Der Herbst naht – und damit die Frage: Wer braucht bei SARS-CoV-2 den „Booster Shot“?

Michael van den Heuvel

Interessenkonflikte

2. September 2021

Corona-Newsblog: Update vom 2. September 2021

Neue Zahlen vom RKI: Die 7-Tage-Inzidenz steigt weiter und liegt aktuell bei 76,9 Infektionen pro 100.000 Einwohner. Vor einer Woche lag der Wert bei 66,0. Innerhalb der letzten 24 Stunden meldeten Gesundheitsämter weitere 13.715 Infektionen (Vorwoche: 12.626). Im gleichen Zeitraum kam es zu weiteren 33 Todesfällen durch COVID-19 (Vorwoche: 21 Todesfälle).

  • DIVI: Mehr jüngere Patienten auf Intensivstationen

  • Wissenschaftliche und politische Kontroversen: Brauchen wir die 3. Dosis?

  • WHO: Länder sollen Impfstoffe teilen

  • ECDC und EMA: Keine generelle Empfehlung für Drittimpfung

  • Nachlassende Kreuzimmunität – ein weiteres Argument für Drittimpfungen

  • Mehr Impfdurchbrüche bei multimorbiden Senioren

DIVI: Mehr jüngere Patienten auf Intensivstationen

„Das durchschnittliche Alter liegt inzwischen bei knapp über 30 Jahren und praktisch alle Corona-Intensivpatientinnen und ‑patienten sind ungeimpft und/oder immun­supprimiert“, erklärt Prof. Dr. Bernd Böttiger gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Er ist Schatzmeister der DIVI und Direktor der Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin an der Uniklinik Köln.

Böttiger weiter: „Jetzt sind sie deutlich jünger, was auch dazu führt, dass sie länger auf den Intensivstationen liegen.“ Die längere Verweildauer könne zu einer erheblichen Belastung des Gesundheitswesens führen.

„Eine solche Entwicklung wird sich jedoch erst mit zeitlichem Verzug zeigen“, gibt er zu bedenken. „Denn wir wissen, dass die intensivmedizinische Belegung erst zwei bis drei Wochen nach der 7-Tage-Inzidenz ansteigt.“  

Wissenschaftliche und politische Kontroversen: Brauchen wir die 3. Dosis?

Angesichts der Entwicklung werden Forderungen nach einer Auffrischungsimpfung im Herbst oder Winter laut. Studien aus Israel hatten gezeigt, dass es aufgrund von Delta bei Geimpften zu Durchbruchsinfektionen kommen kann. Das Vakzin schützte dennoch vor schwerem COVID-19.

Für Deutschland hatte Prof. Dr. Christian Drosten von der Charité Berlin kürzlich erklärt, die Schutzwirkung der Corona-Impfstoffe sei viel besser als beispielsweise bei den Influenza-Impfstoffen. Dennoch gibt er zu bedenken: „Nach einem halben Jahr geht das über die Impfung erworbene Antikörper-Level vor allem bei sehr alten Menschen deutlich runter.“ Eine weitere Ausnahme kommt von der Charité selbst. Angestellte, die mindestens 60 Jahre alt sind, vor mindestens 6 Monaten ihre 2. Dosis erhalten haben und die in COVID-19-Risikobereichen arbeiten, bekommen jetzt eine 3. Dosis.

Zulassungen für diese Indikation stehen noch aus; BioNTech/Pfizer hatten zuletzt Daten bei verschiedenen Arzneimittelbehörden eingereicht. Prof. Dr. Carsten Watzl von der TU Dortmund hält aufgrund des Nebenwirkungsprofils mRNA-Impfstoffe für geeigneter als Vektorvirus-Vakzine.

KBV-Chef Andreas Gassen sagte, er hoffe, die Ständige Impfkommission werde „relativ zeitnah“ eine entsprechende Empfehlung formulieren. Die KBV gehe aber davon aus, dass Auffrischimpfungen für alle Menschen sinnvoll seien, die eine schwächere Immunantwort auf die Impfung hatten und deshalb „möglicherweise auch eine abfallende Impfwirkung“.

Aus Berlin meldete sich Prof. Dr. Karl Lauterbach zu Wort. Die Politik müsse „jetzt eine klare Ansage machen, welche Gruppen bei den Auffrischungsimpfungen zuerst an der Reihe sind“, erklärte der SPD-Gesundheitsexperte. „Es muss klar sein, um welche Jahrgänge es sich handelt und bei welchen Risikofaktoren eine dritte Impfung angezeigt ist.“ Wichtig sei aber auch, zu klären, wer warten müsse.

WHO: Länder sollen Impfstoffe teilen

Scharfe Töne kommen von der Weltgesundheitsorganisation. Bislang sei nicht einmal klar, ob sie nötig seien, sagte Soumya Swaminathan, leitende Wissenschaftlerin der WHO. Sie kritisierte, während reiche Länder große Mengen Impfstoff hätten, würden weltweit in Dutzenden Ländern viele Millionen Menschen noch auf die Chance einer Impfung warten. Und der WHO-Nothilfekoordinator Mike Ryan betonte, Menschen eine Auffrischimpfung anzubieten sei so, als gebe man Menschen mit Rettungswesten noch eine weitere Weste dazu, während viele Millionen Menschen ohne jeglichen Schutz bleiben müssten.

Dazu ein paar Zahlen: Das Independent Panel on Pandemic Preparedness and Response (IPPPR) empfiehlt Ländern mit hohem Einkommen, dafür zu sorgen, dass bis zum 1. September mindestens 1 Milliarde Dosen an 92 Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen verteilt werden, und bis Mitte 2022 eine 1 Milliarde Dosen. Bislang seien lediglich 99 Millionen Dosis-Spenden über COVAX versandt wurden, von denen nur 89 Millionen an die 92 Länder mit Vorabmarktverpflichtung geliefert wurden, heißt es im report. Länder mit hohem Einkommen hätten mehr als doppelt so viele Dosen bestellt, wie für ihre Bevölkerung benötigt werde.

ECDC und EMA: Keine generelle Empfehlung für Drittimpfung

Laut eines vom European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) veröffentlichten technischen Berichts bestehe nach derzeitigem Kenntnisstand kein dringender Bedarf für die Verabreichung von Auffrischungsimpfungen für alle vollständig geimpften Menschen. Zusätzliche Dosen sollten für Menschen mit stark geschwächtem Immunsystem in Betracht gezogen werden.

„Erkenntnisse über die Wirksamkeit und die Dauer des Impfschutzes zeigen, dass alle in der EU/im EWR zugelassenen Impfstoffe derzeit einen hohen Schutz vor COVID-19-bedingten Krankenhausaufenthalten, schweren Erkrankungen und Todesfällen bieten, während etwa 1 von 3 Erwachsenen in der EU/im EWR über 18 Jahren derzeit noch nicht vollständig geimpft ist“, schreibt das ECDC. „In dieser Situation sollte die Priorität nun darin bestehen, alle in Frage kommenden Personen zu impfen, die ihre empfohlene Impfung noch nicht abgeschlossen haben.“ Ergänzende Maßnahmen wie Abstandsregeln, Hygiene oder eine Maskenpflicht seien weiterhin von Bedeutung.

„Es ist wichtig, zwischen Auffrischungsdosen für Menschen mit normalem Immunsystem und zusätzlichen Dosen für Menschen mit geschwächtem Immunsystem zu unterscheiden“, heißt es weiter. Einige Studien zeigen, dass eine zusätzliche Impfstoffdosis die Immunreaktion bei immungeschwächten Personen verbessern kann, z.B. bei Empfängern von Organtransplantaten, deren anfängliches Ansprechen auf die Impfung gering war. In solchen Fällen sollte die Möglichkeit der Verabreichung einer zusätzlichen Dosis bereits jetzt in Betracht gezogen werden. Auch könnte in Erwägung gezogen werden, älteren gebrechlichen Personen, insbesondere solchen, die in geschlossenen Einrichtungen leben, wie z.B. Bewohner von Langzeitpflegeeinrichtungen, vorsorglich eine zusätzliche Dosis zu verabreichen.

Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) wertet derzeit Daten über zusätzliche Dosen aus und wird prüfen, ob eine Aktualisierung der Produktinformationen angebracht ist. Die EMA wird auch die Daten zu Auffrischungsdosen bewerten.

Nachlassende Kreuzimmunität – ein weiteres Argument für Drittimpfungen

Neue Antworten zum Benefit des „Booster Shots“ kommen aus der Wissenschaft. Gedächtnis-Immunzellen, die nach Infekten mit harmlosen Erkältungs-Coronaviren gebildet werden, verbessern die Immunreaktion gegen SARS-CoV-2. Diese „Kreuzimmunität“ nimmt mit zunehmendem Alter ab. Senioren brauchen eher den „Booster-Shot“.

Für ihre Studie rekrutierten die Wissenschaftler ab Mitte 2020 rund 800 Menschen ohne vorherige Infektion mit SARS-CoV-2. Im Laufe der Studie infizierten sich 17 Probanden mit dem Virus. Bei ihnen wurden T-Helferzellen, welche der Körper gegen endemische Erkältungscoronaviren gebildet hatte, auch gegen SARS-CoV-2 mobilisierte. Außerdem fiel die Immunantwort gegen SARS-CoV-2 qualitativ umso besser aus, je mehr dieser kreuzreagierenden Zellen vor der Infektion vorhanden waren. Zielstruktur ist ein sogenannter hochkonservierter Bereich im Spikeprotein, der sowohl in Corona-Erkältungsviren als auch in SARS-CoV-2 zu finden ist.

„Bei Erkältungen mit harmloseren Coronaviren baut das Immunsystem also eine Art universelles, schützendes Coronavirus-Gedächtnis auf“, sagt Dr. Claudia Giesecke-Thiel vom Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik. Sie ist leitende Autorin der Studie. Giesecke-Thiel weiter: „Wenn es nun mit SARS-CoV-2 in Kontakt kommt, werden solche Gedächtniszellen wieder aktiviert und greifen nun auch den neuen Erreger an. Das könnte zu einer schnelleren Immunantwort gegen SARS-CoV-2 beitragen, die einer ungehinderten Ausbreitung des Virus im Körper zu Beginn der Infektion entgegensteht und so den Verlauf der Erkrankung vermutlich günstig beeinflusst.“ Eine Impfung sei aber dennoch wichtig.

Das zeigen auch Resultate des 2. Teils der Studie mit rund 570 gesunden Teilnehmern. Sowohl der Titer kreuzreagierender T-Zellen als auch ihre Bindungsstärke war bei älteren Probanden geringer als bei jüngeren. „Eine 3. Auffrischungsimpfung könnte in dieser stärker gefährdeten Bevölkerungsgruppe die schwächere Immunantwort vermutlich ausgleichen und für einen ausreichenden Impfschutz sorgen“, so der Koautor Prof. Dr. Andreas Thiel von der Charité.

Mehr Impfdurchbrüche bei multimorbiden Senioren

Britische Forscher bestätigen diese Erkenntnis jetzt mit einer epidemiologischen Studie. Sie haben zwischen 8. Dezember 2020 und 4. Juli 2021 Daten von Geimpften ausgewertet. Dabei handelte es sich um Selbstauskünfte via ZOE-App.

Von mehr als 1,2 Millionen Erwachsenen, die mindestens 1 Dosis BNT162b2 (BioNTech/Pfizer), ChAdOx1 nCoV-19 (AstraZeneca) oder mRNA-1273 (Moderna) erhalten hatten, meldeten weniger als 0,5% eine Durchbruchsinfektion. Dies bezog sich auf den Zeitraum von mindestens 14 Tagen nach der 1. Dosis. In Zahlen handelte es sich um 6.030 Fälle bei 1.240.009 ersten Impfstoffdosen.

In der Gruppe mit 2 Impfstoffdosen kam es bei weniger als 0,2% der Personen (2.370 positive Fälle nach 971.504 zweiten Impfstoffdosen) zu Durchbruchsinfektionen. Erfasst wurden Fälle am dem 7. Tag nach der 2. Dosis.

Forscher fanden auch heraus, dass die Wahrscheinlichkeit einer Krankenhauseinweisung nach 1 oder 2 Dosen um etwa 70% und die Wahrscheinlichkeit einer schweren Erkrankung – definiert als 5 oder mehr Symptome in der ersten Krankheitswoche – um etwa ein Drittel gesenkt wurde. Darüber hinaus wurde die Wahrscheinlichkeit von Long-COVID nach 2 Dosen um 50% reduziert.

Bei multimorbiden Erwachsenen über 60 Jahren war die Wahrscheinlichkeit einer Durchbruchsinfektion nach einer Impfstoffdosis fast doppelt so hoch wie bei gesunden älteren Erwachsenen. Darüber hinaus waren bei älteren Erwachsenen, die zwar ihre 1., aber nicht ihre 2. Impfdosis erhalten hatten, Nieren-, Herz- und Lungenerkrankungen wichtige Grunderkrankungen, die mit einer Durchbruchsinfektion in Verbindung gebracht wurden.

„Das erhöhte Risiko von Durchbruchsinfektionen für gebrechliche, ältere Erwachsene – insbesondere für diejenigen, die in Pflegeheimen leben oder häufig medizinische Einrichtungen aufsuchen … spiegelt wider, was wir während der gesamten Pandemie beobachtet haben“, sagt die Koautorin Dr. Rose Penfold vom King's College, London. „Gesundheitspolitische Maßnahmen zur Verhinderung von Infektionen, einschließlich Maßnahmen zur zeitlichen Abstimmung zwischen der 1. und der 2. Dosis sowie möglichen Auffrischungsimpfungen, sollten bei ihnen Vorrang haben.“

 

Kommentar

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