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Verletzt Corona-Impfpflicht die Verfassung? Das sagt unser Grundgesetz wirklich – Juristin erklärt, was Impfgegner gerne übersehen

Melanie van Luijn

Interessenkonflikte

15. September 2021

Wer mit dem Grundgesetz argumentiert, sollte dies auch richtig tun“, sagt Melanie van Luijen ( https://www.van-luijn.de/ ). Sie ist Rechtanwältin und Mediatorin in Bielefeld. In ihrem Gast-Kommentar nimmt sie Stellung zur Verfassungsmäßigkeit einer Impfpflicht und sie erklärt, was Impfkritiker im Grundgesetz gerne überlesen:

Deutschland hat im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie mittlerweile eine Impfquote von über 60% erreicht. Das ist gut, aber leider nicht ausreichend zur Eindämmung der Krankheit. Ungeimpft geblieben sind bislang – neben den Kindern, für die der Impfstoff noch nicht freigegeben wurde – in vielen Fällen diejenigen Menschen, die sich unproblematisch impfen lassen könnten, dies aber aus verschiedenen Gründen ablehnen.

Melanie van Luijen

Auch in meinem Freundeskreis gibt es Stimmen, die sich vehement gegen eine Impfung – erst Recht gegen eine Impfpflicht – zur Wehr setzen. Die Stimmen sind laut und deutlich, insbesondere in den sozialen Medien bzw. im Internet generell. Und immer häufiger rufen diese Stimmen nach dem Schutz des Grundgesetzes, um ihre Verweigerungshaltung zu begründen.

Ich bin ein großer Fan unseres Grundgesetzes. Ich habe bei meiner Vereidigung als Rechtsanwältin einen Eid auf eben diese Verfassung geleistet. Dies habe ich nicht nur deswegen getan, weil das in Deutschland unumgänglich ist, wenn man zur Anwaltschaft zugelassen werden möchte, sondern auch und vor allem, weil ich zutiefst überzeugt bin von unserem Grundgesetz als Basis des menschlichen Zusammenlebens.

Neben den verschiedenen religiösen und/oder humanistischen Grundlagen ist unser Grundgesetz eine große Errungenschaft. Es stellt Werte auf, die jedem Menschen gleiche Rechte und ein freies Leben ermöglichen sollen. Das war in unserem Land leider nicht immer so und ich bin heilfroh darüber, in einer Zeit leben zu dürfen, in der sich diese Verfassung als rechtliche Basis durchgesetzt hat.

Nun lese ich aber im Rahmen sehr emotional geführter Diskussionen um die Corona-Impfung immer öfter Argumente der Impfgegner, die unsere Verfassung für sich und ihre Sache entdeckt haben. „Ich muss mich nicht impfen lassen, das verstößt gegen meine Grundrechte“, liest man an einschlägigen Stellen. Und das ärgert mich.

Nicht, weil ich Impfgegnern ihre Grundrechte absprechen wollen würde. Eine Demokratie muss auch kontroverse Haltungen aushalten. Nein, mich ärgert dieses Heranziehen der Verfassung immer dann, wenn einfach nicht zu Ende gedacht und argumentiert wird. Denn dieses Grundgesetzt begründet nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten, findet also an den Stellen seine Grenzen, wo das Verhalten des Einzelnen die Grundrechte anderer verletzen würde.

Wie also ist unsere Verfassung denn nun korrekt auf eine Corona-Impfung oder gar auf eine – immer wieder diskutierte – Impfpflicht anzuwenden?

Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit – Artikel 2 Absatz 2 S.1 GG

Neben der – allem anderen vorangestellten – Menschenwürde ist das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Artikel 2 Absatz II Satz 1 GG einer der bedeutsamsten Dinge, die unser Grundgesetz gewährleistet.

Und selbstverständlich würde eine Impfpflicht in den Schutzbereich dieses Artikels eingreifen. Schon die Nadel, die bei einer Impfung unweigerlich unsere Haut durchsticht, stellt einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar. Erst recht das Injizieren eines Stoffes, der bei den meisten Menschen eine – gewollte, aber dennoch unangenehme – Impfreaktion oder diverse Nebenwirkungen hervorruft, stört unsere körperliche Unversehrtheit ganz empfindlich. Und da ich selbst sowohl nach Erst- als auch nach Zweitimpfung jeweils 1,5 Tage mit extremem Fieber gekämpft habe, weiß ich, wovon ich da rede.

Das elterliche Erziehungsrecht – Artikel 6 Absatz 2 GG

Wagt man es gar, über eine Impfpflicht von Kindern und Jugendlichen nachzudenken, sei zusätzlich noch der Eingriff in den Schutzbereich des elterlichen Erziehungsrechtes des Artikel 6 Absatz 2 GG zu erwähnen, der ebenfalls grundsätzlich unzulässig ist.

Die Grenzen des Grundrechtsschutzes – verfassungsrechtliche Rechtfertigung

Bis zu diesem Punkt ist das Grundgesetz – glaubt man den vielen Menschen, die sich gerade darauf berufen – wohl noch hinlänglich bekannt. Da aber unbegrenzte Freiheitsrechte Einzelner zu großem Chaos bzw. letzten Endes zu Anarchie führen würden, hat das Grundgesetz keine unbeschränkte Geltung für alles und jeden. In der Regel findet die Verfassung dort ihre Grenzen, wo das Verhalten desjenigen, der sich darauf beruft, gegen die Grundrechte eines anderen oder gegen ein Gesetz verstoßen.

In welcher Weise die verschiedenen Rechte eingeschränkt werden können, regelt das Gesetz in den meisten Fällen sogar schon ausdrücklich selbst. Im Falle des Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG braucht man nur 2 Sätze weiterzulesen, um dort auf den Hinweis zu stoßen, dass in dieses Grundrecht (nur) durch ein Gesetz eingegriffen werden darf. Das Elternrecht hingegen findet seine Schranken nur in kollidierenden anderen Grundrechten, ist aber damit ebenfalls nicht unbeschränkt.

Rechtsprechung, wie auch juristische Literatur, fordern, dass ein Grundrechtseingriff nicht nur ein legitimes Ziel verfolgen muss, sondern daneben auch geeignet, erforderlich und angemessen sein muss. An diesen Grundsätzen müsste sich eine Impfpflicht selbstverständlich messen lassen.

Was wäre also das Ziel einer Impfpflicht? Eine Impfung soll sowohl die Geimpften als auch die Ungeimpften vor einer Ansteckung mit dem Covid-19-Virus, vor einem schweren Verlauf der Krankheit bzw. vor einem Impfdurchbruch schützen und langfristig irgendwann die Krankheit vollständig ausrotten, was der Gesellschaft auch bei den Pocken schon gelungen ist.

Daneben ist auch die Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems ein Ziel, um weiteren schwerkranken Menschen adäquat zu helfen. (Weitere) Mutationen des Virus sollen möglichst verhindert werden.

Ist eine Impfung denn geeignet, das o.g. Ziel zu erreichen?

Von einer Geeignetheit im rechtlichen Sinne spricht man schon dann, wenn die angestrebten Ziele durch die Maßnahme erreicht oder gefördert werden. Ein neidischer Blick gen Dänemark – wo sämtliche Beschränkungen gerade komplett aufgehoben wurden – drängt einem den Gedanken, dass die Impfung geeignet sein könnte, geradezu auf.

Dort war eine Impfquote von über 80% erreicht, als die Regierung erklärt hat, dass die Pandemie für das Land keine Bedrohung mehr darstelle. Es stehen auch (mittlerweile) genügend Impfstoffe bereit, die von der internationalen Zulassungsbehörde EMA geprüft und als unbedenklich eingestuft wurden.

Die Geeignetheit der Impfung wird von Impfgegnern auch deswegen abgesprochen, weil es immer mal wieder sogenannte Impfdurchbrüche gibt, sich also Menschen trotz erfolgter Schutzimpfung anstecken oder das Virus dennoch übertragen. Laut RKI handelt es sich dabei jedoch nur um insgesamt 0,03% von denen noch weniger einen schweren Verlauf erleiden und so gut wie niemand daran verstirbt.

Die höchste Rate der Verstorbenen nach einem Impfdurchbruch liegt bei den Menschen über 80, bei denen regelmäßig eine Vielzahl weiterer Symptome hinzukommen. Offen lässt das RKI, wie hoch die Rate ist, mit der auch Geimpfte das Virus noch weitertragen können. Eine genaue Zahl wird dort nicht angegeben, das RKI geht aber davon aus, dass die Zahl so gering ist, dass sie keine Rolle mehr spielt.

Ist nun die Impfung trotz Impfdurchbrüchen noch geeignet zur Erreichung des o.g. Ziels? Natürlich. Die erreichte Schutzwirkung ist so hoch, dass die Quote des Versagens dagegen nur unerheblich und klein ist. Nur weil eine Schutzmaßnahme nicht zu 100% schützt, ist sie nicht ungeeignet.

Auch Airbags versagen dann und wann, werden aber dennoch in Pkw verbaut zur Vergrößerung der Sicherheit. Auch Kondome gelten noch immer als eines der sichersten Verhütungsmittel vor Schwangerschaft und Geschlechtskrankheiten, obwohl es einige lebende Beweise dafür gibt, dass die Dinger reißen, platzen oder in anderer Weise versagen können. Niemand würde deswegen auf die Idee kommen, die grundsätzlich präventive Wirkung zu bestreiten.

Erforderlich wäre eine Impfung aber nur dann, wenn es kein anderes (milderes) Mittel gäbe, welches in gleicher Weise geeignet ist, den Zweck zu erreichen, aber den Einzelnen und die Gesellschaft dabei weniger belasten würde. Andere Mittel gibt es viele. Die bedeutende Frage ist aber die, ob es sich dabei um mildere Mittel handelt. Würde nicht auch eine reine Impfempfehlung ausreichen? Ja, würde sie, wäre die deutsche Bevölkerung so klug wie die dänische.

Ist sie aber leider nicht. Denn genau diese Situation haben wir gerade. Es gibt (noch) keine Impfpflicht, aber doch eine dringende Empfehlung dafür. Diese Empfehlung scheint aber eben bei einem (zu) großen Teil der Bevölkerung auf taube Ohren zu stoßen und kann damit wohl als gescheitert angesehen werden.

Eine Fokussierung auf die Entwicklung von Wirkstoffen zur effektiven Behandlung der Krankheit würde nicht das Grundproblem, sondern nur seine Symptome behandeln und ist damit per se ungeeignet, die o.g. Ziele zu erreichen.

Auch eine komplette Durchseuchung der Bevölkerung wurde bereits an vielen Stellen als milderes Mittel zur Eindämmung der Krankheit vorgeschlagen. Aber auch dieses Argument kann nicht überzeugen, da bei einer solchen Maßnahme früher oder später das Gesundheitssystem überlastet würde, was zwangsläufig den Tod vieler Menschen zur Folge hätte.

Erste Auswirkungen dieser Überlastung konnten wir alle bereits eindrücklich während der Spitzenzeiten dieser Pandemie beobachten, als die Bilder langer Krankenwagenschlangen vor Krankenhäusern und Militärfahrzeugen, die Leichen abtransportierten, die Tagesschau ebenso wie internationale Nachrichtensendungen prägten.

Würde es denn nicht vielleicht reichen, die bisherigen Schutzmaßnahmen aufrechtzuerhalten und mit Lockdown, Homeoffice, Maskenpflicht, Schulschließungen und diversen Versammlungsverboten zu agieren, wenn die Inzidenzwerte dies erfordern?

So oder so befürchte ich, dass uns allen viele dieser Schutzmaßnahmen noch einige Zeit lang erhalten bleiben werden. Aber wie die Erfahrungen bis zu diesem Punkt zeigen, so sind alle diese Schutzmaßnahmen zwar geeignet, die Verbreitung des Virus zu verlangsamen, nicht aber, sie aufzuhalten. Und als milderes Mittel kann man den Schaden, den nachweislich Kinder ohne Beschulung in Präsenz erleiden oder den wirtschaftlichen Schaden eines Lockdowns wohl kaum bezeichnen.

Auch die Einführung der sogenannten 3G-Regel, bei der nur Getestete, Geimpfte und Genesene weitestgehend zurückkehren dürfen in ein geregeltes Leben, vermag nicht zu überzeugen. Immer wieder werden Fälle bekannt, in denen Tests falsch oder einfach zu früh waren, so dass eine Virenlast nicht angezeigt wurde, die betroffene Person aber dennoch das Virus verbreitet hat. Richtig ist das Argument, dass auch Geimpfte das Virus weitertragen können. Dies scheint mittlerweile in der Wissenschaft als bewiesen angesehen zu werden.

Als wissenschaftlich erwiesen angesehen wird aber an dieser Stelle auch die Tatsache, dass die Wahrscheinlichkeit einer Weitergabe des Virus durch geimpfte Menschen um ein Vielfaches geringer ist als bei Ungeimpften. (s.o.) Dieses Zahlenverhältnis lässt sich nur schwerlich ignorieren.

Aber auch wenn eine Maßnahme wie Impfungen geeignet und erforderlich ist, so muss sie – um als Einschränkung der Grundrechte herangezogen zu werden – auch angemessen, also verhältnismäßig sein. Es erfolgt an dieser Stelle also eine Abwägung der verschiedenen betroffenen Rechtsgüter und das Maß ihrer Beeinträchtigung.

Ganz emotional könnte man an dieser Stelle bereits mit der jeweiligen Todesrate pro Impfung argumentieren. Mehr als 92.000 Menschen sind in Deutschland an Corona gestorben, aber nur bei 48 Menschen hält das Paul-Ehrlich-Institut die Covid-19-Impfung für ursächlich oder wahrscheinlich für den Tod dieser Menschen.

Auch wenn selbstverständlich jeder Tote ein Toter zu viel ist und dieser Vergleich den Hinterbliebenen nur ein geringer Trost sein wird, sprechen diese Zahlen doch sehr für eine Impfung. Aber auch wenn mich – und sicherlich auch andere Menschen – schon dieses Argument für eine Abwägung zu Gunsten einer Impfung überzeugen würde, so reicht dem Grundgesetz das noch nicht einmal aus. Denn das Grundgesetz verbietet eine Abwägung von Leben gegen Leben, denn die Verfassung sieht menschliches Leben als unendlich an, was zur Folge hat, dass viele Leben nicht mehr wert sind als einzelne Leben.

Richtigerweise darf jedoch zur Abwägung nicht die minimale Todesrate bei den Impfungen herangezogen werden, sondern es muss die „normale“ Impfreaktion verglichen werden mit den weltweiten Folgen der Krankheit insgesamt. Es steht hier also das Wohl des Einzelnen im Verhältnis zur Gesundheit einer ganzen Nation. Und dann muss das drohende Übel bei einer Impfung ins Verhältnis gesetzt werden mit dem angestrebten Ziel, diese Krankheit gänzlich auszurotten. Und nur durch die gänzliche Ausrottung der Krankheit können wir auch sicherstellen, dass niemals mehr jemand durch eine Corona-Impfung stirbt. Denn gegen eine ausgerottete Krankheit muss langfristig nicht mehr geimpft werden. Oder wann war Ihre letzte Pockenimpfung?

Die Frage ist also, ob es der Bevölkerung zuzumuten ist, sich eine Nadel in den Oberarm stechen zu lassen und sich einen Stoff spritzen zu lassen, der unliebsame Impfreaktionen auslöst, um eine Krankheit zu beseitigen, die weltweit viele Menschenleben gekostet hat und noch kosten wird, die Wirtschaft nachhaltig geschädigt hat und das Gesundheitssystem mit hohen Kosten für die Langzeitfolgen – Long-COVID – belastet hat.

Ich würde sagen, das ist wohl zumutbar. Aber da meine Meinung bei Rechtsfragen in der Regel unerheblich ist, darf an dieser Stelle gesagt sein, dass die meisten Juristen in Deutschland dasselbe sagen würden und auch die Wissenschaftlichen Dienste (Verfassung und Verwaltung) des Bundestages diese Rechtsansicht vertreten. Es ist davon auszugehen, dass auch die Rechtsprechung im Land sich – im Falle von entsprechenden Klagen – ähnlich positioniert.

Anforderungen an ein entsprechendes Gesetz

Die Anforderungen an ein Gesetz zur Einführung einer Corona-Impfpflicht sind jedoch hoch. Die Zuständigkeit des Bundes zum Erlass eines solchen Gesetzes ergibt sich aus Artikel 74 Absatz 1 Nr. 19 GG. Von dieser Gesetzgebungskompetenz hat der Bund in Form des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) gebrauch gemacht und dort z.B. in § 20 Absatz 8-12 IfSG auch die Masernimpfpflicht für bestimmte Personengruppen normiert. § 20 Absatz 6 IfSG stellt die Ermächtigung zum Erlass einer entsprechenden Rechtsverordnung durch das Bundesgesundheitsministerium zu einer Impfpflicht dar, von der bislang jedoch zur Corona-Bekämpfung noch kein Gebrauch gemacht wurde.

Zur Verfassungsmäßigkeit eines solchen Gesetzes müssten dort jedoch ausdrückliche Ausnahmeregelungen für Genesene und solche Menschen, die aufgrund anderer Erkrankungen nicht geimpft werden können, normiert werden. Selbstverständlich wäre eine ausreichende Menge an Impfstoff und Impfkapazitäten eine weitere Voraussetzung, um eine Pflicht mit entsprechenden Sanktionen bei Verweigerung zu konstituieren.
 

Kommentar

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