„Meine Miete hat Fieber“: In der Poliklinik Veddel werden Patienten ganzheitlicher verarztet, weil Gesundheit auch politisch ist

Christian Beneker

Interessenkonflikte

22. September 2021

Für den Hausarzt Philipp Dickel ist Raucherhusten auch eine politische Angelegenheit. Dickel arbeitet mit seiner Praxis als Teil der Poliklinik im Hamburger Stadtteil Veddel. „Wir gemeinsam verstehen uns als Stadtteil-Gesundheitszentrum, dessen Versorgung von der Gesundheitsförderung im ganzen Quartier ausgeht und damit eben nicht nur Primärversorgung umfasst“, erklärt Dickel gegenüber Medscape.

Deshalb hat COPD oder Asthma nicht nur mit dem persönlichen Verhalten der Patienten zu tun, sondern auch zum Beispiel mit viel zu kleinen Wohnungen, dem Schimmel in den Ecken und mit den Emissionen der umliegenden Industrie.

Um zum Beispiel die Wohnsituation zu verbessern, sitzen die Leute von der Poliklinik auch im Stadtteilberat. Denn das ist die Grundeinsicht der Poliklinik Veddel: Alles hängt mit allem zusammen – Sprachkenntnisse mit sozialer Gesundheit, Lungenerkrankungen mit Luftverschmutzung und ein fehlender Aufenthaltstitel mit Depressionen. Kurz: Es gehe nicht nur um Verhaltensprävention, sagt Milli Schröder von der Poliklinik Veddel gegenüber Medscape, „sondern um Verhältnisprävention“.

Deshalb kooperieren im Rahmen der Poliklinik eine ganze Reihe weiterer Dienste, wie eine Gesundheits- und Sozialberatung, eine psychologische Beratung, die Gemeinwesenarbeit oder die Community Health Nurse.

Formell besteht die Poliklinik aus einer Hausarztpraxis, einer Hebammenpraxis und einem Verein als Dach für die kooperierenden Dienste, der „Gruppe für Stadtteilgesundheit und Verhältnisprävention e.V.“.

„Meine Miete hat Fieber“

Politische und soziale Faktoren wie Mietsteigerungen, geringes Einkommen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Rassismus oder Altersarmut beeinflussen die Gesundheit nachweislich stärker als die Qualität der medizinischen Versorgung allein, heißt es auf der Homepage der Poliklinik.

„Wir setzen an beiden Bereichen an. Indem wir Menschen dabei unterstützen, kollektive Lösungsstrategien für gemeinsame Problemlagen zu entwickeln. Indem wir uns aktiv an aktuellen politischen Auseinandersetzungen beteiligen. Und indem wir unsere Versorgungspraxis an den Bedürfnissen der Besucher*innen orientieren und mit ihnen gemeinsam weiterentwickeln.“

„Die Veddel“ dürfte so einen Ansatz dringend nötig haben. Denn sie ist aktuell der ärmste Stadtteil Hamburgs. Wer von Süden aus auf der Autobahn über die Elbbrücken Richtung der noblen Hafencity und der noch nobleren Binnenalter braust, übersieht die Fassaden des Viertels leicht. Rund 4.500 Menschen leben hier. 74% von ihnen haben einen Migrationshintergrund, vermeldet das statistische Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein für das Jahr 2019. Mehr als 28% der Migranten stammen aus türkischen Familien.

So ist in der Poliklinik vieles denn auch multilingual, auch das „Stadtteil-Gesundheitszentrum“: „Qendra Shendetesore per Fqinjet“ – „Mahalle Saglik Merkezi“ – „Community Health Center“. Natürlich arbeiten die Beratungen, die Ärzte und Hebammen mit Sprachmittlern, so Dickel.

Anderer Blick auf die Patienten

Einmal im Monat treffen sich die multiprofessionellen Versorger zu Fallbesprechungen. „Wir wollen wissen, was die Menschen wirklich brauchen“, sagt der Hausarzt. Dieser Ansatz ist der größte Unterschied zur herkömmlichen medizinischen Versorgung, „der andere Blick auf die Patienten.“

 
Wir wollen wissen, was die Menschen wirklich brauchen. Philipp Dickel
 

So weiß man in der Poliklinik, dass die psychischen Probleme vieler Bewohner auch am fehlenden Aufenthaltstitel liegen können. „Diesen Stress kann ich als Hausarzt nicht einfach mit einer Überweisung lösen“, sagt Dickel. Hier greift zum Beispiel die psychologische Beratung, die zunächst eruiert, was der Patient braucht, „um dann zusammen mit ihm gegebenenfalls einen Therapieplatz sucht“, sagt Dickel. Die Gemeindeschwester hilft beim Beantragen eines neuen Pflegegrades, und die Gemeinwesenarbeit hat geholfen, hier ein Impfzentrum aufzubauen.

„Meine Miete hat Fieber“, „Meine Wohnung hat Luftnot“, „Mein Konto hat Durchfall“, plakatieren die Initiatoren ihr Verständnis von Krankheit kurz und knapp.

 
Es ist wissenschaftlich längst klar, dass solidarische Gemeinschaften gesünder sind. Und das beziehen wir in unseren Ansatz mit ein. Philipp Dickel
 

„Es ist wissenschaftlich längst klar, dass solidarische Gemeinschaften gesünder sind“, sagt Dickel. „Und das beziehen wir in unseren Ansatz mit ein.“ Vertreter des insgesamt 30-köpfigen Teams der Poliklinik sitzen im Stadtteilbeirat, machen Veranstaltungen zur Luftverschmutzung, informieren auf Stadtfesten, gehen in die Schulen, wo sie „Gesundheit und Krankheit“ zusammen mit den Schulen als Wahlpflichtkurs etabliert haben.

Poliklinik als Modell der Zukunft für den ambulanten Sektor?

Der Ansatz wirkt offenbar. Eine Patientin, die schon lange in der Veddel wohnte, sollte ihre Wohnung verlassen, weil die Hamburger Wohnungsbaugesellschaft „Saga“ den Wohnblock abreißen wollte. Die alte Dame verfiel darüber in Depressionen. Da setzte sich auch die Poliklinik dafür ein, dass der Block nicht abgerissen, sondern saniert werde, und so geschah es. „Auch dadurch ist die Frau aus ihren Depressionen herausgekommen“, sagt Dickel. „denn sie konnte dort wohnen bleiben und ihr soziales Netzwerk ausbauen und erhalten.“

 
Wenn wir wollen, dass es gesundheitliche Chancengleichheit gibt, dann müssen wir die Lebensumstände verbessern. Milli Schröder
 

Natürlich kostet das Ganze Geld. Die Finanzierung des Projekts gleicht einem Flickenteppich, erklärt Schröder – einem Teppich, der fast in jedem Jahr neu geknüpft werden muss. Die Hebammenpraxis und die Hausarztpraxis tragen sich selbst. Für alle anderen Aktivitäten erhielt der Verein im Jahr 2020 fast 202.000 Euro an Zuwendungen und Sachmittelförderungen: von verschiedenen Behörden der Stadt Hamburg, von der Techniker Krankenkasse, von der Robert-Bosch-Stiftung. „All das müssen wir regelmäßig neu beantragen“, sagt Schröder. Deshalb setzt man bei der Poliklinik jetzt auf Fördermitglieder, um regelmäßige und berechenbare Einnahmen zu haben.

Die Poliklinik sei für den ambulanten Sektor das Modell der Zukunft, meinen Schröder und Dickel. Die Einzelpraxen seien überkommen, es fänden sich zu wenige Nachfolger. Aber die ärztliche oder pflegerische Versorgung seien eben nicht alles, so Schröder: „Wenn wir davon ausgehen müssen, dass die Lebensumstände einen gravierenden Einfluss auf unsere Gesundheit haben, und wenn wir wollen, dass es gesundheitliche Chancengleichheit gibt, dann müssen wir die Lebensumstände verbessern.“
 

Kommentar

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