„Es ist immer Zeit, den Menschen die Hand zu halten“ – Mediziner erinnern sich an 9/11

Michele Cohen Marill

Interessenkonflikte

9. September 2021

Vor 20 Jahren, als die Sirenen den ruhigen Morgen in New York City durchbrachen und im Fernsehen zu sehen war, wie Rauch vom World Trade Center aufstieg, machten sich die Notfallmediziner auf den Weg, Leben zu retten. Dieser Einsatz hat sie für immer geprägt. In einer Weise, die sie sich nicht hätten vorstellen können. Auch ihre medizinische Laufbahn hat diese Katastrophe verändert.

10 Minuten Vorbereitungszeit auf den Patienten-Ansturm

Im Krankenhaus, das den Twin Towers am nächsten lag – dem New York University (NYU) Downtown Hospital (jetzt New York-Presbyterian Hospital) – hörte der Notarzt Dr. Antonio (Tony) Dajer eine Durchsage. Das war seltsam, weil er als diensthabender Arzt in der Notaufnahme normalerweise selbst solche Durchsagen machte. Ein Sanitäter, der vor dem Krankenhaus stand, hatte einen Polizeiruf erhalten, dass ein Flugzeug in einen der nur 4 bis 5 Blocks entfernten Türme eingeschlagen sei. 2 Krankenschwestern, die eine Rauchpause machten, hatten den Einschlag des Flugzeugs gehört.

„Wir wussten, dass wir jetzt gleich Verletzte bekommen würden“, sagt Dajer, der inzwischen Assistenzprofessor für Notfallmedizin am Weill Cornell Medical College ist und immer noch Assistenzärzte am New York-Presbyterian betreut. „Wir hatten 10 Minuten Zeit, uns vorzubereiten. Das erzeugte ein wahnsinniges Gedränge.“

Die Notaufnahme (ER) war klein. Nur 10.000 Quadratmeter mit einer typischen Auslastung von 100 Patienten pro Tag. Doch der enge Zusammenhalt des Krankenhauspersonals erwies sich als Vorteil, als sie die medizinischen Stationen einrichteten und die ihnen zugewiesenen Aufgaben übernahmen.

 
Wir wussten, dass wir jetzt sofort Verletzte bekommen würden. Wir hatten 10 Minuten Zeit, uns vorzubereiten. Das war ein wahnsinniges Gedränge. Dr. Antonio Dajer
 

Dajer richtete einen Triage-Bereich außerhalb der Ambulanz ein. Er hatte grundlegende Erfahrungen im Katastrophenschutz gesammelt, als er während des Bombenanschlags auf das World Trade Center im Jahr 1993 in der Notaufnahme arbeitete. Auch hatte die Notaufnahme einige Monate zuvor eine Katastrophenübung absolviert.

Zuerst war alles seltsam ruhig. Dann kamen die Patienten – rennend, gehend, humpelnd und auf Krankentragen. „Es war wie bei einer dieser Massenpanik-Szenen, bei denen plötzlich ein Mob von Menschen in die Notaufnahme stürmte“, erinnert er sich.

Weitere Ärzte, Krankenschwestern und andere Krankenhausmitarbeiter kamen hinzu, und Dajer wies sie auf ihre Posten ein. Es gab eine Station, auf der offene Wunden genäht wurden, eine Station für Menschen mit Luftnot und einen Traumabereich. Er schätzt, dass in der Notaufnahme in den 2 Stunden nach dem Einschlag des ersten Flugzeugs etwa 400 Patienten behandelt wurden. Von diesen hatten einige schwere Verbrennungen erlitten, als brennendes Kerosin durch die Aufzugsschächte in die Lobby des Turms stürzte.

In 24 Stunden rund 1.500 Menschen in der Notaufnahme behandelt

Der Einsturz der Türme brachte eine neue Bedrohung durch die dicke Staubwolke mit sich. Als die Menschen ins Krankenhaus eilten – keuchend, hustend, mit tränenden Augen – improvisierte die Notaufnahme eine Art Luftschleuse, indem sie die Außentür schloss, bevor sie eine Innentür öffnete. Trotzdem war der Rauch überall. „Ich erinnere mich noch an diesen Nebel“, sagt Dajer. „Alles wurde unscharf.“

Innerhalb von 24 Stunden wurden schätzungsweise 1.500 Menschen in der Notaufnahme behandelt, viele von ihnen wegen der Auswirkungen von Rauch und Staub. Es war unmöglich, Aufzeichnungen über jede Person anzufertigen, die wegen brennender Augen oder kleinerer Verletzungen behandelt wurde, sagt Dajer.    

Niemand hätte ein solch unglaubliches Szenario in Probe-Übungen einstudieren können. Aber die Ärzte und Krankenhausmitarbeiter kannten alle ihre Aufgaben – und, was besonders wichtig war, sie waren füreinander da, sagt Dajer. „Für mich ist eine der wichtigsten Lehren aus dem 11. September, dass die Menschen wirklich an der Herausforderung gewachsen sind. Menschen verblüffen einen.“

Triage am Fähranleger

Dr. Michael P. Jones kam gerade von seiner morgendlichen Joggingrunde zurück, als er eine Kakophonie von Sirenen hörte. Als sie immer lauter und regelmäßiger erklangen, versuchte er, den Leiter der Central Park Medical Unit anzurufen, wo er sich freiwillig für die Versorgung zur Verfügung gestellt hatte. Zu dieser Zeit war Jones Notfallsanitäter, Student an der Columbia University und dachte über eine medizinische Laufbahn nach.

Da niemand ans Telefon ging, machte er sich auf den Weg zur Einsatzzentrale der Einheit, wo er auf der Ladefläche eines Pickups landete, der Nachschub zum World Trade Center brachte. Sie kamen gerade an, als der erste Turm in einer riesigen grauen Rauchwolke zusammenbrach.

Die Situation war chaotisch. Jones half beim Aufbau von Triage-Zelten, bis ihn ein Feuerwehrmann zu einem Behandlungs- und Triage-Zentrum wies, das am Fähranleger eingerichtet wurde. Während sie den bei den Rettungsarbeiten verletzten Ersthelfern beistanden, wussten Jones und die anderen Rettungskräfte noch immer nichts über die Hintergründe der Katastrophe.

„Wir arbeiteten alle in dieser Hölle und wussten nicht, was passiert war“, sagt Jones, der heute stellvertretender Leiter der Ausbildung und Leiter des Fachbereichs Notfallmedizin am Albert Einstein College of Medicine und an den Jacobi und Montefiore Medical Centers in der Bronx ist. „

Ein Moment ist ihm besonders im Gedächtnis haften geblieben: Er brachte einen Polizeibeamten, der einen gebrochenen Knöchel hatte und unter Atemnot litt, auf eine Fähre nach Staten Island, wo ein Krankenwagen ihn in ein weit entferntes Krankenhaus brachte. Der Beamte war verärgert, weil er von seinem Partner getrennt worden war. „Ich habe medizinisch nicht viel für ihn getan“, erinnert sich Jones. „Ich habe auf der Fähre nur mit ihm gesprochen.“

In der Notfallmedizin geht es darum, Menschen „im schlimmsten Moment ihres Lebens zu helfen. Ich war mit anderen da, um ihnen zu helfen und sie zu unterstützen, und das war etwas Unglaubliches“, sagt er. „Das hat mich davon überzeugt, dass die Notfallmedizin der Weg ist, den ich einschlagen wollte.“

Einsatz am Ground Zero

Dr. Jenny L. Castillo Cato schlief aus, um sich auf ihre mittags beginnende Schicht in der Notaufnahme vorzubereiten, als eine Freundin sie anrief und aufweckte. Die Freundin war auf dem New Jersey Turnpike unterwegs und hatte Rauch aus dem World Trade Center aufsteigen sehen. Castillo schaltete den Fernseher ein, als das 2. Flugzeug einschlug, und machte sich sofort auf den Weg zur Arbeit.

Damals war sie Assistenzärztin für Notfallmedizin am Jacobi und half dabei, die Notaufnahme auf den Ansturm vorzubereiten. Die Mitarbeiter der Notaufnahme richteten eine spezielle Dusche ein, um sich von toxischer Verunreinigung durch Gefahrgutstoffe zu säubern. Sie bereiteten auch einen Bereich für die Orthopäden und einen weiteren für die Unfallchirurgen vor. Dann warteten sie.

„Es war sehr, sehr unheimlich“, sagt Castillo, die heute außerordentliche Professorin für Notfallmedizin und behandelnde Ärztin am Columbia University Medical Center ist. „Es herrschte ein riesiges Gefühl der Traurigkeit und Hilflosigkeit. Wir wollten helfen, und wir waren bereit zu helfen – aber es gab einfach niemanden, dem man helfen konnte.“

Schließlich trudelten etwa 30 fassungslose und staubbedeckte Menschen ein, die von Manhattan in die Bronx gelaufen waren. Ihre körperlichen Probleme waren gering. „Es ging ihnen offensichtlich gut, wenn sie so weit laufen konnten“, sagt Castillo.

In der folgenden Nacht arbeitete sie freiwillig in einer mobilen medizinischen Einheit am Ground Zero und versorgte vor allem Feuerwehrleute, Polizisten und Bauarbeiter in der Aufräumzone, die Schnittwunden, Prellungen und andere kleinere Verletzungen erlitten hatten. Irgendwann beschloss sie, die Schäden zu begutachten, und begab sich zu dem, was von einem Gehweg des West Side Highway übrig geblieben war.

Sie sah riesige Balken, die in den Trümmern verbogen waren, und ein Feuerwehrauto, das wie ein Pfannkuchen plattgedrückt war. 2 oder 3 Zentimeter Staub bedeckten alles wie grauer Schnee. Und dort, wo das einst höchste Gebäude der Welt gestanden hatte, war ein riesiges Loch. Die Luft roch beißend, eine Mischung aus verbranntem Metall und brennendem Fleisch. „Ich werde diesen Geruch nie vergessen“, sagt sie.

In den darauffolgenden Jahren war Castillo, wie alle Notärzte, bei zahlreichen großen und kleinen Tragödien im Einsatz. Der Tod eines 8-jährigen Mädchens, das bei einer Schießerei aus einem fahrenden Auto heraus erschossen wurde, war besonders erschütternd und rief in ihr dieses Gefühl der Hilflosigkeit hervor. Sie litt unter Burnout und hätte beinahe die Notfallmedizin an den Nagel gehängt.

Heute ist Castillo für den Bereich Achtsamkeit in der Notaufnahme zuständig. Sie koordiniert Workshops zum Thema Wellness und half bei der Erstellung eines speziellen Arbeitsplans, der Ärzten Zeit zum Entspannen einräumt. Während der Pandemie setzte sie sich für einen sicheren Raum ein, in dem die Ärzte zusammen essen konnten.

Die Stressoren häufen sich und Ärzte brauchen einen Weg, um sie abzubauen, sagt sie. „Denn es ist ein sehr schwieriger Job, der einen körperlich und psychisch sehr belastet“, sagt sie.

Eine persönliche Verbindung herstellen

Dajer möchte, dass jeder von dieser Zahl erfährt: „99% der Menschen, die unter der Einschlagstelle [der Flugzeuge] waren, haben 9/11 überlebt.“ Sie wurden dank des heldenhaften Einsatzes von Feuerwehrleuten, Polizisten, Verkehrsbetreuern und medizinischen Notfallteams evakuiert und behandelt.

Dennoch fiel es ihm schwer, die Ereignisse dieses Tages zu verarbeiten. Dajer sehnte sich danach, mehr über die Patienten zu erfahren, die durch die Türen der Notaufnahme kamen. Ein Freund brachte ihn mit der Familie eines Mannes zusammen, der geschäftlich nach New York City gereist war und zufällig in der Nähe der Türme spazieren ging, als diese getroffen wurden. Er wurde von brennendem Kerosin und herabfallenden Trümmern getroffen.

 
99% der Menschen, die unter der Einschlagstelle [der Flugzeuge] waren, haben 9/11 überlebt. Dr. Antonio Dajer
 

Dajer besuchte den Mann auf der Intensivstation und traf seine Frau, die sich dafür bedankte, dass Dajer und seine Kollegen ihren Mann am Leben erhalten hatten. „In gewisser Weise hat sie uns geholfen zu heilen, was außergewöhnlich war“, sagt er.

Der Mann erlag etwa 3 Monate nach dem 11. September seinen Verletzungen, aber Dajer steht weiterhin in Kontakt mit der Familie. Abgesehen von den Notfallübungen und -plänen ist es das, was zählt, sagt er. „Eine Sache, die ich bedauere, ist, dass ich [in der Notaufnahme] nicht gezielt Leute dazu abgestellt habe, einfach nur die Hand eines Patienten zu halten, um ihn kennenzulernen und eine Art emotionale Bindung zu ihm aufzubauen“, sagt er.

Wenn er Ratschläge zur Katastrophenhilfe gibt, erwähnt Dajer den starken emotionalen Aspekt der medizinischen Versorgung: „Es ist immer Zeit, den Menschen die Hand zu halten.“

Dieser Artikel wurde von Ute Eppinger aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.

 

Kommentar

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