Das Reizdarmsyndrom (RDS) ist ein Paradebeispiel dafür, wie körperliche und psychische Faktoren bei der Entstehung von Krankheiten zusammenwirken. Das macht auch die Behandlung komplex, bietet aber gleichzeitig viele Ansätze für die Therapie. Welche aktuell diskutiert werden, darüber informierten Experten auf dem Deutschen Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 2021 [1].
Prof. em. Dr. Paul Enck, ehemaliger Forschungsleiter am Universitätsklinikum Tübingen, nannte als vermutete ätiologischen Faktoren:
Umwelteinflüsse,
Hypersensitivität/zentrale Dysregulation,
genetische/epigenetische Faktoren,
postinfektiöses/-inflammatorisches RDS,
bakterielle Fehlbesiedlung, Darm-Mikrobiota,
Nahrungsmittelintoleranz,
Serotonin-Dysregulation,
psychosoziale Faktoren.
Dass auch das Darm-Mikrobiom ein Einflussfaktor bei der Pathogenese sein könne, sei eine relativ neue Erkenntnis. „Dass es eine Rolle spielt, darüber herrscht Konsens, dass es aber eine dominante Rolle spielt und alle anderen Faktoren ausgeknockt hat, davon kann überhaupt keine Rede sein“, so Encks Einschätzung.
Der Tübinger Forscher und sein Kollege Dr. Nazar Mazurak haben in einer Veröffentlichung den Wissensstand zur Rolle des Mikrobioms beim Reizdarmsyndrom zusammengefasst. Sie sehen 4 Themenfelder, auf die Enck in seinem Vortrag fokussierte:
Dysbiose: Liegt a priori bereits eine Störung der Mikrobiota vor?
Wirksamkeit von Prä-, Pro- und Antibiotika
Rolle der Ernährung
Mikrobiom-Transfer zur Therapie
300.000 Millionen Gene
Nach Schätzungen können sich bis zu 5.000 Mikrobiota-Spezies im menschlichen Darm tummeln – das entspricht rund 300.000 Millionen Genen. Der Mensch verfügt dagegen nur über rund 30.000 Gene. Von etwa 40% der Mikrobiota-Gene, die bisher metagenomisch charakterisierbar sind, ist die Funktion noch unbekannt, wie eine Studie aus 2019 darlegt. Darüber hinaus sind weitere Spezies noch nicht bekannt bzw. gefundene Genomsequenzen können bislang keiner Spezies zugeordnet werden.
Und es ist noch kaum erforscht, wie alle diese Gene mit den menschlichen Genen wechselwirken. „Unter all diesen Bedingungen ist es wahrscheinlich zurzeit überhaupt nicht möglich, zu sagen, was eine normale Mikrobiota ist und wo die Dysbiose anfängt“, resümierte Enck.
Die Rolle von Prä-, Pro- und Antibiotika in der Therapie
Zur Wirksamkeit von Präbiotika gibt es laut Enck bisher kaum verlässliche Studien bzw. die Daten sind heterogen. Nicht viel besser sieht es für Probiotika aus: Es gibt einige Studien, Metaanalysen konnten aber bisher noch keine überzeugenden Belege für eine allgemeine Wirksamkeit beim RDS finden, denn die Symptome beim RDS sind vielfältig und in ihrer Kombination sehr individuell. Nicht alle Probiotika könnten für alle Symptome „zuständig“ sein, so der Reizdarm-Experte.
Dies belegt auch eine noch unveröffentlichte Studie der Firma SymbioPharm zu Pro-Symbioflor. Die randomisierte, Placebo-kontrollierte Phase-4-Studie mit inaktivierten E. coli und Enterococcus faecalis wurde mit mehr als 350 Patienten mit Reizdarmsyndrom durchgeführt.
Zu jedem Zeitpunkt der Studie gab es in der Subgruppe der Reizdarmpatienten mit Hauptsymptom Durchfall in der Verum-Gruppe (n = 69) mehr Patienten, bei denen die abdominalen Schmerzen um mindestens 30% abnahmen, als in der Placebo-Gruppe (n = 69). In den anderen RDS-Subgruppen konnte dieser Effekt dagegen nicht beobachtet werden. Das sich spezifische Probiotika bestenfalls bei bestimmten Symptomen eines RDS als wirksam erweisen, erwartet Enck auch in weiteren Studien.
Unter den Antibiotika sei Rifaximin bisher das einzige, dass nachweislich in das Mikrobiom eingreife, so Enck. Auch Prof. Dr. Andreas Stengel, Universitätsklinikum Tübingen, sieht in Rifaximin eine Option. Jedoch sei es meist nur bei der ersten Einnahme wirksam. Man könne nicht von einem „durchschlagenden Erfolg“ sprechen. Zudem sei eine hohe Dosis nötig und es sei teuer.
Gar keine Zukunft in der Reizdarmtherapie sieht Enck hingegen für den Stuhltransfer. „Nach meiner Einschätzung gehört die Mikrobiota-Transplantation eher ins Mittelalter als in 21. Jahrhundert.“ Lediglich bei Clotridium-difficile-Infektionen könne sie als Ultima Ratio eingesetzt werden.
Die Rolle der Ernährung: FODMAP-Diät
Häufig von Patienten nachgefragt werden Diätempfehlungen. Insbesondere verbinden sie Hoffnung auf Besserung ihrer Symptome durch eine FODMAP-arme Ernährung. FODMAP (fermentable oligo-, di-, monosaccharides and polyols) werden von einigen Mikroorganismen im Darm in Gase, insbesondere Wasserstoff umgewandelt. Das kann u.a. zu Blähungen und Bauchschmerzen führen – typische Symptome beim Reizdarm.
Dass eine Low-FODMAP-Diät die Symptome bessern kann, ist deshalb nicht überraschend. Jedoch fehlen Placebo-kontrollierte Studien. Sicher richtig sei: „Wenn man den FODMAP-Anteil in der Nahrung senkt, dann nimmt in aller Regel die Symptomschwere ab“, so Enck. Auch Stengel hält diese Diätform für hilfreich. „Es ist jedoch eine sehr restriktive Diät, die meist nicht lange durchgehalten wird.“
Eine gute Behandlungsgrundlage schaffen
Stengel fokussierte vor allem auf die Rolle der Psyche. Eine wichtige Basis für die Therapie seien zunächst eine Reihe von allgemeinen Maßnahmen:
Ernstnehmen der Symptomatik,
vertrauensvolles Arzt-Patienten-Verhältnis,
Aufklärung über Diagnose, deren Benignität und mögliche Ursachen,
Erläuterung der Untersuchungsergebnisse/Psychoedukation,
Angst vor schwerer Erkrankung nehmen.
Wenn die Arzt-Patienten-Beziehung gut sei, würden es auch nachweislich weniger Arztbesuche geben, so Stengel.
Zu Unrecht unbeliebt: Antidepressiva
Bei der symptomatischen Therapie können je nach Beschwerden zwar Spasmolytika, Antidiarrhoika, Gasbinder, Laxantien und Prokinetika hilfreich sein. Jedoch betonte Stengel: „Antidepressiva spielen aus meiner Sicht eine ganz wichtige Rolle in der Behandlung von Betroffenen mit Reizdarmsyndrom.“ Dies gelte sowohl für die die Trizyklika als auch für die SSRI als Therapie-Add-ons.
Stengel untermauerte seine Position mit einer US-amerikanischen Metaanalyse aus dem Jahr 2019. Diese zeigt, dass Antidepressiva zu Unrecht wenig beliebt sind. Demnach beträgt das relative Risiko (RR), dass sich durch Antidepressiva die Symptome nicht bessern, im Vergleich zu Placebo 0,66 (95%-Konfidenzintervall: 0,57-0,76). Dabei ließen sich mit Trizyklika und SSRI ähnliche Behandlungserfolge erzielen. Die Autoren resümieren, dass Antidepressiva wirksam bei der Behandlung von Reizdarm-Symptomen sind.
Stengel empfahl beim Hauptsymptom Durchfall Trizyklika, bei Obstipation dagegen SSRI. Hier kann man sich gezielt die jeweiligen Nebenwirkungen auf den Darm zunutze machen. Beide Substanzgruppen sind beim Reizdarm eine Off-label-Therapie.
Psychotherapie für wen?
Die US-Metaanalyse beschäftigte sich auch mit den Effekten der Psychotherapie auf die Reizdarm-Symptomatik. Demnach beträgt das relative Risiko, dass sich durch Psychotherapien die Symptome nicht bessern, im Vergleich zu einer Kontroll-Therapie oder dem „üblichen Management“ beim RDS 0,69 (95%-Kl: 0,62-0,76). Die Autoren räumen jedoch Limitationen bei der Qualität der Evidenz ein, die zur Überschätzung des Effekts geführt haben könnten.
Stengel erläuterte, für welche Patienten eine Psychotherapie infrage kommt:
bei Vorliegen einer psychischen Erkrankung,
Suchterkrankungen,
Fehlen jeglicher Besserung nach mehr als 6 Monaten,
Langzeit-Krankschreibung und drohende Berentung,
(früherer) sexueller Missbrauch,
Vorliegen psychosozialer Belastungsfaktoren,
Wunsch des Patienten nach entsprechender Behandlung.
Auch speziell für die Hypnotherapie bei Reizdarmsyndrom gebe es gute Evidenz für günstige Effekte auf die Darmsymptome und das Wohlbefinden, so Stengel. Bisher fehlen zwar Langzeitstudien. Doch Stengel gab sich optimistisch: „Ich glaube, dass die Hypnotherapie ein Baustein in der Behandlung des Reizdarmsyndroms sein wird.“
Medscape © 2021
Diesen Artikel so zitieren: Antidepressiva, Probiotika, Diät, Stuhltransfer: Zur Therapie des Reizdarms gibt es viele Ansätze – aber nur wenige wirken - Medscape - 12. Aug 2021.
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