Suizid bei Kindern analysiert: Auf diese Risikofaktoren und Präventionsmaßnahmen sollten Sie im Praxisalltag achten

Dr. Angela Speth

Interessenkonflikte

21. September 2021

Kinder, die so verzweifelt sind, dass sie keinen anderen Ausweg wissen, als sich das Leben zu nehmen – das ist bestürzende Realität. Was sie derart zum Äußersten treibt, haben US-Forscher anhand von Berichten zu gewaltsamen Todesfällen analysiert [1]. Warnzeichen und Risikofaktoren sind demnach: psychische Störungen, bereits bestehende Suizidalität, Traumata und gravierende Probleme in Familie und Schule. Auslöser ist dann meist ein verstörendes Ereignis am Tag des Suizids selbst. Aus diesen Erkenntnissen leiten die Autoren Vorschläge zur Prävention ab.

„Die Behandlung von Kindern und Jugendlichen, die einen Suizidversuch hinter sich haben oder solche Absichten äußern, gehört zu unseren täglichen Aufgaben“, berichtet Prof. Dr. Renate Schepker, DGKJP-Vorstandsmitglied, im Gespräch mit Medscape. „Ich kann nur unterstreichen, was die US-Forscher herausgefunden haben“, so die Regionaldirektorin am Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg/Ravensburg.

Kindersuizide selten, aber zunehmend

Wahrscheinlich könne man erst ab einem Alter von etwa 7 Jahren von „Suizid“ sprechen, denn erst dann bilde sich die Gewissheit von der Endgültigkeit des Todes heraus, konstatiert die Leitlinie „Suizidalität im Kindes- und Jugendalter“ der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP). Kleinere Kinder halten den Tod für vorübergehend wie einen Schlaf oder eine Reise. Stirbt ein geliebter Mensch, fühlen sie sich im Stich gelassen.

Wenn die Häufigkeit von Kinder-Suiziden auch gering ist, so scheine sie doch zuzunehmen, sagt Schepker mit Verweis auf die Tabellen des Statistisches Bundesamtes: Demnach machten Suizide bei 10- bis 15-Jährigen im Jahr 2015 knapp 6% der Todesursachen in dieser Altersgruppe aus. Im Jahr 2019 waren es 7%, 11 Mädchen und 11 Jungen. Ähnlich in den USA: Im MSD Manual listet Prof. Dr. Josephine Elia von der Universität in Wilmington den Suizid als 8-häufigste Todesursache bei 5- bis 11-Jährigen auf und beziffert eine zunehmende Tendenz. „Zu einem sehr deutlichen Anstieg kommt es dann hier wie dort ab der Pubertät“, fügt Schepker hinzu.

Wer sein Kind schlägt, wird das kaum zugeben

„Die Studie ist methodisch gut gemacht, allerdings mit Einschränkungen“, sagt Schepker. „So ist unklar, ob die NVDRS-Berichte nach festen Vorgaben oder eigenem Gutdünken verfasst wurden.“

Verzerrungen ergäben sich wohl auch durch das breite Spektrum der Berufssparten und die regionale Spannweite von Alaska bis Hawaii. Weiterhin seien Unterschätzungen naheliegend: Eltern, die ihre Kinder schlagen oder missbrauchen, werden das eher verschweigen. Ebenfalls unterschätzt werden könne die Häufigkeit der Suizide: Gerade bei Kindern würde man sie leicht als Unfall fehldeuten.

Tatort Kinderzimmer, in Reichweite von Angehörigen

Die Autoren – Experten in Epidemiologie, Gesundheitswesen und klinischer Sozialarbeit – kommen zum Schluss: Die Kinder waren bei ihrem Tod im Mittel knapp 11 Jahre alt, zu 3 Viertel Jungen, zu 60% Weiße. „Traditionell sind die Suizidraten bei weißen Jugendlichen höher als bei schwarzen“, merken die Wissenschaftler an. Tatort war fast immer das Kinderzimmer und fast immer hielt sich zur Tatzeit ein Erwachsener in der Wohnung auf.

Das interdisziplinäre Team ermittelte entscheidende Kriterien, die sich ansammeln und meist überschneiden:

  • Psychische Probleme

  • Vorangehende Suizidalität

  • Trauma

  • Schwerwiegende Probleme in Familie und Schule

  • leicht zugängliche Schusswaffen

Wichtig: „Survivor“ gegen die nächste Krise wappnen

Ein Drittel der Kinder hatte den NVDRS-Akten zufolge an einer psychischen Störung gelitten. Andere Studien jedoch ermittelten eine Rate von mehr als 90%, berichten die Forscher und raten besonders bei ADHS und Depressionen – den häufigsten Diagnosen – zu einer Abklärung des Suizidrisikos. „ADHS ist eine Gefahr, weil die Kinder ihre Impulse schwer in den Griff bekommen“, erläutert Schepker, „ebenso Psychosen, die in diesem Alter zwar selten sind, aber oft von großen Ängsten begleitet.“ Elia zählt als Alarmsignale weiterhin auf: Verzagtheit, Selbstzweifel, Konzentrations-, Schlaf- und Appetitstörungen, Schuleschwänzen, unerklärliche Schmerzen.

 
Zu einem sehr deutlichen Anstieg (an Suiziden) kommt es … ab der Pubertät. Prof. Dr. Renate Schepker
 

Gut 3 Viertel der psychisch kranken Kinder befanden sich bis zu ihrem Tod in Behandlung. „Das heißt ja, dass ein Viertel der Kinder keine Therapie erhielt – zweifellos ein Versäumnis“, kritisiert Schepker. Zumal es nach einem Suizidversuch für sie nur eine Alternative gibt: „Nach der Akutversorgung in einer pädiatrischen oder internistischen Klinik müssen die Kinder unbedingt in die Kinderpsychiatrie aufgenommen werden. Dort vereinbaren wir unter anderem einen Notfallplan, das heißt, wo sie sich bei einer erneuten Krise Hilfe holen können.“

 
ADHS ist eine Gefahr, weil die Kinder ihre Impulse schwer in den Griff bekommen, ebenso Psychosen, die in diesem Alter zwar selten sind, aber oft von großen Ängsten begleitet. Prof. Dr. Renate Schepker
 

Der aktuell publizierte Bericht „Suizidprävention Deutschland – Aktueller Stand und Perspektiven“ nennt außerdem die „Nummer gegen Kummer“ des Kinder- und Jugendtelefons oder die Beratung durch Schulpsychologen.

Suizide werden häufig angekündigt

12% der Kinder hatten bereits einen Suizid versucht, ein Viertel hatte davon gesprochen, nicht mehr leben zu wollen. Besonders drastisch verdeutlicht das ein Protokoll-Eintrag: „Das Opfer hatte seit dem 5. Lebensjahr Suizidgedanken.“ In einem anderen Fall erhielten die Eltern einen Anruf aus der Schule, das Kind drohe, sich das Leben zu nehmen. Ein weiteres Kind hatte seine Vernichtungsphantasien zunächst gegen seine Mutter gewendet, indem es ihr erklärte, sie wäre besser tot und solle sich daher umbringen.

Häufig wissen Gleichaltrige Bescheid, so ein Freund, der den Beamten erzählte, der verstorbene Junge habe zu einem Mädchen gesagt, er wolle sich töten, sie aber habe ihn nicht ernst genommen, weil er das schon wiederholt angekündigt hatte.

Einige Kinder hatten zuvor einen Suizid mehr oder weniger direkt miterlebt. Eines war beim Suizidversuch seiner Großmutter dabei, während ein anderes Kind einen Mitschüler durch Selbsttötung verloren hatte. Die Kinder- und Jugendpsychiaterin Elia erinnert daran, den Nachahmungseffekt im Blick zu haben, etwa bei Suiziden an Schulen oder von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens.

 

Ruch und Kollegen betonen jedoch: „Angehörige und Ärzte sollten sich durch die Studie nicht übermäßig beunruhigen lassen, da die berichteten Umstände auch auf Kinder zutreffen, die nie suizidal werden.“

Schepker bestätigt: „Das Thema erfordert Fingerspitzengefühl, sowohl bei der Berichterstattung in den Medien, als auch für Jugendromane wie ‚Tote Mädchen lügen nicht‘.“ Dieses in einer umstrittenen Netflix-Serie verfilmte Buch, in dem die Protagonistin ihren Mitschülern auf hinterlassenen Audiokassetten die (Mit-)Schuld an ihren Suizid gibt, illustriert ein Motiv, das nach Angaben von Elia nicht selten hineinspielt: andere zu bestrafen nach dem Motto: Das wirst du bereuen, wenn ich tot bin.

Digitale Geräte – ein Dreh- und Angelpunkt

Digitale Techniken spielen der US-Studie zufolge eine wichtige Rolle: Entweder boten sie den Kindern einen Weg, Suizidgedanken und Todeswünsche mitzuteilen oder damit in Berührung zu kommen. So hatte eine Mutter ihr Kind bei Selbstmordspielen auf dem Tablet beobachtet oder ein Schulleiter erfuhr von einem Suizidaufruf in sozialen Netzwerken. Schepker ergänzt: „Schon Kinder suchen Suizidforen auf.“ Erwachsene wiederum nutzten die Geräte zur Sanktionierung nach unerwünschtem Verhalten: Einigen Kindern waren Smartphone, Tablet, iPad etc. kurz vor ihrem Tod weggenommen worden.

Daraus ergibt sich für Ruch und Kollegen die Verpflichtung, jedes Anzeichen von Suizidalität ernst zu nehmen. Eindeutige, aber auch verdeckte Hinweise wie „Ich wünschte, ich wäre nie geboren“ oder „Ich würde gerne einschlafen und nie mehr aufwachen“ seien Ausdruck von großem Leid. Schepker: „Flapsig zu antworten: Dann mach‘s doch!, das geht gar nicht. Den Eltern muss die Gefahr ganz deutlich bewusst sein.“

Besondere Aufmerksamkeit brauchen „Survivor“, weil die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung im Jugendalter stark erhöht ist. Und die Leitlinien warnen: Selbst bei einer objektiv nicht lebensbedrohlichen Handlung dürfe gerade bei Kindern nicht auf Halbherzigkeit geschlossen werden, vielmehr könnten sie die Folgen überschätzt haben.

Misshandlung, Vernachlässigung oder Tod eines Nahestehenden

Gut ein Viertel der Kinder hatte den Recherchen zufolge ein Trauma erlitten, manche sogar mehrfach, etwa Misshandlung, Vernachlässigung oder Tod eines nahestehenden Menschen. Beispiele: Ein Kind war Opfer häuslicher Gewalt geworden, zudem war seine Mutter an einer Überdosis Drogen gestorben. Ein anderes Kind musste in den ersten beiden Lebensjahren wegen Missbrauch, Gewalttaten und psychischer Probleme der Eltern wiederholt in Obhut gegeben werden.

Einer Metaanalyse zufolge gehen Misshandlungen in der Kindheit mit einer 2,5- bis 4-fach erhöhten Suizidrate einher, so die Forscher. Als Intervention eigne sich die evidenzbasierte Trauma-Focused Cognitive Behavioral Therapy.

Aufwachsen in desolaten Verhältnissen

40% der Kinder stammten aus Familien mit gravierenden Schwierigkeiten. Viele Eltern waren in Scheidung, Sorgerechtsstreit oder sonstige Justizangelegenheiten verstrickt, kämpften mit eigener Suizidalität, Sucht- und psychischen Erkrankungen.

„Es gibt deutliche Hinweise, dass Suizidalität eine familiäre Komponente hat. Einer Studie zufolge machen Kinder von Eltern mit Suizidversuchen 6-mal häufiger ebenfalls einen solchen Versuch als unbelastete Kinder“, schreiben die Autoren.

Mehr als die Hälfte der Kinder lebte bei nur einem Elternteil, in Patchworkfamilien oder bei Verwandten. So wohnte ein Kind bei den Großeltern, und zwar wegen einer schweren psychischen Störung der Mutter, die es seit 3 Jahren nicht mehr gesehen hatte, den Vater kannte es gar nicht. Ein anderer Fall: der Vater inhaftiert, die Mutter seit langem wegen Drogendelikten auf der Flucht, weshalb deren Freund das Kind betreut hatte.

Elia weist noch auf weitere kritische Punkte hin: wenn die Eltern den Alltag nicht strukturieren und damit keine Orientierung bieten oder wenn sie einen starken Erfolgsdruck ausüben, der die Kinder völlig überfordert.

Um die Beziehungen zu verbessern und damit der Suizidalität bei Kindern vorzubeugen, empfehlen Ruch und Kollegen Familientherapien wie die ABFT (Attachment-Based Family Therapy). Schepker: „Familientherapien mit unterschiedlicher Methodik werden hier ebenfalls breit praktiziert. Dabei ist die ABFT – neben Verhaltenstherapien – wohl der am besten etablierte bindungsorientierte Ansatz.“ Hinzu kommen Bemühungen, für Kinder aus Multiproblemfamilien erwachsene Bezugspersonen aus einem anderen Umfeld zu finden.

Ein Kind war psychisch krank und wurde gemobbt

Schulschwierigkeiten oder Konflikte mit Kameraden wurden bei gut einem Drittel der Kinder festgestellt, darunter Schulverweis, Schulwechsel oder besonderer Bildungsbedarf. Am häufigsten war Mobbing, doch hing dies in der Regel mit anderen Risiken zusammen. Ein Kind zum Beispiel, das mehrfach psychische Probleme gehabt hatte, wurde gemobbt, nachdem es wegen auffälligen Verhaltens in eine andere Klasse versetzt worden war.

Risikofaktor leicht zugängliche Schusswaffen

Zwar fand man die meisten Kinder – nämlich 3 Viertel – erhängt oder erstickt mit einem Gürtel oder Kleidungsstück, doch einem Fünftel war eine fahrlässig aufbewahrte Schusswaffe zum Verhängnis geworden. So hatte ein Kind zum Gewehr des Vaters gegriffen, das geladen im Wohnzimmer lag, ein anderes Kind entwendete eine Pistole samt Munition aus dem unverschlossenen Nachttisch der Mutter. Vergiftung und sonstige Methoden machten 3% der Todesfälle aus.

Wie sich ein beträchtlicher Teil der Kindersuizide vermeiden lässt, liegt auf der Hand. Waffen wegschließen! lautet der dringende Appell der Forscher. Zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit empfehlen sie Kampagnen, die zu mehr Achtsamkeit aufrufen. Die DGKJP-Leitlinie stellt fest: „Suizide durch Schusswaffen sind in Deutschland seltener als in der Schweiz und den USA, weil der Besitz strenger reglementiert ist.“

Selbsttötung geschieht oft im Affekt

Ein Drittel der Kinder brachte sich nach einer Disziplinarmaßnahme um, die eine Erziehungsperson wegen unliebsamen Verhaltens ihr gegenüber oder in der Schule verhängte. Meist mussten die Kinder zur Strafe auf ihr Zimmer gehen und/oder ihr Smartphone o.ä. abliefern. „Bei Kindern, die sowieso schon labil sind, ist das dann der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt“, sagt Schepker.

Elias Worten zufolge kann überschießende Impulsivität, wie sie vor allem bei disruptiven Störungen vorkommt, in Kurzschlussreaktionen münden. Nach einer Auseinandersetzung seien die Kinder aufs Heftigste erregt und richteten ihre Wut dann blindlings gegen sich selbst. Ruch und Kollegen schreiben über einen Jungen mit ADHS, Depressionen und Suizidalität in der Vorgeschichte: „Er stritt sich mit seiner Mutter wegen schlechter Noten, sie schickte ihn in sein Zimmer und nahm ihm sein iPad weg. Kurz darauf fand sie ihn erhängt an seinem Etagenbett.“

Ein Teil der Kinder aber besaß offenbar noch so viel Besonnenheit, dass sie in der Lage waren, ihren Entschluss mitzuteilen, so entdeckte man auf einem Handy derartige Textnachrichten. Ein anderes Kind hatte vorher einen Freund informiert.
 

Kommentar

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