Zu oft Antidepressiva, zu selten Anti-Craving-Substanzen: Was bei der Behandlung von Alkoholabhängigkeit schiefläuft 

Dr. Thomas Kron

Interessenkonflikte

17. September 2021

Nur eine Minderheit aller Einwohner Schwedens mit Alkoholproblemen erhält Anti-Craving-Substanzen: eine Situation, die seit Mitte 2000 weitgehend unverändert geblieben ist. Dies geht aus einer aktuellen Studie von Suchtforschern des Karolinska Instituts hervor. Außerdem seien diese Medikamente für verschiedene Gruppen in der Gesellschaft ungleich verteilt, schreibt die Autorin Sara Wallhed Finn vom Department of Global Public Health am Karolinska Institut [1]

Auch der Suchtforscher Prof. Dr. Michael Soyka, er arbeitet an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität München, hat kürzlich kritisiert, Anti-Craving Substanzen würden zu selten genutzt.

Studie mit 130.000 Erwachsenen aus Schweden

Zum Hintergrund: Australische, britische und US-amerikanische Studien hätten Hinweise auf eine Unterversorgung von Alkoholkranken mit Anti-Craving-Substanzen geliefert, berichten die schwedischen Forscher. Doch die Datenlage sei bislang schlecht. In der aktuellen Studie haben sie die Verschreibung von Disulfiram, Naltrexon, Acamprosat und Nalmefen an Personen mit Alkohol-Krankheit in Schweden untersucht. Eingeschlossen wurden mehr als 130.000 Erwachsene, bei denen zwischen 2007 und 2015 eine Alkoholabhängigkeit diagnostiziert worden ist

Nach Angaben der Autoren ergab die Studie, dass knapp 23 bis 24% von ihnen Verordnungen für Anti-Craving-Präparate bekamen – ohne große Veränderung im 9-jährigen Studienzeitraum. 

Den Forschern zufolge gibt es mehrere Erklärungen für diese Unterversorgung, etwa zu wenig Wissen über diese Medikamente sowohl bei Ärzten als auch bei Patienten. Ein weiterer Grund könnte sein, dass Patienten Psychotherapien den Medikamenten vorziehen. In manchen Fällen gebe es auch medizinische Gründe, zum Beispiel Lebererkrankungen.

Nicht alle Patienten werden vom Facharzt versorgt

Hinzu kommt: Bestimmte Bevölkerungsgruppen erhielten vergleichsweise weniger Anti-Craving-Präparate verschrieben, etwa Männer, ältere Menschen, Personen mit niedrigerem Bildungs- und Einkommensniveau, Personen, die in mittelgroßen Städten oder ländlichen Gebieten lebten, und Personen mit Begleiterkrankungen.

„Wir wissen sehr wenig über die Ursachen dieser Unterschiede“, erklärt Sara Wallhed Finn. „Ein Grund dafür könnte sein, dass der Zugang zur Versorgung in den einzelnen Regionen unterschiedlich ist, da die spezialisierte Suchtbehandlung hauptsächlich in den Großstädten zu finden ist.“ Auch seien Verschreibungsraten bei Personen mit anderen organischen Krankheiten besonders niedrig, selbst in Fällen, in denen die Komorbidität kein Hindernis darstellten. „Dies müssen wir weiter untersuchen, um es vollständig zu verstehen“, sagt die Forscherin. 

In die Studie seien nur Personen einbezogen wurden, die sich in fachärztlicher Versorgung wegen einer Alkoholkonsum-Störung befunden hätten; die Zahl der Personen mit Alkohol-Problemen sei in der Allgemeinbevölkerung viel größer. Insgesamt erfüllten schätzungsweise 4% aller Erwachsenen in Schweden die Kriterien für eine Alkoholkrankheit, aber bei weitem nicht alle werden behandelt. 

Falscher Einsatz von Antidepressiva

Dass Anti-Craving-Substanzen wenig eingesetzt werden, hat kürzlich auch Soyka in der Zeitschrift  Nervenheilkunde  kritisiert. Die klinische Wirkung von Acamprosat und Naltrexon, für die es laut Soyka die beste wissenschaftliche Evidenz gebe, sei zwar mäßig; die Effektstärke entspreche jedoch immerhin der von Antidepressiva. 

Leider würden ohne empirischen und wissenschaftlichen Nachweis oft Psychopharmaka, insbesondere Antidepressiva, eingesetzt. Sie hätten sich in der pharmakologischen Rückfallprophylaxe zumindest bei Alkoholabhängigen ohne psychische Begleiterkrankungen als nicht wirksam erwiesen. Sinnvoller wäre laut Soyka, evidenzbasierte pharmakotherapeutische Optionen häufiger zu nutzen und nicht nur „bei verzweifelten Fällen“. Sie hätten „ein günstiges, jedenfalls nicht besonders problematisches Nebenwirkungsspektrum und interagieren pharmakologisch nicht mit Alkohol“.

Führt die COVID-19-Pandemie zu mehr problematischem Alkoholkonsum?

Einem Bericht der OECD zufolge hat die Corona-Pandemie die Trinkgewohnheiten vieler Menschen negativ beeinflusst. In Deutschland ist der Konsum von Alkohol schon jetzt recht hoch. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums  konsumieren 6,7 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Alkohol in gesundheitlich riskanter Form. Etwa 1,6 Millionen aus dieser Altersgruppe gelten als alkoholabhängig. 

Zudem sei missbräuchlicher Alkohol-Konsum einer der wesentlichen Risikofaktoren für zahlreiche chronische Erkrankungen und für Unfälle, schreibt das Ministerium. Analysen gehen von jährlich etwa 74.000 Todesfällen durch Alkoholkonsum allein oder bedingt durch den Konsum von Tabak und Alkohol aus. Die volkswirtschaftlichen Kosten durch Alkohol betragen rund 57 Milliarden Euro pro Jahr (Jahrbuch Sucht 2021).

Schlechte Prognose ohne Therapie

Unabhängig von der Pandemie seien Alkoholgebrauchsstörungen, wie Soyka berichtet, sehr häufig. In epidemiologischen Studien seien Prävalenzraten von 6 bis 7% ermittelt worden. Man könne davon ausgehen, dass 2 bis 3% der Erwachsenen alkoholabhängig seien. Rund drei Millionen Menschen würden weltweit jährlich an den Folgen von Alkoholismus sterben; über 5% der globalen Gesundheitsschäden (global disease burden) seien alkoholassoziiert. 

Es gebe, wie der Suchtexperte ebenfalls betont, zahlreiche körperliche und neurologische Folgeschäden, allen voran Lebererkrankungen (Fettleber, Zirrhose, Karzinom), eine erhöhte Rate für zahlreiche Malignome, eine hohe Rate an Unfällen und Suiziden, auch ein hohes Risiko für Gewalttaten, zahlreiche psychiatrische Folgestörungen wie Demenzen, das Wernicke-Korsakoff-Syndrom, epileptische Anfälle, Neuro-und Myopathien sowie soziale Probleme. Die Prognose sei ohne Therapie oft ungünstig.

Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Univadis.de

 

Kommentar

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