Adipositas greift wie eine Pandemie um sich. Die effektivste Behandlung bei schweren Formen ist eine bariatrische Operation, doch wird sie in Deutschland deutlich seltener genutzt als in anderen Ländern. Durch verstärkte Aufklärung und Beseitigung bürokratischer Hürden könnte der Eingriff viel mehr Patienten zugutekommen, sagte Prof. Dr. Wolf Otto Bechstein bei einem Online-Meeting zum Kongress „Viszeralmedizin 2021“ [1]. Er ist Kongresspräsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV).
3 Jahre mehr Lebenszeit
Zum Hintergrund: Nach Daten des Statistischen Bundesamts (DESTATIS) ist mehr als die Hälfte aller Menschen in Deutschland übergewichtig, davon wiederum ein Fünftel adipös mit einem BMI über 30 kg/m², vermehrt auch Jugendliche. „Und die Welle dieser Pandemie ist noch nicht gebrochen“, warnte Bechstein beim DGAV-Kongress 2021 in Leipzig. Sowohl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als auch das Bundessozialgericht erkennen Adipositas mittlerweile als Krankheit an.
Wenn bei hochgradiger Ausprägung ab BMI-Werten zwischen 35 und 40 kg/m² konservative Verfahren erschöpft sind, ermöglicht oft nur noch die bariatrische Chirurgie eine Gewichtsabnahme. Bechstein, Direktor der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie an der Universität Frankfurt, belegte das mit der Swedish Obesity Study. Eine im vorigen Herbst publizierte Analyse hatte ergeben, dass der BMI gut 20 Jahre nach dem Eingriff um 7 kg/m² geringer war als unter Adipositas-Standardtherapie. Weitere eklatante Vorteile: Die Mortalität durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen lag um 30% und durch Karzinome um 23% niedriger als bei der Kontrollgruppe ohne OP. Teilnehmer mit chirurgischer Therapie lebten 3 Jahre länger, verglichen mit der Standardbehandlung.
Schätzungen zufolge wären bis zu 6,6 Millionen Lebensjahre zusätzlich gewonnen, wenn die Zahl der Eingriffe wie Magenbypass und Schlauchmagen global um nur 1% steigen würde, so Bechstein. Zur Lebensverlängerung trägt bei, dass sich die Stoffwechsellage entscheidend bessert: HbA1c, Fettwerte und Blutdruck sinken.
Bundesweit wenige bariatrische Eingriffe
Deutschland jedoch bleibe weit hinter den Nachbarländern zurück, wie Bechstein sagte. Hierzulande liege die Rate bei knapp 9 bariatrischen Operationen pro 100.000 Einwohner jährlich, wogegen Belgien mit 107, Schweden mit 78 und Frankreich mit 57 wesentlich bessere Zahlen vorzuweisen hätten.
Was könnten die Ursachen sein? „Das Wissen um den Wert der Operation ist hier noch zu wenig verbreitet“, bedauerte der Referent. Auch bürokratische Hürden stünden im Weg: Die Patienten müssen sich für den Antrag zur Kostenübernahme viel Zeit nehmen, ihn gründlich bearbeiten und eine Menge Dokumente beschaffen, da die Krankenkassen die Fälle sehr genau prüfen und nur vereinzelt bewilligen. Er plädiert daher für eine weniger strenge Genehmigungspraxis.
In der S3-Leitlinie „Chirurgie der Adipositas und metabolischer Erkrankungen“, veröffentlicht 2018 unter Federführung der DGAV, seien Indikationen für bariatrische Eingriffen eindeutig definiert. Zudem habe die DAGV aktuell 96 Zentren für Adipositas-Chirurgie und für metabolische Chirurgie zertifiziert.
Softdrinks und Alkohol sabotieren den Erfolg
Doch es gibt noch viel zu tun. Denn nach der Operation müssten die Patienten lange begleitet werden, und zwar möglichst von einem interdisziplinären Team, sagte Bechstein. Sie benötigten eventuell eine Supplementation von Vitaminen und Mineralstoffen, weil wegen des verkürzten Darms ein Defizit drohe. Wichtig bei der Nachsorge sei außerdem, ein Therapieversagen zu verhindern. Dazu neigen nach Bechsteins Erfahrung Patienten, die weiterhin „Kalorienbomben“ wie Eiscreme und zuckerhaltige Limonade zu sich nehmen oder ihr Essbedürfnis mit Alkohol ausgleichen.
„Die Frage ist also: Wer kümmert sich?“, resümierte Bechstein. Nach wie vor seien keine Strukturen für die Langzeitbetreuung etabliert, etwa bei Hausärzten. Darüber hinaus sollten für eine umfassende Adipositas-Behandlung stationäre Zentren analog etwa zu Krebs- oder Trauma-Zentren eingerichtet werden.
© Ivan Shidlovski
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Medscape Nachrichten © 2021
Diesen Artikel so zitieren: Trotz guter Daten wenige bariatrische OPs in Deutschland: Experte fordert niedrigere bürokratische Hürden - Medscape - 16. Sep 2021.
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