Quo vadis Inzidenz? Streit um Leitindikator, Experten fordern Dreiklang – welche Zahlen bald Corona-Politik machen könnten

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

2. August 2021

„200 ist das neue 50“ – so unlängst Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Schon vor Wochen hatte Spahn erklärt, die Inzidenz verliere an Aussagekraft. Als Begründung nannte der Gesundheitsminister, dass die gefährdeten Gruppen geimpft seien und es weniger Krankenhauseinweisungen gebe.

Die erweiterte Meldeverordnung des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) Mitte Juli trug dem Rechnung. Künftig müssen für alle im Krankenhaus behandelten Corona-Patienten Alter, Art der Behandlung und Impfstatus gemeldet werden.

Das BMG erhofft sich dadurch mehr Informationen zu allen in den Kliniken behandelten COVID-19-Patienten. So soll die Belastung für das Gesundheitssystem zeitnah zum Infektionsgeschehen besser abgeschätzt werden können. Auch die Hospitalisierung als zusätzlicher Leitindikator sollte miteinbezogen werden. Es seien zwar „weiterhin mehrere Indikatoren zur Bewertung notwendig, aber die Gewichtung der Indikatoren untereinander ändert sich“.

Am vergangenen Montag nun hatte der Chef des Robert Koch-Instituts (RKI) Prof. Dr. Lothar Wieler laut ARD auf einer Schaltkonferenz zwischen Kanzleramtschef Braun und den Chefs der Staatskanzleien betont, an der Inzidenz als „Leitindikator“ festhalten zu wollen und ein Papier zu einer Niedrig-Inzidenz-Strategie vorgestellt. Inzidenz wird in dem Papier als „Leitindikator für Infektionsdynamik“ bezeichnet.

Weiter heißt es zur aktuellen Lage, dass die Inzidenzen seit rund 3 Wochen wieder stiegen, der Anteil der Hospitalisierungen seit rund 2 Wochen – die 4. Welle habe begonnen. Generell gelte: Je mehr Fälle auftreten, desto mehr schwere Verläufe und Todesfälle würden registriert, desto höher werde die Belastung des Gesundheitssystems. Je höher die Inzidenz liege, desto schlechter gelinge der Schutz der Individualgesundheit und der offenen Gesell­schaft – deshalb müsse die Prävention auch weiterhin die höchste Priorität besitzen.

Spahn widersprach prompt: Es brauche neben der Inzidenz „zwingend weitere Kennzahlen, um die Lage zu bewerten“, etwa die „Zahl der neu aufgenommenen COVID-19-Patienten im Krankenhaus“, so der Bundesgesundheitsminister gegenüber Bild. Damit steht Spahn nicht allein. Schon am Montag sollen Ländervertreter mit dem Strategiepapier überwiegend nicht einverstanden gewesen sein, weil viele Länder von der Inzidenz als wichtigstem Kriterium wegkommen wollen.

Wird es bald eine Einigung geben? Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) hat angekündigt, dass diese Strategiefrage beim nächsten Corona-Gipfel von Bund und Ländern am 10. August zentral sein würde: Wenn das Ziel sei, die Kliniken vor Überlastung zu schützen, müsse man sehr hohe Inzidenzen bei jüngeren Menschen in Kauf nehmen. Wolle man dagegen weiterhin die Nachverfolgung durch die Gesundheitsämter garantieren, müsse man den Weg einer Niedrig-Inzidenz-Strategie einschlagen.

Kritik an der Aussagekraft der Sieben-Tage-Inzidenz gibt es schon lange. Aus Sicht von Medizinstatistiker Prof. Dr. Gerd Antes ist die Fokussierung auf die Inzidenz ein Fehler. So schreibt er zur RKI-Schlussfolgerung „Je höher die Inzidenz, desto schlechter gelingt der Schutz der Individualgesundheit und der offenen Gesellschaft“: „Ein Blick auf UK, Schweiz und Schweden zeigt, dass diese Aussage grob falsch ist.“

 
Im gesamten Fazit an keiner Stelle eine altersadjustierte Auswertung und altersspezifische Auswertungen zu fordern, ist fachlich ein grober Fehler. Prof. Dr. Gerd Antes
 

Der Medizinstatistiker moniert, dass kein Wort zu der inzwischen an vielen Stellen diskutierten Entkoppelung der Inzidenz von Hospitalisierung und Letalität verloren werde. „Im gesamten Fazit an keiner Stelle eine altersadjustierte Auswertung und altersspezifische Auswertungen zu fordern, ist fachlich ein grober Fehler“, so Antes.

Auch die Einschätzung des RKI, dass die 7-Tage-Inzidenz wichtig bleibe, um die Situation in Deutschland zu bewerten und frühzeitig Maßnahmen zur Kontrolle zu initiieren ist Antes‘ Einschätzung nach „grob falsch“. Gerade durch die zunehmende Impfwirkung und weiterhin fehlende Daten werde das „wieder zu Lockdowns führen, die unspezifisch und damit an vielen Stellen überflüssig oder sogar kontraproduktiv sind“, befürchtet er.

Inzidenz und kein Ende?

Antes kritisiert, dass die Inzidenz weiterhin mit allen seit langem diskutierten Defiziten im Mittelpunkt stehe – „auch wenn immer wieder das Gegenteil behauptet wird.“ Habe das Festhalten an der Inzidenz eine Zeit lang eine gewisse Berechtigung gehabt, „wird sie nun durch die erhebliche Zunahme der Impfquote tatsächlich zu einem falschen Steuerparameter, d.h. zur Basis für falsche politische Entscheidungen.“

Im Interview mit der Apothekenumschau hatte Antes noch Mitte Juli begrüßt, dass das RKI vor der Inzidenz als wichtigster Kennzahl der Pandemie abrücken wollte. Er hatte aber auch Mitte Juli schon klargestellt: „Die Inzidenz war noch nie ein alleiniger guter Steuerungsparameter – er war eben für die Politik sehr bequem. Aber jetzt ist es geradezu schädlich, sich allein daran zu orientieren, um Schutzmaßnahmen zu treffen. Inzwischen ist es – durch den deutlichen Impferfolg – tatsächlich schädlich, weil die Risikoverhältnisse völlig verschoben sind und darauf beruhende Gegenmaßnahmen ernsthaft falsch sein können. Spätestens jetzt ist es also an der Zeit, die Inzidenz von der Hospitalisierung und der Sterblichkeit zu entkoppeln.“

 
Spätestens jetzt ist es an der Zeit, die Inzidenz von der Hospitalisierung und der Sterblichkeit zu entkoppeln. Prof. Dr. Gerd Antes
 

Ein bekannter Faktor, der im Zusammenhang mit COVID-19 extrem risikofördernd ist, sei das Alter. „Wenn Gesundheitsminister Spahn jetzt erst, nach 15 Monaten, genauere Klinikmeldungen wie Alter, Art der Behandlung und den Impfstatus fordert, dann ärgert mich das ungemein“, betonte Antes. Denn darüber sei spätestens im November im Bundestagsausschuss debattiert worden.

Dieses zögerliche Verhalten könne großen Schaden angerichtet haben: ökonomischen Schaden und psychischen Schaden vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Oder medizinische Schäden wie verschleppte Krebsdiagnosen. Einige dieser Schäden, ist Antes sicher, hätten vermieden werden können, „wenn man den richtigen Zahlen rechtzeitig mehr Bedeutung gegeben hätte“.

Fixierung auf Labordiagnostik und Fallzahlen

Schon früh in der Pandemie kritisierte der Infektionsepidemiologe Prof. Dr. Gérard Krause die Fixierung auf Labordiagnostik und Fallzahlen. Es sei sinnvoll, die Fallzahlen mit in Betracht zu ziehen. „Aber wenn man sie zum alleinigen Richtwert aller Maßnahmen macht, führt das zu falschen Schwerpunkten und vermeidbaren Nebenwirkungen“, sagt Krause im Interview mit der Welt .

„Sorgen müssen wir uns machen, wenn auch die Zahl der Krankenhauseinweisungen und die der Todesfälle deutlich ansteigen. Das ist im Moment nicht erkennbar“, so Krause. „Dass die Fallzahlen steigen, ist nicht überraschend: Die Maßnahmen wurden gelockert, durch die Urlaubsreisen hat die Mobilität zugenommen. Dazu kommt, dass die Delta-Variante deutlich leichter übertragbar ist. Die Kombination dieser Faktoren führt zu mehr Fällen.“

 
Labordaten allein sollten nicht unser Handeln bestimmen. Prof. Dr. Gérard Krause
 

„Labordaten allein sollten nicht unser Handeln bestimmen“, sagt Krause. Wirklich bedeutsam sei die Krankheitslast. Krause bezeichnet die Hospitalisierung als „wertvollen zusätzlichen Indikator“, auch die SARS-CoV-2 bedingte Sterblichkeit bilde einen wichtigen Indikator. Wünschenswert sind aus seiner Sicht zusätzliche andere Krankheitslast-Merkmale wie die COVID-19-bedingte Arbeitsunfähigkeit.

Krause weist darauf hin, dass es auch verhängnisvoll sein könne, Fallzahlen als Richtwert gesetzlich zu verankern, denn dann blieben den Verantwortlichen vor Ort kaum noch Möglichkeiten für eine örtliche und ganzheitliche Strategie. Seit Frühjahr 2020 habe er in diversen Beratungen und öffentlichen Anhörungen des Bundestages und des Niedersächsischen Landtages immer wieder auf diese Problematik hingewiesen. Durch die aktuelle Situation sehe er sich bestätigt.

Übergang in eine Endemie – die Melde-Inzidenz hat ausgedient

„Wir befinden uns in der Übergangsphase von der Pandemie in eine Endemie“, sagt der Epidemiologe Prof. Dr. Klaus Stöhr im Interview mit dem WDR . „Ein Großteil der Bevölkerung ist geimpft, die Sterbezahlen nehmen ab oder sind stabil, die Melde-Inzidenz nimmt zu – jetzt müsste man sich was anderes einfallen lassen. Wenn man etwas Komplexes messen will, reicht eben nicht nur ein Wert“, betont Stöhr. Man müsse wissen, wie viele Personen sich wegen COVID-19 auf Intensivstationen (ITS) befinden, müsse die Hospitalisierungsrate und den R-Wert kennen: „Aus diesen Zahlen formt man eine Größe, und danach entscheidet man.“

 
Wir befinden uns in der Übergangsphase von der Pandemie in eine Endemie. Prof. Dr. Klaus Stöhr
 

Denn die Realität sei, dass sich die Melde-Inzidenz abgelöst habe von der Realsituation – von den Todesfällen, von der ITS-Belegung. „Die ganze Krankheitslast sieht gegenwärtig ganz anders aus. Jetzt erkranken viele junge Menschen, meist asymptomatisch ohne große Auswirkungen, jetzt wird die Inzidenz steigen auf 50, 70 oder 100 – das sieht man ja auch in England – aber gleichzeitig bleiben ja die ITS in Deutschland leer. Will man jetzt wegen 50 asymptomatischen Kindern in einer Gemeinde die Geschäfte wieder schließen?“

Stöhr wirbt für einen Stufenplan: „Jetzt heißt es neue Parameter finden, wie man die Kontakte beschränkt, wie man auch weiterhin versucht, die Zahl der schweren Fälle zu reduzieren. Die Melde-Inzidenz reicht jetzt nicht mehr aus“, betont er.

 
Wenn man etwas Komplexes messen will, reicht eben nicht nur ein Wert. Prof. Dr. Klaus Stöhr
 

Stöhr verweist auf die Niederlande, in deren Pandemieplan 3 Größen relevant sind: Die Melde-Inzidenz, die Krankenhaus-Einweisungen und die Intensiv-Belegung. „Nach diesem Stufenplan wird entschieden, und das scheint ja zu funktionieren.“

Dreiklang aus Inzidenz, ITS-Belegung und Krankenhaus-Aufnahmen

Für mehrere Parameter zur Einschätzung der Pandemiesituation wirbt Prof. Dr. Christian Karagiannidis: „Die Intensiv-Belegung und Neuaufnahmen bleiben zwar wichtig, aber sie werden durch den Schutz der vulnerablen Gruppen nicht mehr so stark und schnell steigen, sofern sich die 4. Welle nicht zu schnell aufbaut. Ich plädiere sehr stark für einen Dreiklang aus Inzidenz (Infektionsdynamik), Intensiv-Belegung und -Neuaufnahmen sowie Krankenhaus-Neuaufnahmen.“ Der Dreiklang werde helfen, die Situation präziser einschätzen zu können, machte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) deutlich.

Auch Prof. Dr. Uwe Janssens, Generalsekretär der DGIIN, teilt im ZDF diese Einschätzung und fügt hinzu: „Die Inzidenz ganz wegzulassen wäre ein Fehler. Wir müssen die Inzidenz gemeinsam mit der Hospitalisierungsrate beachten und die Belegung der Intensivbetten im Auge behalten. Großbritannien zeigt, wie wichtig es ist, genau diese Faktoren – Hospitalisierung, beatmete Patienten – zu beobachten. Denn wir sehen dort jetzt auch, dass bei den Krankenhausaufnahmen und bei den beatmeten Intensivpatienten ein Anstieg zu verzeichnen ist.“

Prof. Dr. Christoph Rothe, Leiter des Lehrstuhls für Statistik an der Universität Mannheim, fordert, „künftig detailliertere Daten aus Krankenhäusern bei der Beurteilung der pandemischen Lage zu berücksichtigen“. Rothes Einschätzung nach war es „schon immer problematisch, Melde-Inzidenzen für die Beurteilung der pandemischen Lage heranzuziehen“. Nicht nur, weil diese stark von der verwendeten Teststrategie abhänge und auch von Feiertagen und Ferienzeiten beeinflusst werde.

 
Ich plädiere sehr stark für einen Dreiklang aus Inzidenz (Infektionsdynamik), Intensiv-Belegung und -Neuaufnahmen sowie Krankenhaus-Neuaufnahmen. Prof. Dr. Christian Karagiannidis
 

Mit steigenden Impfquoten entkoppeln sich die Inzidenzen auch immer weiter von der Sterblichkeit und den Krankenhaus-Einweisungen. Rothe betont, dass weitere Daten vollständig und zeitnah erhoben und zugänglich gemacht werden müssten. Auch müsse geklärt werden, sie diese Daten in Entscheidungen zum Infektionsschutz berücksichtigt werden sollen.

Prof. Dr. Andreas Schuppert, Leiter des Lehrstuhls für Computational Biomedicine am Aachen Institute for Advanced Study in Computational Engineering Science (AICES), stellt beim Press Briefing des Science Media Center (SMC) klar [1]: „Von der Seite der Krankenhäuser und der schweren Fälle wäre es höchste Zeit, gute, belastbare Daten zu bekommen und die Unsicherheiten, die wir haben, möglichst schnell auszuräumen. Ich glaube nach wie vor, dass die Inzidenzen ein gutes Maß sind, besonders in Deutschland, wo wir ja die Aufnahmedaten nicht haben, zumindest nicht in guter Qualität, sind die Inzidenzen ein guter, schneller Marker, den man nicht vernachlässigen sollte, wenn man ihn richtig gewichtet.“

 
Die Inzidenzen sind ein guter, schneller Marker, den man nicht vernachlässigen sollte, wenn man ihn richtig gewichtet. Prof. Dr. Andreas Schuppert
 

Die Datenlage, so Schuppert, sei noch bei Weitem nicht so, wie sie eigentlich sein sollte. „Wir wären klug beraten, die Sommermonate jetzt zu nutzen, in denen ich auch nicht mit großen Anstiegen rechne, um uns für den Herbst vorzubereiten und wirklich belastbare Daten kontinuierlich zu erfassen. So können wir dann auch rechtzeitig Maßnahmen ergreifen bzw. warnen. Das wäre ein großer Wunsch.“

 

Kommentar

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