Doppelte Inkretin-Power gegen Typ-2-Diabetes: Tirzepatid senkt Blutzucker und Gewicht besser als Semaglutid

Dr. Angela Speth

Interessenkonflikte

26. August 2021

Doppelte Kraft gegen Typ-2-Diabetes: Mit Tirzepatid könnten Ärzte bald erstmals ein Medikament an die Hand bekommen, das 2 Inkretin-Mimetika vereint. Auch würden sie damit an 2 Schalthebeln der Erkrankung ansetzen: dem Blutzucker und dem Körpergewicht. Wie eine Head-to-Head-Studie zeigt, gelingt eine Reduktion beider Risikofaktoren effektiver als z.B. mit Semaglutid, das nur ein einzelnes Inkretin imitiert. Die Studie erschien im New England Journal of Medicine und wurde auf dem Kongress der American Diabetes Association vorgestellt [1,2].

Prognosen zufolge steigt die Zahl der Patienten mit Diabetes – fast durchweg Typ 2 – bis zur Jahrhundertmitte weltweit von jetzt rund 470 auf 700 Millionen, am stärksten in ärmeren Ländern. In diesem Szenario erscheint Tirzepatid als Hoffnungsträger, je mehr Erkenntnisse aus dem umfangreichen Phase-3-Programm SURPASS publik werden. Nicht von ungefähr verorten Analysten in dem Kandidaten eine der aktuell wertvollsten Pharma-Entwicklungen. So attestiert ihm das Londoner Marktforschungsinstitut Evaluate einen Kapitalwert von rund 12 Milliarden Dollar.

 
Der Wirkstoff ist tatsächlich vielversprechend. Denn der Glukosespiegel ging damit sogar stärker zurück als mit dem effizienten und gut etablierten Semaglutid. Prof. Dr. Baptist Gallwitz
 

Die kürzlich veröffentlichte SURPASS-2-Studie setzt die Erfolgsserie offensichtlich fort. „Der Wirkstoff ist tatsächlich vielversprechend. Denn der Glukosespiegel ging damit sogar stärker zurück als mit dem effizienten und gut etablierten Semaglutid. Zudem verlieren die Patienten klinisch bedeutsam an Gewicht – und all das bei guter Verträglichkeit.“ Diese Einschätzung gibt Prof. Dr. Baptist Gallwitz, Stellvertretender Ärztlicher Direktor am Universitätsklinikum Tübingen und Pressesprecher der Deutschen Diabetes Gesellschaft, auf Nachfrage von Medscape. Konkurrenten wie Insulin degludec und Insulin glargin hat Tirzepatid ebenfalls bereits um Längen geschlagen.

2 Darmhormone als Vorbilder

Seine Fähigkeiten verleiht ihm der duale Wirkmechanismus. Wie Gallwitz erläutert, kann das Molekül sowohl die Rezeptoren von GLP-1 (Glucagon-Like Peptid-1) als auch von GIP (Glukoseabhängiges Insulinotropes Polypeptid) stimulieren.

Das bedeutet: Wie das in den L-Zellen von Ileum und Kolon produzierte GLP-1 schützt Tirzepatid vor Überzuckerung: Es regt die Sekretion von Insulin an und unterdrückt zugleich Glukagon.

Und wie das in den K-Zellen von Zwölffingerdarm und Jejunum gebildete GIP fördert es die Ausschüttung von Insulin bei Hyperglykämien. Zusätzlich arbeitet Tirzepatid mit dieser Komponente gegen eine Unterzuckerung, indem es Glukagon bei hohem Glukosespiegel drosselt, bei sinkenden Werten aber angekurbelt.

 
Diese innovative Kombination hebt Inkretin-Therapeutika auf eine neue Ebene. Prof. Dr. Katherine R. Tuttle
 

Beide Anteile erschweren Fetteinlagerungen ins Gewebe, verzögern die Magenentleerung und dämpfen den Appetit. „Diese innovative Kombination hebt Inkretin-Therapeutika auf eine neue Ebene“, lobt Prof. Dr. Katherine R. Tuttle von der Universität Washington im Editorial [3].

Einschleichphase zur Prävention von Durchfall und Übelkeit

Wie Tirzepatid im Vergleich zum selektiven GLP-1-Agonisten Semaglutid abschneidet, haben Dr. Juan Pablo Frías, Direktor des National Research Institute in Los Angeles, USA, und seine Kollegen geklärt. Unterstützt vom Hersteller Eli Lilly, nahmen sie an 128 Standorten in Nord- und Südamerika, Australien, Israel und Großbritannien knapp 1.900 Patienten mit Typ-2-Diabetes auf. Alle hatten Übergewicht – mehr als 2 Drittel sogar einen BMI über 30 – und trotz Metformin-Therapie zu hohe Blutzuckerwerte.

Randomisiert in 4 Gruppen gleicher Größe, erhielten sie nun zusätzlich jede Woche eine subkutane Injektion von 5 mg, 10 mg oder 15 mg Tirzepatid bzw. 1 mg Semaglutid – allerdings nicht gleich in vollem Umfang. Denn um die gastrointestinalen Nebenwirkungen zu minimieren, wurde die Dosis anfangs langsam gesteigert. Die Kehrseite dieser Vorsichtsmaßnahme: Eine Verblindung war nicht möglich und die Therapie mit der höchsten Tirzepatid-Menge dauerte nur relativ kurz, nämlich 16 von insgesamt 40 Wochen Behandlung.

Die Auswertung ergab: Mit dem Doppel-Agonist war der HbA1c im Mittel von anfangs 8,3% um 2, um 2,2 und um 2,3 Prozentpunkte gesunken. Semaglutid konnte mit nur 1,9 Prozentpunkten nicht mithalten, ebenso wenig bei der Besserung von Blutdruck und Lipidprofil, Insulinsensitivität und Leberenzymen.

 
Die Gewichtsabnahme fällt individuell recht unterschiedlich aus, die Streuung ist breiter als beim Blutzucker. Prof. Dr. Baptist Gallwitz
 

Tirzepatid überzeugte außerdem in punkto Körpergewicht: Von median 94 kg hatten die Patienten bis zu 11,2 kg abgenommen und selbst noch am Studienende wies die Kurve weiter nach unten. Der Wert für Semaglutid: mit 5,7 kg halb so viel.

Antidiabetika auch für die Indikation Übergewicht?

„Die Gewichtsreduktion ist eklatant“, bestätigt Gallwitz. „Aber ein direkter Vergleich mit Semaglutid wäre hier unfair, weil dessen Dosis ja deutlich niedriger lag.“ So wurden in einer Studie zum diätetischen Potential des GLP-1-Agonisten wöchentliche Injektionen von 2,4 mg gewählt. Damit nahmen die Teilnehmer – alle zu dick, aber ohne Diabetes – über gut ein Jahr 15,3 kg ab, mit Placebo bloß 2,6 kg.

Tirzepatid wird derzeit ebenfalls bei Adipositas allein geprüft. Anmerkung von Gallwitz: „Die Gewichtsabnahme fällt individuell recht unterschiedlich aus, die Streuung ist breiter als beim Blutzucker.“

Nach Angaben von Frías und Kollegen berichtete bis zu einem Fünftel der Patienten über Durchfall, Erbrechen und Übelkeit. Damit dominierten diese Beschwerden zwar nach wie vor die Liste der unerwünschten Ereignisse, waren aber überwiegend leicht bis moderat und mit Tirzepatid kaum häufiger als mit der Vergleichssubstanz. Und immerhin traten sie seltener auf als in der Phase-2-Studie, wo die Eskalation mit höherer Einstiegsdosis und in schnelleren Schritten erfolgt war. Hypoglykämien kamen mit höchstens 1,7% generell relativ selten vor.

Einige Teilnehmer starben an COVID-19

Insgesamt starben 13 Patienten, davon 12 in den Tirzepatid-Gruppen. Keinen Todesfall jedoch lastete ein externes Ärztekomitee, das alle überprüfte, der Medikation an, sondern bescheinigte als Ursache entweder COVID-19 oder eine Herz-Kreislauf-Erkrankung.

Die Forscher ziehen Bilanz: „Mit Tirzepatid erreichte fast die Hälfte der Hochdosis-Patienten HbA1c-Werte unter 5,7%, ohne gehäuft Hypoglykämien zu entwickeln. Ein solches Resultat galt bisher als unrealistisch.“ Mit Semaglutid dagegen war nur ein Fünftel der Teilnehmer in den Normoglykämie-Bereich gelangt.

Warten auf Ergebnisse zum Herz- und Gefäßschutz

Gallwitz rechnet damit, dass der Zulassungsantrag demnächst bei der FDA eingehen und die Bewilligung dann bis Anfang 2023 vorliegen wird, in Europa etwas zeitversetzt. Anschließend stehe die Aufnahme des Antidiabetikums in die Leitlinien an, jedoch wohl zunächst noch nicht als erste Wahl.

 
Mit Tirzepatid erreichte fast die Hälfte der Hochdosis-Patienten HbA1c-Werte unter 5,7%, ohne gehäuft Hypoglykämien zu entwickeln. Ein solches Resultat galt bisher als unrealistisch. Dr. Juan Pablo Frías und Kollegen
 

Wäre das nicht bei den günstigen Daten eigentlich angemessen? „Für eine solche Platzierung müsste noch ein kardiovaskulärer Schutz nachgewiesen sein, wie das für andere Inkretin-Mimetika bereits geschehen ist“, erläutert der Diabetologe. Die relevante Studie SURPASS-CVOT jedoch, in der Tirzepatid mit dem nachweislich kardioprotektiven Dulaglutid verglichen wird, läuft noch bis Oktober 2024.

Keine repräsentative Auswahl der Teilnehmer

Tuttle macht noch einen grundsätzlichen Einwand gegen SURPASS-2 geltend: Teilnehmer dunkler Hautfarbe waren mit 4% unterrepräsentiert – dabei machen sie in den USA rund 13% der Menschen mit Diabetes aus. Umgekehrt sei es unausgewogen, dass mehr als 2 Drittel hispanischer Herkunft waren – wegen der vielen Studienzentren in Lateinamerika.

„Ethnische Gruppierung, Region, Geschlecht und Alter müssten repräsentativer abgebildet werden. Vielfalt ist zentral, wenn man Gleichberechtigung fördern und therapeutische Fortschritte in der breiten Bevölkerung umsetzen will“, betont die Editorin.
 

Kommentar

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