachtete Patienten). Diese Personen wurden im weiteren Behandlungsverlauf als Patienten mit geringerem Nierenerkrankungspotenzial eingestuft, ohne dass sich dadurch ihr Gesundheitsrisiko erhöhte. Auf der anderen Seite wurden bei diesen Personen aber viele therapeutische Konsequenzen eingespart, die eine Einstufung als Patienten mit Niereninsuffizienz nach sich gezogen hätte.
Cave Medikamentenüberdosierung bei niedrigerer eGFR
„Aus meiner Sicht ist es in diesem Zusammenhang wichtig, dass mit sinkender eGFR die Elimination bestimmter Substanzen abnimmt“, gibt Galle zu bedenken. „In der Folge werden viele über die Nieren ausgeschiedene Medikamente bei den Betroffenen zu hoch dosiert.“
In einem parallel veröffentlichten Editorial äußern sich Prof. Dr. Ann M. O`Hare, University of Washington, Seattle, und ihre Kollegen kritisch zur Geschichte der US-Leitlinien zum Thema Nierenerkrankung [2]. Bereits in 2012 sei eine Studie in den USA erschienen, die die altersbedingte Abnahme der eGFR untersuchte und zu ähnlichen Ergebnisse kam wie Liu und Kollegen, ohne dass die Leitlinien daraufhin geändert worden wären. Sie plädieren deshalb für eine baldige Berücksichtigung der Ergebnisse der vorliegenden Kohortenstudie in die aktuellen US-Leitlinien.
„In Deutschland empfehlen die aktuellen S3-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin DEGAM und Deutschen Gesellschaft für Nephrologie DGfN, die eGFR-Rate, die Albuminurie, die vaskulären und die metabolischen Begleiterkrankungen zur Einteilung des individuellen Nierenstatus einzubeziehen“, erläutert Galle. „Insofern ergeben sich hierzulande durch die Ergebnisse dieser Studie keine neuen Handlungsempfehlungen.“
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Medscape Nachrichten © 2021
Diesen Artikel so zitieren: Doch nicht chronisch nierenkrank? eGFR nimmt mit den Jahren ab – sollte man die Schwellenwerte dem Alter anpassen? - Medscape - 1. Okt 2021.
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