Beim Online-Kongress der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) warnte Dr. Daniel Schöne vom Institut für Innere Medizin der Universität Erlangen vor einer hohen Adipositas-Prävalenz im Alter. Doch Interventionen, die bei jüngeren Erwachsenen möglich seien, könne man nicht immer auf Senioren übertragen [1]. Schöne berichtete, wie Gewichtsreduktion im Alter funktionieren kann – und welche Hürden zu nehmen sind.
Adipositas – für Senioren besonders riskant
Zum Hintergrund: In Deutschland leidet etwa ein Drittel der Bevölkerung über 60 Jahre an starkem Übergewicht. Mikrozensus-Daten zeigen, dass der Anteil adipöser Menschen zwischen 1999 und 2017 mit zunehmendem Alter gestiegen ist: um 35,8% bei Männern zwischen 65 und 69 Jahren, um 53,7% bei Männern zwischen 70 und 74 Jahre sowie um 89,2% bei Männern ab 75 Jahren. Auch bei den Frauen gibt es vergleichbare Trends, nämlich +13,6%, +24,5% und + 88,5%.
Speziell in Kombination mit niedriger Muskelmasse ist starkes Übergewicht bei älteren Menschen, die auch oft an Herz-Kreislauf-, Stoffwechsel- und Gelenkerkrankungen leiden, gefährlich. Dadurch erhöht sich das Risiko, Mobilität einzubüßen und die Selbständigkeit einzubüßen.
Eine 2019 erschienene Studie zeigt für Senioren mit Adipositas ein erhöhtes Risiko für Einfach-und Mehrfachstürze. Adipositas ist auch mit einem höheren Risiko für Altersschwäche oder chronischem Schmerz assoziiert. Auch das Risiko für moderaten und extremen Schmerz ist um bis zu 30% erhöht. Adipositas im Alter wird mit reduzierten kognitiven Fähigkeiten und einem erhöhten Demenzrisiko in Verbindung gebracht. Erhöht ist auch das Risiko für einen Umzug ins Pflegeheim.
Nutzen und Risiken der Gewichtsabnahme
Schöne machte aber auch deutlich, dass im Alter dem Nutzen einer Gewichtsabnahme mögliche Risiken gegenüberstehen:
Benefit: Weniger Gelenkprobleme, das kardiometabolische Profil und die Atmungsfunktion verbessern sich, chronische Inflammationen nehmen ab, die Leistungsfähigkeit und die Lebensqualität steigen, funktionelle Einschränkungen werden weniger.
Risiken: Die Muskelmasse nimmt ab, das Sarkopenie-Risiko steigt, die Knochendichte sinkt, das Frakturrisiko steigt, das Frailty-Risiko nimmt zu, und Mangelernährung droht.
Spezifische Richtlinien zur Adipositas-Therapie im Alter fehlen
Bleibt als Problem: Die Behandlung von starkem Übergewicht im Alter basiert – wie bei Jüngeren auch – vorwiegend auf Maßnahmen zur Gewichtreduktion über Ernährung, Bewegung und Verhalten. „Ein Gewichtsverlust führt aber nicht nur zum Abbau von Fettreserven, sondern zu Verlusten von Muskelmasse und Knochensubstanz – bei älteren Menschen kann er deshalb das Risiko für einen weiteren funktionellen Abbau sowie für Stürze und Frakturen erhöhen“, weiß Schöne. Die Erstlinien-Therapie für Adipositas bei geriatrischen Patienten liege in Lebensstil-Interventionen.
„Es mangelt an spezifischen Richtlinien zur Behandlung von Adipositas bei älteren Menschen“, sagte Schöne. Inwieweit sich Ergebnisse aus jüngeren Populationen auf ältere Menschen übertragen ließen, sei aber unklar, zumal im geriatrischen Bereich andere Ziele vorliegen könnten. Dazu gehören der Erhalt der Selbständigkeit, aber auch die Berücksichtigung von Aspekten wie Multimorbidität, Gebrechlichkeit oder das Risiko für Mangelernährung. Potenzielle Probleme einer Gewichtsreduktion seien immer mit zu berücksichtigen, so der Experte.
Unterschiedliche Interventionen anbieten
Eine nachhaltige Adipositas-Therapie sollte immer Ernährung und Bewegung kombinieren, sagte Schöne und verwies auf die Ergebnisse einer Studie mit 107 adipösen Patienten im Alter von 70 Jahren. Verglichen wurden 3 Interventionen: eine reine Gewichtsreduktion über Kalorienrestriktion (Verringerung um 500 bis 750 kcal/Tag) und Bewegungstherapie (3x pro Woche) mit der Kombination beider Methoden.
Über eine Kalorienrestriktion gelang es zwar, abzunehmen und das Gewicht zu halten. Die Kombination mit Bewegung war aber notwendig, um den Abbau von Muskelmasse in Grenzen zu halten und um die körperliche Funktionalität deutlich zu verbessern. Die Studie zeigte auch, dass bei der Bewegung eine Kombination aus Ausdauer- und Krafttraining am besten geeignet ist.
Gewichtsabnahme im Alter – wie sehen Motive und Barrieren aus?
Ergebnisse aus dem Effective SLOPE Projekt zeigen, dass ältere Menschen mit Adipositas andere Motive und Barrieren für eine Gewichtsabnahme haben als jüngere Erwachsene. Über leitfadengestützte, problemzentrierte Interviews mit 13 Probanden hatten Dr. Eva Kiesswetter von der Universität Erlangen und Kollegen Motive identifiziert, warum ältere Menschen mit Adipositas eine Gewichtsreduktion anstreben oder ablehnen, wo Barrieren liegen und wo Unterstützung zur Gewichtsreduktion benötigt wird.
Eingeschlossen wurden Menschen ab 65 Jahren mit einem BMI von ≥ 30 kg/m², die selbständig zu Hause lebten. Das mediane Alter lag bei 77 Jahren; 61,5% der Befragten waren Frauen, und der mediane BMI betrug 37,3 kg/m². Alle Probanden wurden zu ihrer aktuellen Gewichtssituation befragt (Zufriedenheit, Relevanz im Alltag, Einflussfaktoren auf Gewichtsveränderungen), zu ihren Erfahrungen damit ihr Gewicht zu reduzieren (Gründe, genutzte Strategien, Erfolge, Schwierigkeiten, äußere Wahrnehmung) und zu ihren Wünschen und Plänen in Bezug auf ihr Körpergewicht (Unterstützungsbedarf, Wünsche für Angebote).
Fast die Hälfte der Probanden (46,2%) äußerte Unzufriedenheit über das eigene Gewicht. Sehr zufrieden und zufrieden zeigten sich 15,4% bzw. 23,1% der Befragten. 15,4% gaben „weder noch“ an, 30,8% zeigten sich unzufrieden und 15,4% sehr unzufrieden.
Beweggründe und Hürden für die Gewichtsabnahme im Alter
Kiesswetter und Kollegen identifizierten folgende Pro-Positionen zur Gewichtsabnahme:
Sozialer Einfluss: Kritik/Lob nahestehender Personen, gemeinsame Ziele, Stigmatisierung (auch durch Ärzte), ärztliche Empfehlungen.
Gesundheitsprobleme: Funktionelle Gesundheit, Erhalt der Selbständigkeit, orthopädische und kardiovaskuläre Erkrankungen und Stoffwechselerkrankungen.
Ästhetik: Frustration über Kleidergrößen, Unzufriedenheit mit dem eigenen Körperbild.
Innerer Druck: Wille zur Veränderung, Streben nach mehr Selbstbestimmung.Partizipation: Durch Abnehmen Kontakte knüpfen, das soziale Umfeld erweitern.
Deutlich wurde aber auch, wo die Barrieren für eine Gewichtsabnahme lagen:
Sozialer Einfluss: Kritik an der Gewichtsreduktion durch nahestehende Personen, Partner, aber auch ärztliche Empfehlungen gegen das Abnehmen.
Gesundheitsprobleme: Angst vor Nährstoffmangel und Muskelschwund, fehlende körperliche Reserven.
Geringere Lebensqualität: Zu viele Einschränkungen und Anstrengungen durch Gewichtsreduktion, Essen ist Genuss.
· Zufriedenheit mit Gewichtssituation: Übergewicht wird nicht als Belastung empfunden oder die Einsicht, übergewichtig zu sein, fehlt.
Alter: Veränderung der Motivation, gesellschaftliche Akzeptanz steigt.
· Resignation/Frustration durch gescheiterte Versuche, abzunehmen.
„Gewichtsreduktion ist für älteren Menschen mit Adipositas ein ambivalentes Thema und die Barrieren und Motive sind komplex“, bilanzierte Kiesswetter. Ein multiprofessioneller Ansatz sei deshalb wichtig.
Diese Maßnahmen helfen Senioren beim Abnehmen
Therapie-Empfehlungen für alte Menschen mit Adipositas unterscheiden sich hinsichtlich ihrer inhaltlichen Komponenten – Ernährung, Bewegung, Verhalten – nicht grundsätzlich von etablierten Programmen für jüngere Erwachsene. Sie müssten aber altersspezifisch ausgestaltet werden, so Kiesswetter.
In den Interviews war auch deutlich geworden, welche Aspekte eine Gewichtsreduktion unterstützen:
Ernährung (Ernährungskunde, Diät einhalten)
Bewegung (körperliche Aktivität)
Verhalten (verhaltenstherapeutische Unterstützung, Stärkung der intrinsischen Motivation)
Organisationsstruktur (Gruppenangebote, einfache Maßnahmen zur Gewichtsreduktion, Aufbau einer Tagesstruktur)
Unterstützung durch Fachkräfte (Coaching, Anleitung und individuelle Beratung, medizinische Betreuung)
Langzeitrisiko für Adipositas-Chirurgie: Nach bariatrischen OPs müssen Patienten auf Ernährung achten, sonst drohen Anämien
Langzeitdaten: 5 bis 9 Jahre mehr Lebenszeit nach bariatrischer OP – Patienten mit Diabetes profitieren am stärksten • Im Mittel 5,5 Kilo mehr durch die Pandemie: Verstärken die „Corona-Kilos“ die „Adipositas-Epidemie?“
Todbringendes Körperfett: Ein hoher BMI ist der drittwichtigste Risikofaktor für eine schwere COVID-19-Erkrankung
Medscape Nachrichten © 2021
Diesen Artikel so zitieren: Adipositas im Alter: Senioren brauchen andere Abnehm-Strategien als Junge – so können Ärzte ihnen helfen - Medscape - 20. Sep 2021.
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