Fatigue, Atemnot, geringe Belastbarkeit – das sind nur 3 von über 200 Symptomen, die in einem großen Survey mittlerweile mit Long-COVID oder Post-COVID in Verbindung gebracht werden. Bis zu 15% der akut Erkrankten leiden noch über die 4., teilweise auch über die 12. Woche nach Krankheitsbeginn unter einem oder mehreren dieser Symptome.
Wie Long-COVID diagnostiziert wird und welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt, ist nun eine S1-Leitlinie nachzulesen, die unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e. V. (DGP) entstanden ist. Experten stellten die rund 70 Seiten starke Leitlinie jetzt auf einer Online-Pressekonferenz vor [1,2].
„Die Leitlinie versteht sich als klinisch-praktischer Leitfaden für die Diagnose und Therapie einer Long-COVID-Erkrankung“, so Prof. Dr. Michael Pfeifer, Past-Präsident der DGP und Chefarzt der Klinik für Pneumologie und Intensivmedizin am Universitätsklinikum Regensburg. Die Empfehlungen richten sich sowohl an Hausärzte als auch an Ärzte unterschiedlichster Fachrichtungen, die mit den vielfältigen Folgen von COVID-19 konfrontiert sind.
„Bereits die Diagnose ist oft eine Herausforderung“, betonte Pfeifer, zumal „Long-COVID nicht an einen schweren Krankheitsverlauf von COVID-19 gebunden“ ist. Auch sehr milde Verläufe könnten zu Spätsymptomen führen, die dann nicht zwangsläufig mit COVID-19 in Verbindung gebracht würden.
Eine weitere Herausforderung ist die große Symptomvielfalt, die noch dazu oft recht unspezifisch ist: „Wir haben es oft mit Beschwerden wie Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen oder einer extremen Abgeschlagenheit zu tun“, so Pfeifer. Die Abgrenzung psychischer und somatischer Symptome sei hier schwierig.
Praxisrelevante Informationen bei sehr begrenzter Datenlage
Die Datenlage ist noch sehr begrenzt, deshalb kann die Leitlinie noch keine auf formaler Evidenz beruhenden Empfehlungen geben. Sie basiert auf dem informellen Konsens der beteiligten Experten.
Weil die Symptome der Patienten sehr breit gefächert sein können, habe es sich als hilfreich erwiesen, die entsprechend häufig mit den Symptomen konfrontierten Disziplinen über die Fachgesellschaften mit in die Erstellung des Leitliniendokuments aufzunehmen, sagte Prof. Dr. A. Rembert Koczulla, Chefarzt am Fachzentrum für Pneumologie der Schön Klinik Berchtesgadener Land und Koordinator der Leitlinie.
Ganz gezielt sei ein „Template-Konzept“ gewählt worden. Das heißt, die entsprechenden Vertreter der Fachgebiete haben die praxisrelevanten Informationen zusammengefasst, aber gleichzeitig auch offene, bislang noch nicht beantwortbare Fragen adressiert, um Wissenslücken deutlich zu machen. Die S1-Leitlinie spiegele den derzeitigen Stand des Wissens wider und werde fortlaufend aktualisiert.
Mit dreieinhalb Monaten von der Anmeldung Ende März bis zur Veröffentlichung Mitte Juli lief die Erstellung der S1-Leitlinie „sehr schnell“, betonte Dr. Monika Nothacker, stellvertretende Leiterin des Instituts für Medizinisches Wissensmanagement der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), Berlin.
Nothacker sagte, dass die Erstellung einer auf formaler Evidenz basierenden S3-Leitlinie meist 1 bis 3 Jahre in Anspruch nehme, in der Pandemie allerdings seien deutlich schnellere Handlungsempfehlungen notwendig. Das hohe ehrenamtliche Engagement der Fachgesellschaften habe das ermöglicht, zusätzlich seien die Prozesse beschleunigt worden.
Long-COVID und Post-COVID
In der S1-Leitlinie werden sowohl Long-COVID als auch Post-COVID definiert: „Wir orientieren uns an der Nomenklatur des Britischen National Institute for Health and Clinical Excellence – NICE“, erläuterte Koczulla. Als Long-COVID werden demnach anhaltende COVID-19-typische Symptome über einen Zeitraum von 4 Wochen nach der Infektion hinaus bezeichnet. Bestehen die Symptome über 12 Wochen hinaus, spricht man von Post-COVID.
Dabei werden nicht nur Symptome berücksichtigt, die aus der akuten Erkrankung fortbestehen, sondern auch solche, die aus der Behandlung resultieren oder die nach Ende der akuten Phase als Folge von COVID-19 aufgetreten sind. Auch die Verschlechterung einer vorbestehenden Grunderkrankung zählt dazu.
Wie viele Patienten nach ihrer akuten Infektion noch mit Problemen zu kämpfen haben, ist schwierig einzuschätzen. Koczulla berichtete, dass nach Angaben des britischen Statistik-Office 13,7% nach 12 Wochen noch Long-COVID-Symptome aufweisen. Pfeifer sagte, dass jeder 10. Patient nach überstandener Infektion an solchen Symptomen leide.
Wie Koculla berichtete, gibt es eine Reihe von Symptomen, die zu Phänotypen zusammengefasst werden können. Beispielsweise der
Fatique-Phänotyp,
der pneumologische Phänotyp, bestehend aus Dyspnoe, Husten und oder Schlafproblemen,
der neurologische Phänotyp
sowie der kardiologische Phänotyp etc.
Für jeden Patienten müssen die entsprechenden Symptome herausgearbeitet und entsprechend behandelt werden. Beim Lungen-Phänotyp sind neben Husten, Schlafstörungen auch pathologische Lungenfunktions- beziehungsweise CT-Befunde erhoben worden. Typischerweise zeigen diese eine gute Rückbildungstendenz – das gilt für milde bis kritisch schwere Verläufe.
Auch wenn meist Daten zur Therapie fehlen: „In einer multidisziplinären und individualisierten Rehabilitation konnte gezeigt werden, dass sich sowohl Dyspnoe als auch Fatigue und Husten im Rahmen eines Rehabilitationsaufenthaltes relevant zurückbilden“, betonte Koczulla.
Interdisziplinärer Ansatz bei der Früh-Rehabilitation
Entsprechend der aktuellen Leitlinie „Empfehlungen zur stationären Therapie von Patienten mit COVID-19“ vom 17. Mai 2021 werden schwer erkrankte COVID-19-Patienten, die über längere Zeit beatmet werden oder sich einer ECMO-Therapie unterziehen mussten, zu einer pneumologischen, neurologischen oder fachübergreifenden Früh-Rehabilitation überwiesen.
„Bei Patienten, die nach einem längeren Aufenthalt auf der Intensivstation zu uns kommen, besteht in der Regel ein vollständiger Verlust oder zumindest eine deutliche Einschränkung der Selbstständigkeit“, berichtete Dr. Frank Elsholz, Oberarzt und Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin der LungenClinic Grosshansdorf.
Neben Schäden durch COVID-19 selbst – am häufigsten ist die Lungenfunktion beeinträchtigt – litten die Patienten auch unter starkem Muskelabbau mit weitgehendem Funktionsverlust der Rumpfmuskulatur, der Arme und der Beine. Gehen und Stehen, Halten und Greifen sei nicht immer möglich, hinzu kämen oft Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen. Als Folge der Beatmung könne auch die Schluck- und Sprechfähigkeit eingeschränkt sein.
Neben bekannten neurologischen Symptomen wie Geschmacksverlust leiden die meisten Patienten aufgrund des schweren Krankheitsverlaufs auch unter starken Ängsten, berichtete Elsholz. In der Frührehabilitation sei daher eine intensive interdisziplinäre Betreuung notwendig, bei der Ärzte, Pfleger und Therapeuten unterschiedlicher Fachrichtungen eng abgestimmt zusammenarbeiten.
Medscape Nachrichten © 2021
Diesen Artikel so zitieren: Symptom-Phänotypen als Basis des Behandlungskonzeptes: Erste S1-Leitlinie zu Diagnose und Therapie von Long-COVID - Medscape - 20. Aug 2021.
Kommentar