Doch unter 130 mmHg? Neuer Stoff für die Diskussion um systolische Blutdruckziele bei Älteren

Simone Reisdorf

Interessenkonflikte

3. September 2021

Der Ziel-Blutdruck für Menschen höheren Lebensalters ist weltweit unterschiedlich definiert. In China liegt die Grenze für den systolischen Blutdruck für Menschen ab 60 Jahren unter 150 mmHg und ist somit besonders weit gefasst. Hier untersuchten nun Forscher den Effekt einer sehr strikten Blutdruckkontrolle mit einem Zielkorridor von 110 bis unter 130 mmHg [1,2].

Prof. Dr. Jun Cai, Direktor des Hypertoniezentrums am FuWai-Hospital in Peking und Principal Investigator der STEP-Studie (Strategy of Blood Pressure Intervention in the Elderly Hypertensive Patients), zeigte sich beim ESC-Kongress mit dem Ergebnis zufrieden: „Eine aktive Kontrolle des systolischen Blutdrucks auf unter 130 mmHg bei älteren Hypertonikern führte im Vergleich zu unter 150 mmHg zu einer geringeren Inzidenz von schwerwiegenden kardiovaskulären Ereignissen, ohne dass Nierenschäden zugenommen hätten.“

Nur Daten von Han-Chinesen erhoben

Die Forscher hatten 8.511 Hypertonie-Patienten im Alter von 60 bis 80 Jahren aus insgesamt 42 Zentren in die Studie eingeschlossen. Das mittlere Alter betrug etwas über 66 Jahre; 3 von 4 Patienten hatten das 70. Lebensjahr noch nicht vollendet. Cai machte darauf aufmerksam, dass alle Studienteilnehmer ethnisch zur Gruppe der Han-Chinesen gehörten, die 90% der chinesischen Bevölkerung ausmacht – dies war ein Einschlusskriterium.

Zu den Ausschlusskriterien gehörten u.a. anhaltendes Vorhofflimmern, Zustand nach Schlaganfall, ein kürzlich erlebter Myokardinfarkt oder eine Koronarintervention, schwere Herzklappenfehler, unkontrollierter Diabetes mellitus, Krebserkrankungen sowie schwere Leber- oder Nierenschäden.

Die Teilnehmer wurden gleichmäßig in 2 Studienarme randomisiert, mit einem systolischen Zielwert-Korridor von 110 bis unter 130 mmHg versus 130 bis unter 150 mmHg. Um diese Ziele zu erreichen, wurden der Angiotensin-1-Rezeptor-Blocker Olmesartan, der Kalziumkanal-Blocker Almodipin und/oder das Diuretikum Hydro-Chloro-Thiazid (HCT) eingesetzt – „Strategien, die wir auch in den Leitlinien empfehlen”, lobte Prof. Dr. Bryan Williams, University College London, in der Diskussionsrunde nach der Vorstellung der Studiendaten.

Die Blutdruck-Messungen wurden in den Zentren von geschultem Personal unter Aufsicht vorgenommen und durch häusliche Blutdruck-Selbstmessungen ergänzt. In der Hälfte der Zentren wurde zur Übermittlung der Ergebnisse eine App verwendet.

Primärer Endpunkt und zahlreiche sekundäre Endpunkte verbesserten sich signifikant

Zum primäären Endpunkt gehörten folgende Ereignisse:

  • Schlaganfall (ischämisch oder hämorrhagisch),

  • akutes Koronarsyndrom (ACS; sowohl akuter Myokardinfarkt als auch Hospitalisierung wegen instabiler Angina pectoris),

  • Revaskularisierung von Koronararterien,

  • akut dekompensierte Herzinsuffizienz,

  • Vorhofflimmern sowie

  • kardiovaskulär bedingte Todesfälle.

Ereignisse, die diesem sehr umfassenden kombinierten Endpunkt entsprachen, traten in einer medianen Nachbeobachtungszeit von 3 Jahren und 4 Monaten in beiden Gruppen nicht sehr häufig auf: Sie wurden bei 147 von 4.243 Patienten in der intensiv behandelten Gruppe und bei 196 von 4.268 Patienten in der Standardtherapiegruppe beobachtet. Das entsprach einer Ereignisrate von 3,5% vs. 4,6% über die gesamte Beobachtungszeit – oder 1,0% vs. 1,4% pro Jahr.

Die Hazard Ratio (HR) für den primären Endpunkt betrug in der intensiv behandelten Gruppe 0,74. Das Risiko für den primären Endpunkt war somit um relative 26% reduziert; dies war signifikant (p = 0,007). Dieser Vorteil war konsistent in den meisten Subgruppen.

Darüber hinaus traten auch zahlreiche sekundäre Endpunkte (meist Einzelkomponenten des primären Endpunkts) in der Gruppe mit intensiver Blutdrucksenkung signifikant seltener auf, etwa Schlaganfall (-33%), ACS (- 33%), Herzinsuffizienz (-73%), schwere kardiale Ereignisse (-28%) und kardiovaskuläre Mortalität (-28%).

Keine signifikanten Unterschiede gab es bei Koronar-Revaskularisationen, beim Vorhofflimmern sowie bei der Gesamtmortalität. Der mittlere systolische Blutdruck betrug 126,7 mmHg vs. 135,9 mmHg; der Unterschied zwischen den beiden Gruppen betrug also 9,2 mmHg.

Mehr Hypotonien, aber nicht Schwindel, Synkopen oder Frakturen

Wenig überraschend kamen Hypotonien als unerwünschte Effekte in der intensiv behandelten Gruppe signifikant häufiger vor (3,4% vs. 2,6%; relatives Risiko/RR = 1,31; p = 0,03). Dies galt jedoch nicht für die häufigen Begleiterscheinungen von niedrigem Blutdruck wie Schwindel (1,1% vs. 1,1%; p = 0,70); Synkopen (0,1% vs. 0,05%; p = 0,18) und Frakturen (0,4% vs. 0,4%; p = 0,50). Zur Häufigkeit von Stürzen per se (unabhängig von Frakturen) finden sich in der Studie keine Angaben.

Unerwünschte Effekte auf die Nierenfunktion – gemessen anhand der geschätzten glomerulären Filtrationsrate (eGFR) oder an den Kreatininwerten – waren in beiden Studienarmen selten und jeweils sehr ähnlich in der Häufigkeit.

Wissenschaftler sprechen sich für strengere Blutdrucksenkungen aus

Cais Fazit: „Unsere Daten unterstreichen die Bedeutung eines niedrigeren Blutdruckziels für ältere Hypertonie-Patienten [als bisher – Red.] Wir empfehlen, dass der systolische Blutdruck bei älteren Patienten, die unter antihypertensiver Behandlung stehen, auf unter 130 mmHg gesenkt werden sollte.”

Williams gratulierte Cai zu dessen „hervorragender Studie“ mit ihren „spannenden Resultaten“. Die Übertragbarkeit auf die weltweite Population älterer Hypertonie-Patienten sei jedoch eingeschränkt: „Patienten der STEP-Studie waren jünger, fitter und gesünder als die durchschnittlichen älteren Hypertonie-Patienten, die wir in der Praxis sehen” betonte Williams. So hatten nur 2% der Patienten in der STEP-Studie eine Nierenfunktionsstörung und nur 6% kardiovaskuläre Erkrankungen, und der mittlere Ausgangsblutdruckwert (meist unter Therapie) war 146/83 mmHg.

 
Wir empfehlen, dass der systolische Blutdruck bei älteren Patienten, die unter antihypertensiver Behandlung stehen, auf unter 130 mmHg gesenkt werden sollte. Prof. Dr. Jun Cai
 

„Wenn die Menschen altern, steigt ihre biologische Heterogenität dramatisch an“, gab Williams zu bedenken. Auf die Frage „Wie tief können wir gehen – warum senken wir den Blutdruck nicht einfach auf das normale, physiologische Niveau?” müsse man antworten: „Weil die meisten unserer Hypertonie-Patienten eben keine normale Physiologie mehr haben, insbesondere, wenn sie schon älter sind.” So hätten viele Patienten beeinträchtigte Barorezeptoren, steife Arterien, atherose-bedingte kritische Organstenosen und/oder fortgeschrittene Nierenfunktionsstörungen. Deshalb sei es unerlässlich, die antihypertensive Therapie auf den jeweiligen Patienten abzustimmen, das schließe „maßgeschneiderte Blutdruckziele” ein.

Lehren für Europa

In Europa strebe man bei Hypertonie-Patienten ab 65 Jahren zunächst ein Therapieziel unter 140/90 mmHg an und wenn dies gut vertragen werde, könne man unter 130/80 mmHg versuchen – am ehesten bei aktiven, weniger gebrechlichen Patienten. Noch niedrigere Ziele als 130 mmHg würde man eher nicht empfehlen.

 
Die Kernaussage dieser Studie ist für mich, dass wir bei der älteren Bevölkerung niedriger gehen können (…). Prof. Dr. Bryan Williams
 

Williams’ Schlusswort zur STEP-Studie war jedoch positiv: „Es besteht kein Zweifel, dass die intensivierte Behandlung kardiovaskuläre Ereignisse drastisch reduzierte und gut vertragen wurde, was bei älteren Patienten ein wichtiger Aspekt ist. […] Die Kernaussage dieser Studie ist für mich, dass wir bei der älteren Bevölkerung niedriger gehen können und wir diesen Patienten nicht die Möglichkeit verweigern sollten, bei der Behandlung für niedrigere Blutdruckwerte in Betracht gezogen zu werden, da dies im Vergleich zu herkömmlichen einen zusätzlichen Nutzen bringen kann.“
 

Kommentar

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