„MVZ – Der Vertragsarzt im Haifischbecken“, so betitelte die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg (KVH) ihren 3. Versorgungsforschungstag [1]. Zwar fehle die „smoking gun“ um zu belegen, dass die Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) schädlich seien und weg müssten, bedauerte Hamburgs KV-Vorstandsvorsitzender Walter Plassmann. Aber die Situation sei immerhin so schwierig, dass nun ein Moratorium her müsse, ein Aufschub.
„Wir müssen jetzt mal ‚stopp‘ sagen“, so Plassmann. Er forderte, für 3 Jahre keine neuen Krankenhaus-MVZs mehr zu genehmigen. „Dann könnte man mit der Politik die Lage analysieren. Das wäre das einzig Vernünftige“, so Plassmann. Seit Jahren werde die Grundlage des ambulanten Gesundheitssystems durch die Ausbreitung von MVZ in der Hand von Kliniken oder Finanzinvestoren von innen her aufgefressen.
Vom „pan-industriellen Paradigma“ an die Wand gedrückt
Letzteres bestätigte der Soziologe und Arzt Prof. Dr. Marcus Siebolds von der katholischen Hochschule Nordrhein Westfalen. Er stellte ganz wie Plassmann fest, dass Ärztinnen und Ärzte immer mehr vom „pan-industriellen Paradigma“, quasi an die Wand gedrückt werden. In diesem Paradigma gehe es um Effizienz, Wettbewerb und Investorengewinne. Aber Ärzte passen mit ihrer Profession da nicht hinein. Denn sie sind angetreten, im Auftrag der Gesellschaft und in persönlicher Verantwortung Kranke zu behandeln und damit „irrationale Potentiale zu kontrollieren“, also Krankheiten.
„Unser Denkstil hat aber das pan-industrielle Paradigma scheinbar alternativlos gemacht“, sagt Siebert und nennt ein Beispiel: „Wir verlieren eine ganze Generation an Ärzten, Psychotherapeuten und Pflegenden und die einzige Antwort, die uns einfällt, ist: Mehr Geld. Was ist das für eine Antwort? Müssten wir nicht vielmehr von Profession reden?“
Trend: Weniger Gemeinschaftspraxen, mehr vertragsarztgeführten MVZ
In der Tat wachse die Zahl der MVZ, so Prof. Dr. Jonas Schreyögg, wissenschaftlicher Direktor des Hamburg Center for Health Economics, in seinem Referat. Der Grund: 2015 trat das GKV Versorgungsstärkungsgesetz in Kraft, das MVZ-Gründungen erleichterte.
Seither seien rund 700 Krankenhaus-MVZs gegründet worden und rund 700 MVZ, die vertragsarztgeführt sind. Kein Wunder, denn die MVZ bieten gegenüber Berufsausübungsgemeinschaften (BAG) einige Vorteile, etwa die Vielfalt der möglichen Trägerschaft oder die Möglichkeit, so viele angestellte Ärzte einzustellen, wie man will. Auch versprechen sich MVZ-Gründer eine bessere Wettbewerbsfähigkeit oder eine höhere Einweiserbindung, wie das MVZ Survey der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) ausweist.
Zugleich ging die Zahl der Gemeinschaftspraxen seit 2015 zurück und zwar mit 662 ziemlich genau um den Wert, um den die Zahl der vertragsarztgeführten MVZ stieg (+700). Schreyögg: „Man kann hier von einer Substitution von Gemeinschaftspraxen durch MVZs sprechen.“ Das bedeute auch, dass es die Krankenhaus-MVZ sind, die für das Wachstum sorgen.
Ein weiterer Grund gibt den Krankenhaus-MVZ Auftrieb: Das MVZ-Panel 2020 des Zentralinstitut der Kassenärztlichen Versorgung (ZI) hat bei vertragsärztlich getragenen MVZ einen Überschuss von 128.000 Euro je Inhaber errechnet, bei den Krankenhaus-MVZ lag der Überschuss nur bei 3.100 Euro. Krankenhaus-MVZs sind offenbar kaum auf Überschüsse angewiesen. Sie dienen anderen Zwecken – oft vor allem als Portale für die Krankenhäuser. In den nächsten Jahren werden die Krankenhaus-MVZ denn auch die Treiber beim MVZ-Wachstum sein, prognostiziert Schreyögg. Kein Wunder, dass Plassmann ein Moratorium forderte.
Externe Investoren nur an Gewinn interessiert?
Wie sehr neben den Krankenhäusern auch Großinvestoren in die MVZ einsteigen, legte Rainer Bobsin dar, Fachautor Private Enquity im Gesundheitswesen. MVZ von Vertragsärzten erwirtschaften oft nicht genug Überschuss, um die Inhaber angemessen zu bezahlen. Unter anderem deshalb steigen externe Investoren bei den vertragsärztlich getragenen MVZ ein. Private Equity Fonds wie die NORD Holding etwa haben in Deutschland 40 Augenarztpraxen aufgekauft.
Die Fonds kaufen die Unternehmen aber nicht um der Versorgung Willen, sondern um sie Gewinn bringend weiterzuverkaufen, so Bobsin. „Es geht um den Handel mit Unternehmen.“ Zwischen Kauf und Verkauf liegen durchschnittlich nur 4,5 Jahre. Da wüssten viele Patienten nicht mehr, wem ihre Praxis eigentlich gehört.
Die Kritik wollte Markus März von den Artemis Augenkliniken nicht auf den Investoren sitzen lassen. Artemis zählt 140 Standorte in Deutschland und in der Schweiz. „Ohne uns gäbe es längst arztfreie Zonen“, betonte Merz. Auch der Vorwurf, Investoren betrieben nur lukrative Standorte, sei unhaltbar. „Wir brauchen hohe Fallzahlen, damit unser Modell funktioniert, deshalb gehen wir dahin, wo die Patienten sind, egal, ob in die Stadt oder aufs Land.“ Dass zunehmen junge Ärzte bei den MVZs in die Anstellung gingen, sei hart für die KVen aber nun mal ein „Megatrend“. „Wir werden einen starken Anstieg sehen“, so März. Im Übrigen sei dem Patienten egal, wem die Praxis gehört. Ihm gehe es um die Versorgung.
Das sah Dr. Johannes Schenkel, der ärztliche Leister der unabhängigen Patientenberatung Deutschlands, anders. „Viele Patienten haben den Eindruck, dass ökonomische Interessen das Patientenwohl überwiegen“, sagte Schenke. Namentlich die Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL). Wenn die Patienten erleben, dass immer mehr Investoren in die Versorgung drängen, kann man verstehen, dass den Patienten das IGeLn immer mehr zum Problem wird.“ Gerade die Augenärzte täten sich mit IGeL hervor. Die Arztgespräche ähnelten oft einem Verkaufsgespräch, kritisierte Schenkel.
Für ihn seien nun die KVen gefragt, resümierte Plassmann. „Wie schaffen wir es, große, teure Praxen bei der Abgabe in die Hände von niedergelassenen Ärzten zu geben und nicht an Großinvestoren zu verlieren?“, fragte der Hamburger KV-Chef. Seine Antwort: „Wir betreiben die Praxen für eine gewisse Zeit selber und geben den angestellten Ärzten die Möglichkeit, sukzessive in die Eigentümerrolle hinein zu wachsen.“
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Diesen Artikel so zitieren: Vertragsärzte im Haifischbecken: KV Hamburg will Ausbreitung von MVZ in der Hand von Kliniken oder Investoren stoppen - Medscape - 8. Sep 2021.
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