Luftverschmutzung gilt neben dem Klimawandel als eine der größten umweltbezogenen Bedrohungen für die menschliche Gesundheit. Darauf hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) jetzt mit einer Aktualisierung bestehender Leitlinien zur Luftqualität reagiert. Grundlage sind neue Erkenntnisse aus 6 systematischen Übersichtsarbeiten mit mehr als 500 Publikationen [1,2,3].
Wissenschaftler empfehlen eine teils deutliche Absenkung, bei Stickstoffdioxid (NO2) etwa von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft – wie in der EU derzeit vorgeschrieben – auf 10 Mikrogramm. Bei Feinstaub (PM2.5) wurde der Grenzwert von 10 auf 5 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft herabgesetzt; EU-weit gelten 25 Mikrogramm. Und bei PM10 rät die WHO zu 15 statt bisher 20 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Hier liegt der EU-Grenzwert bei 40 Mikrogramm.
Evidenzbasierte Empfehlungen – keine bindenden Vorgaben
„Die neuen Luftgüteleitlinien der WHO sind ein evidenzbasiertes und praktisches Instrument zur Verbesserung der Qualität der Luft, von der alles Leben abhängt“, sagte WHO-Generaldirektor Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus bei einer Pressekonferenz. „Ich fordere sämtliche Länder und alle, die sich für den Schutz unserer Umwelt engagieren, nachdrücklich auf, davon Gebrauch zu machen, um das Leid zu verringern und Leben zu retten.“
In ihrer Pressemeldung merkt die WHO an, die Empfehlungen seien nicht rechtlich verbindlich, würden politischen Entscheidungsträgern jedoch ein evidenzgeleitetes Instrument an die Hand geben, um Rechtsvorschriften und Handlungskonzepte zu erstellen. Allerdings hat das Europäische Parlaments bereits im März 2021 gefordert, EU-Luftqualitätsnormen anhand von WHO-Vorgaben zu aktualisieren, sobald neue Leitlinien veröffentlicht würden.
Wissenschaftler begrüßen strengere Grenzwerte
„Die neuen WHO-Leitlinien sind eine wichtige Entwicklung und ein großer Schritt nach vorne, da sie Richtwerte vorgeben, die durch viele neue und große Studien belegt sind“, erklärt Prof. Dr. Annette Peters, Epidemiologin am Helmholtz Zentrum München. Mit den Werten sei es möglich, die Gesundheit wirkungsvoll zu schützen. „Sehr gut ist es aus meiner Sicht, dass sowohl Richtwerte für Jahresmittelwerte als auch Werte für kurzzeitige Belastungen empfohlen werden.“
Peters weiter: „Die neuen Leitlinien geben sehr ambitionierte Ziele vor und zeigen auf, welche Schritte zur Absenkung von Grenzwerten sinnvoll sein könnten, indem Zwischenziele definiert werden.“ Handlungsbedarf sieht die Forscherin speziell bei Feinstaub (PM2.5). „Bei diesem sind die Grenzwerte, die in der Europäischen Union gelten, viel zu hoch und schützen die Gesundheit nicht“, sagt Peters. Das würden Wissenschaftler seit Jahren betonen.
Hohe Krankheitslast durch Luftschadstoffe
Für die WHO jedenfalls bestand großer Handlungsbedarf, Grenzwerte zu verschärfen. „Trotz einiger Verbesserungen der Luftqualität in den vergangenen 3 Jahrzehnten sterben jedoch nach wie vor Millionen von Menschen vorzeitig, und häufig sind die schutzbedürftigsten und marginalisierten Bevölkerungsgruppen betroffen“, sagte der WHO-Regionaldirektor für Europa, Dr. Hans Henri P. Kluge. Laut WHO gebe es pro Jahr etwa 7 Millionen vorzeitige Todesfälle weltweit durch Schadstoffe in der Luft. „Wir kennen das Ausmaß des Problems und wissen, wie wir es beseitigen können“, so Kluge weiter.
Speziell bei Kindern können Giftstoffe das Lungenwachstum und die Lungenfunktion beeinträchtigen. Es gibt auch Hinweise auf mehr Atemwegserkrankungen wie Asthma. Die Folgen für Erwachsene unterscheiden sich davon grundlegend. WHO-Experten berichten von mehr Patienten mit der ischämischen Herzkrankheit oder mit Schlaganfall. Hinweise auf Diabetes und neurodegenerative Erkrankungen als Folgen der Luftverschmutzung häufen sich ebenfalls. Alles in allem bewertet die WHO die Krankheitslast durch Luftverschmutzung ähnlich wie Folgen des Rauchens oder Effekte ungesunder Ernährung.
Empfehlungen zu den 6 wichtigsten Schadstoffen
Deshalb haben Experten 6 Schadstoffe, bei denen der es in letzter Zeit zahlreiche neue Erkenntnisse gegeben hat, bewertet: Feinstaub (PM), Ozon (O₃), Stickstoffdioxid (NO₂), Schwefeldioxid (SO₂) und Kohlenmonoxid (CO). Alle Änderungen im Überblick:

Tabelle: WHO
In ihrer Pressekonferenz weist die WHO vor allem auf Gefahren durch die Partikelfraktionen PM₁₀, PM₂,₅ oder noch kleinerer Teilchen hin. Diese können bis tief in die Lunge vordringen, und PM₂,₅ sei sogar im Blutkreislauf nachgewiesen worden. Seit 2013 stuft das Internationalen Krebsforschungszentrum der WHO (IARC) verschmutzte Außenluft und Feinstaub auch als krebserregend ein. Personen mit Vorerkrankungen, ältere Menschen, Kinder und Schwangere gelten als vulnerable Gruppen.
Bei bestimmten Arten von Feinstaub wie elementarem Kohlenstoff, Ultrafeinstaub oder Partikeln aus Sand- und Staubstürmen gebe es noch zu wenig Evidenz, um Luftqualitätswerte festzulegen, heißt es weiter.
Prof. Dr. Barbara Hoffmann, Leiterin der Arbeitsgruppe Umweltepidemiologie, Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, sagt: „Es ist richtig, dass in der Luft meistens mehrere Schadstoffe vorkommen und gleichzeitig auf den Körper wirken. Auch wenn hier noch nicht alle Fragen geklärt sind, ist mit sehr großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sich die Wirkungen addieren und vielleicht sogar gegenseitig verstärken.“
Als Fazit zieht die Ärztin: „Ich sehe die große Bedeutung dieser neuen WHO-Leitlinien vor allem darin, dass sie zeigen, dass es keine ‚ungefährliche‘ Luftverschmutzung gibt – auch ein bisschen Luftverschmutzung ist schlecht für den Körper, wenn sie jeden Tag, Jahr für Jahr eingeatmet wird.“ Daraus leite sich ab, dass die Luftverschmutzung überall verringert werden muss – auch dort, wo sie schon relativ niedrig ist. Und weiter: „Das lohne sich auch finanziell, denn die Krankheitskosten, die durch Luftverschmutzung entstehen, sind höher als die Kosten für Luftreinhaltung.“
Regionale Unterschiede
„Luftverschmutzung stellt in allen Ländern eine Bedrohung für die Gesundheit dar, trifft allerdings am stärksten die Menschen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen“, betonte Ghebreyesus bei der Pressekonferenz. Vor allem in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen nimmt die Luftverschmutzung durch starke Urbanisierung und durch die weitgehende Nutzung fossiler Brennstoffe stark zu.
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Diesen Artikel so zitieren: 7 Millionen Tote durch schlechte Luft: Jetzt hat WHO Richtwerte für Luftschadstoffe verschärft – die EU gerät in Zugzwang - Medscape - 23. Sep 2021.
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