Eineinhalb Jahre COVID-19-Pandemie haben Spuren hinterlassen. Immer wieder tauchen Berichte über dramatische Folgen der Pandemie bzw. der Eindämmungsmaßnahmen auf: Die Zahl psychischer Störungen bei Minderjährigen steige rasant, die Kinder und Jugendlichen könnten nicht versorgt werden. Angststörungen, Depressionen und Essstörungen nähmen stark zu.
Doch wie sieht es tatsächlich aus? Welche Gruppen leiden besonders stark unter den Pandemie-Folgen? Darüber informierten Experten der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) und des Berufsverbandes für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (BKJPP) auf einem gemeinsamen Symposium und stellten Daten zur psychischen Gesundheit junger Menschen und zur kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgungslage vor [1].
Besonders litten Kinder in schwierigen häuslichen Verhältnissen
Kinder und Jugendliche sind und waren in der Pandemie Kontaktbeschränkungen, Schulschließungen, Maskenpflicht und Distanzunterricht konfrontiert: „Wobei diejenigen, die schon vor der Pandemie in einer schwierigen häuslichen Situation waren, besonders unter den Kontaktbeschränkungen gelitten haben. Kinder, bei denen das nicht der Fall war, haben auch die Kontaktbeschränkungen in der Regel gut gemeistert“, berichtete Prof. Dr. Marcel Romanos, stellvertretender Vorsitzender der DGKJP.
Auch beim Homeschooling habe sich herausgestellt, dass Kinder mit Vorbelastung in der Familie und Kinder, die schon vor der Pandemie Schwierigkeiten in der Schule hatten, stärker darunter litten, nicht in die Schule gehen zu können. Zumal Studien gezeigt haben, dass über Homeschooling nur ein Teil der Beschulung – zwischen 50 und 60% – stattfinden konnte.
Zu Hause waren die Kinder unter Druck, die bereits vor der Pandemie häusliche Gewalt erlebt hatten und auch Kinder, deren Eltern aufgrund der Pandemie finanzielle Sorgen hatten oder ihren Arbeitsplatz verloren. „Es hat eine deutliche Zunahme von Herausnahmen aus Familien aufgrund von Kindeswohlgefährdung gegeben“, berichtete Romanos. Viele Jugendämter handelten dabei auch aus Sorge, weil der Einblick in die Familien durch die Pandemie nicht mehr möglich war.
Direkte Auswirkungen von COVID-19 zu wenig beachtet
Zu wenig berücksichtigt werde, dass COVID-19 sich auch ganz direkt auf Kinder und Jugendliche ausgewirkt habe, sagt Romanos. „Auch wenn die Krankheit bei Kindern in der Regel deutlich milder verläuft – in den USA sind bislang mehr als 1.000 Kinder an COVID-19 gestorben.“ Kinder bekämen zudem mit, wenn Verwandte an COVID-19 erkrankt sind, wenn Großeltern nicht umarmt werden dürfen; wenn Verwandte beatmet werden müssen oder an COVID-19 sterben. „Das ruft Ängste hervor, … das sind Belastungsfaktoren, die alle Kinder gleichermaßen betreffen können.“
Epidemiologische Daten zeigen, dass sich die Pandemie direkt auf die Lebensqualität ausgewirkt und zu einer Zunahme psychischer Auffälligkeiten geführt hat. Über eine verminderte Lebensqualität berichteten vor der Pandemie 3 von 10 Kinder und Jugendliche der BELLA-Studie (dem Modul zur psychischen Gesundheit der KiGGS-Studie). In der Studie wurden ca. 3.000 Kinder und Jugendliche im Alter von 7 bis 17 Jahren befragt.
Nach dem ersten Lockdown wuchs dieser Anteil auf 6 von 10 Kinder und Jugendliche und stieg dann weiter auf 7 von 10 an, wie die Hamburger COPSY-Studie zeigt, in der zwischen Mai und Juni 2020 mehr als 1.000 11 bis 17-jährige Kinder und Jugendliche online befragt wurden.
Wie Romanos berichtete, zeigten vor der Pandemie 2 von 10 Kindern psychische Auffälligkeiten. In der Pandemie stieg die Zahl der psychisch auffälligen Kinder auf 3 von 10 Kindern. „Zugenommen haben vor allem Angststörungen und Depressionen“, berichtete Romanos. Allerdings erlaube der eingesetzte Fragebogen der KiGGS-Studie (Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland) keinen Aufschluss über tatsächlich erkrankte Kinder, er zeige eher Risikoprofile.
Als Faustregel gelte, dass die Hälfte der Kinder mit psychischen Auffälligkeiten dann auch tatsächlich eine klinisch behandlungsbedürftige psychische Störung aufweise.
Vor allem Risikogruppen durch die Pandemie belastet
Sozial benachteiligte Familien, Alleinerziehende, Kinder mit Migrationshintergrund, Familien mit psychischen Erkrankungen, Kinder mit Behinderungen und Mädchen (weibliches Geschlecht gerät in der Pandemie stärker unter emotionalen Druck) sind und waren durch die Pandemie stärker belastet. „Und das sind genau die Gruppen, um die wir uns in der Kinder- und Jugendpsychiatrie schon vor der Pandemie gekümmert haben“, sagte Romanos.
„Als Kinder- und Jugendpsychiater freue ich mich, dass die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen durch die Pandemie jetzt so im Fokus steht, ich hätte mir aber gewünscht, dass dies in gleichem Ausmaß schon vor der Pandemie passiert wäre – denn die Probleme haben schon vorher bestanden“, fügte er hinzu. Die beobachteten Veränderungen beträfen vor allem Risikogruppen.
Es gebe aber keine Grundlage dafür, von einer „Lost Generation“ zu sprechen: „Kinder sind anpassungsfähig, sie können auch schwierigste Situationen meistern“, sagte Romanos.
Auch Prof. Dr. Michael Kölch, Präsident der DGKJP, wies darauf hin, dass viele Kinder und Jugendliche die Bezeichnung „Corona-Generation“ als extrem unangebracht empfänden und sich dagegen verwahrten: „Mit einer solchen Bezeichnung wird ausgeblendet, dass Herausforderungen auch meisterbar sind. Kinder und Jugendliche haben trotz der Pandemie gelernt, sie haben sich engagiert, etwas erreicht“, sagte Kölch.
Romanos betonte, dass es wichtig sei, genau hinzuschauen und Überforderungen der Kinder zu vermeiden: „Beispiel Wiedereinstieg in den Schulbetrieb: Wir können nicht erwarten, dass gerade die Kinder, die die größten Schwierigkeiten hatten, nun in der Lage sein werden, alles wieder aufzuholen“, sagte Romanos und warnte davor, Druck aufzubauen.
Kein dramatischer Ansturm auf die Praxen
Auch wenn sich die Pandemie auf die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung niedergeschlagen hat – es kam offenbar weder zu einem dramatischen Ansturm auf die Praxen, noch zu einer gravierenden Unterversorgung, so Dr. Gundolf Berg, Vorsitzender des BKJPP.
Berg präsentierte KBV-Versorgungsdaten aus der ambulanten Versorgungslandschaft 2020. Die Daten zeigen, dass im 2. Quartal 2020 deutlich weniger Diagnosen gestellt wurden (-11,1%). Das lag laut Berg daran, dass nach den Schulschließungen zunächst über 2 Wochen deutlich weniger Patienten in die Praxen kamen. Eine Entwicklung, die sich auch in anderen Fachbereichen gezeigt habe. Im 3. Quartal 2020 wurden – verglichen mit dem Vorjahr – 1% mehr Diagnosen gestellt: „Das ist im Rahmen der normalen Schwankungsbreite. Man kann da nicht von einer dramatischen Zunahme reden“, stellte Berg klar. Im 4. Quartal nahm die Zahl der Diagnosen leicht ab (-0,3%).
Betrachte man die einzelnen Diagnosen, sei allerdings eine Verschiebung festzustellen. Vor allem Ängste und Depressionen spielen eine große Rolle. Bei den phobischen Störungen und bei den Angststörungen kam es im 3. und 4. Quartal zu einer deutlichen Zunahme: +7,44% bzw. +13,50% und +6,8% bzw. +10,42%.
Auch die Diagnose Zwangsstörungen nahm in den beiden Quartalen zu: +8,34% bzw. +11,32%. Die Daten belegten Veränderungen der Diagnosehäufigkeiten hin zu mehr internalisierten Störungsbildern, sie zeigen aber keine absolute Zunahme der kompletten Zahl von Diagnosen bis Ende 2020. „Die Zahl der Diagnosen ist nicht deutlich gestiegen, wir werden im Blick behalten müssen, wie sich das weiterentwickelt“, schloss Berg.
Kinderpsychiater rechnen mit Nachholbedarf
„Corona ist nur das Brennglas – das zentrale Thema der Kindergesundheit war schon vor Corona die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen“, betonte Kölch. Er erinnerte daran, dass psychische Störungen bereits vor der Pandemie zu den häufigsten Gründen für einen Klinikaufenthalt von Kindern und Jugendlichen zählten.
Die Versorgungsstruktur sei aber sehr heterogen und regional unterschiedlich (3,49 Betten pro 1.000 Menschen unter 18 Jahre in Bayern, 10,64 Betten in Sachsen). Angesichts dessen habe die Auslastung schon vor der Pandemie meist über 90% gelegen.
Krankenkassen-Daten zeigten, dass es 2020 über 4 Millionen Behandlungstage weniger im stationären psychiatrischen Bereich gab, ein Minus von 12%. Kölch führt das auf das Freihalten von Corona-Kapazitäten in der 1. Welle, auf die Umsetzung von Hygienekonzepten und auch auf die Schulschließungen zurück. „In der Schule fallen psychische Erkrankungen wie ADHS oder Störungen des Sozialverhaltens auf. Sind die Schulen geschlossen, entfällt dieser Behandlungsgrund.“
Kölch und Kollegen rechnen mit Nachholbedarf bei den kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungen. Der setze sich aus den nicht-behandelten Patienten während des Lockdowns, aus dem zusätzlichen Bedarf aufgrund der Pandemie-Belastungen und aus der Grundrate der Inanspruchnahme der Kinder- und Jugendpsychiatrie zusammen. „Wir erwarten deshalb für 2021 und 2022 einen weiteren erheblichen Versorgungsbedarf – ohne dass damit nun ein dramatischer Anstieg der psychischen Störungen verbunden wäre“, bilanzierte Kölch.
Seiner Einschätzung nach hat die ambulante und stationäre Versorgung auch während der Pandemie funktioniert, doch COVID-19 habe auch die Schwächen des Systems aufgedeckt: Die starren Versorgungsstrukturen, die fehlende Digitalisierung und ein zu stark leistungsorientiertes System, das Innovation und Flexibilität eher verhindere. Auch unter und nach der Pandemie blieben die Forderungen des Psychiatrie-Dialogs gültig:
eine bessere Kooperation zwischen Praxen und zwischen Praxen und Kliniken
eine Veränderung des inverse care law („inverse care law“ heißt: Die meisten Psychiater und KJP sind dort angesiedelt, wo es Kinder und Jugendlichen anhand ihrer Schichtmerkmale am wenigsten nötig haben)
eine Flexibilisierung in der Versorgung zumindest für die nächsten Jahre mit niedrigschwelligen Abklärungsmöglichkeiten
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Diesen Artikel so zitieren: Trotzt allem keine „Lost Generation“: Die Auswirkungen der Pandemie auf die psychische Gesundheit von Kindern - Medscape - 2. Sep 2021.
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