Der Startschuss fiel kurz nach dem Krieg – die faszinierende Geschichte des deutschen Neurologen und Erfinders der Paralympics

Astrid Viciano 

Interessenkonflikte

24. August 2021

Nur 2 Wochen nach den Olympischen Spielen finden traditionell die Paralympics statt. Haben Sie gewusst, dass die Spiele, die für behinderte Sportler und Sportlerinnen dieses Jahr in Tokyo vom 24. August bis 5.September veranstaltet werden, ein deutscher Neurologe erfunden hat? 1948 organisierte er zum ersten Mal eine solche Sportveranstaltung in England. Lesen sie hier die ungewöhnliche Geschichte seiner medizinischen Karriere und seiner Vision, wie Bewegung Leben rettet:

Die Revolution in der Neurologie begann mit einer Flucht. Der deutsch-jüdische Mediziner Prof. Dr. Ludwig Guttmann entkam im Jahr 1939 den Nationalsozialisten, gerade noch rechtzeitig, mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Kindern.

In England, seiner neuen Heimat, übernahm Guttmann zunächst eine Stelle als gewöhnlicher Forschungsassistent am Radcliff Infirmary, einem Krankenhaus in Oxford. Dass Guttmann bald die Behandlung von Querschnittsgelähmten völlig umkrempeln würde, konnte damals niemand ahnen. Und erst recht nicht, dass er den Grundstein für einen internationalen Wettbewerb legen würde: die Paralympics.

Prof. Ludwig Guttmann mit dem australischen Athleten Eric Russel bei den Sommer-Paralympics 1976 (Quelle: WikiCommons)

4 Jahre nach seiner Ankunft trat er im Stoke-Mandeville-Hospital in Südengland einen Job an, den „vermutlich niemand sonst machen wollte“, erklärt Prof. Dr. Armin Curt, Direktor des Zentrums für Paraplegie der Universitätsklinik Balgrist in Zürich.

Guttmann sollte eine neue Abteilung für Rückenmarksverletzungen aufbauen, vor allem, um im Krieg verwundete Soldaten zu behandeln. Eine undankbare Aufgabe, hielt man die Situation querschnittsgelähmter Menschen damals doch für hoffnungslos: Die Patienten galten dem Tode geweiht. Rund 80% starben schon in den ersten Wochen nach der Verletzung. Bei der Eröffnung im März 1944 hatte die Abteilung gerade einmal 24 Betten und einen Patienten.

Guttmann aber erkannte bald, warum die große Mehrzahl der Querschnittgelähmten damals binnen kurzer Zeit starb: Meist lag es an aufsteigenden Infektionen der Harnwege und infizierten Druckgeschwüren. Die Patienten lagen nämlich damals dauerhaft unbeweglich in ihren Betten.

Guttmann aber ließ seine Ärzte regelmäßig aseptische Katheter in die Harnblase einführen und diese regelmäßig wechseln, um Harnwegsinfektionen zu vermeiden. Auch drehte das Pflegepersonal die Patienten nun alle 2 Stunden vom Bauch auf den Rücken und umgekehrt. Und alle Querschnittsgelähmten erhielten ab sofort Krankengymnastik. Um die Atemmuskulatur zu unterstützen, um Kontrakturen zu vermeiden, und die noch nicht gelähmten Muskelgruppen zu kräftigen.

„Er war ein einzigartiger Pionier“, sagt der Züricher Neurologe Curt. Der Mediziner weigerte sich, die Rückenmarksverletzten aufzugeben, im Gegenteil: Er wollte den Patienten ermöglichen, wieder möglichst eigenständig und unabhängig zu leben. „Es ging ihm darum, sie wieder in die Gesellschaft zu integrieren“, sagt Curt. Und es gelang Guttmann, die langfristige Überlebensrate seiner Patienten auf mehr als 90% zu steigern. Viele Jahre später gründete er die International Medical Society of Paraplegia, heute unter dem Namen International Spinal Cord Society (ISCoS) bekannt.

Woher Guttmanns Interesse für Rückenverletzungen stammte? Als junger Mann hatte er als Freiwilliger, noch vor seinem Medizinstudium, in einem Unfallkrankenhaus gearbeitet. Dort musste er erleben, wie ein junger Bergarbeiter mit einer solchen Verletzung in die Klinik kam. Nachdem Ärzte die Wirbelsäule des Mannes wieder gerichtet hatten, wurde er in einen Gipsverband gelegt und von den übrigen Patienten getrennt. Innerhalb weniger Wochen magerte er zusehends ab, erkrankte an einer Harnwegsinfektion, lag sich wund und erlitt eine Blutvergiftung. 5 Wochen nach seiner Verletzung starb er. Das hatte Guttmann tief beeindruckt.

Er begann sein Medizinstudium im Jahr 1918 in Breslau, arbeitete danach 10 Jahre lang für Prof. Dr. Otfrid Foerster, einen der damals führenden Neurologen Neurochirurgen Europas an der dortigen Universitätsklinik. Im Jahr 1933 sah Guttmann sich jedoch gezwungen, das Krankenhaus zu verlassen, nur noch „arische“ Ärzte durften ab sofort dort tätig sein. So wechselte er zum jüdischen Krankenhaus, übernahm im Jahr 1937 dessen Leitung – und widersetzte sich mehrfach den Anweisungen der Nationalsozialisten, nach denen jüdische Ärzte nur jüdische Patienten behandeln durften.

Wenige Monate vor seiner Flucht, in der Reichskristallnacht im November 1938, gab er sogar die Anweisung, alle im jüdischen Krankenhaus Schutz suchenden Menschen aufzunehmen.  Bei der Visite im Beisein der Gestapo und von 3 SS-Offizieren am nächsten Morgen erfand Guttmann dann spontan für jeden einzelnen der Schutzsuchenden eine medizinische Diagnose. Und bewahrte so 60 Menschen davor, in einem Konzentrationslager zu enden.

Davon dürften die englischen Soldaten nichts geahnt haben, die – vom deutschen Feind verletzt – ab dem Frühjahr 1944 in die Stoke-Mandeville-Klinik kamen. Einen Weg zurück ins Leben wollte Guttmann ihnen bahnen, mühte sich, den jungen Männern neues Selbstwertgefühl zu geben und sie als Teil der Gesellschaft zu integrieren. Dabei sollte den Patienten auch der Sport helfen, eine Idee, die viele seiner Kollegen zu jener Zeit für abwegig hielten. Die Patienten in Stoke Mandeville wurden körperlich aktiv, arbeiteten in Werkstätten, reparierten Uhren, tippten an Schreibmaschinen.

Eines Tages aber beobachtete Guttmann zufällig, wie einige seiner Patienten in ihren Rollstühlen auf dem Klinikrasen Polo spielten, mit Hilfe einer Scheibe und Gehstöcken. Er war begeistert, trieb die Betroffenen dazu an, gezielt Sport zu treiben. Zwar entpuppte sich das Rollstuhl-Polo als zu grob, doch ermunterte Guttmann die Patienten, sich im Rollstuhl-Basketball oder Bogenschießen zu versuchen.

Doch damit nicht genug: Guttmann beschloss, einen Wettbewerb für die Verletzten zu organisieren. So begannen im Juli 1948 die ersten Stoke Mandeville Games, parallel zu den ersten Olympischen Spielen nach dem 2. Weltkrieg in London. 16 Teilnehmer machten damals mit, 14 Männer und 2 Frauen, ein Jahr später waren es schon 60 aus 5 Krankenhäusern. 1960 schließlich erfüllte sich Guttmanns großer Traum: Die Stoke Mandeville Games fanden erstmals am Austragungsort der Olympischen Spiele statt. Rund 400 Athleten aus 23 Nationen nahmen daran teil, die Wettkämpfe gelten heute als die ersten Paralympics, auch wenn sie den Namen erst später offiziell erhielten.

Guttmann selbst wurde 6 Jahre später für seine Verdienste von Queen Elizabeth zum Ritter geschlagen, im Mai 2014 schließlich auch in die Hall of Fame der Deutschen Sporthilfe aufgenommen. Die festliche Gala-Veranstaltung dazu fand im Hotel Adlon in Berlin statt, nur wenige Gehminuten entfernt vom Mahnmal für die ermordeten Juden Europas.

1980 starb der Erfinder der Paralympics im Alter von 80 Jahren an den Folgen eines Herzinfarktes.
 

Kommentar

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