Maßgeschneiderte Diabetes-Therapie: GRADE-Studie zeigt optimale Metformin-Ergänzung auf – bekommt aber beim ADA einen Rüffel

Dr. Mitchel L. Zoler

Interessenkonflikte

22. Juli 2021

Beim 81. Kongress der American Diabetes Association (ADA) wurden die Ergebnisse einer multizentrischen US-Studie mit knapp über 5.000 Typ-2-Diabetikern vorgestellt [1]. Darin wurden die zusätzlichen Gaben von Liraglutid, Insulin Glargin, Glimepirid oder Sitagliptin zu Metformin miteinander verglichen. Die Ergebnisse sprechen dabei für Liraglutid und Insulin Glargin.

Die GRADE genannte Studie lief über rund 5 Jahre an 36 US-Zentren und sollte die Frage beantworten, welches Zweitlinien-Medikament für Typ-2-Diabetiker, die bereits Metformin einnehmen, am besten geeignet ist.

Bei dem Vergleich wurden 2 orale und 2 injizierbare Medikamente betrachtet, nämlich der Sulfonylharnstoff Glimepirid und der Dipeptidylpeptidase-4(DPP-4)-Hemmer Sitagliptin bzw. Insulin Glargin und der Glucagon-like-peptide-1-(GLP-1)-Rezeptor-Agonist Liraglutid.

Primärer Endpunkt war die Veränderung des HbA1c-Wertes und die allgemeine glykämische Kontrolle. Zu den sekundären Endpunkten gehörten Gewichtsveränderungen sowie kardiovaskuläre, renale, gastrointestinale und andere Komplikationen.

 
Das Ziel von GRADE ist es letztlich, den Ärzten dabei zu helfen, die für den individuellen Patienten maßgeschneiderte Therapie zu finden. Dr. David M. Nathan
 

Während der Nachbeobachtungszeit von im Mittel 5 Jahren war die Rate der Patienten, die einen HbA1c von 7% überschritten, mit 67% am niedrigsten in der Gruppe, die zufällig Insulin Glargin erhalten hatten, 68% waren es unter Liraglutid, 72% unter dem Sulfonylharnstoff Glimepirid und 77% unter Sitagliptin. Diese Zahlen nannte Dr. John M. Lachin, Biostatistiker von der George Washington University in Rockville, Maryland.

Praxisrelevant oder schon überholt?

„Das Ziel von GRADE ist es letztlich, den Ärzten dabei zu helfen, die für den individuellen Patienten maßgeschneiderte Therapie zu finden, da man in der Diabetesversorgung eben kein Therapieregime von der Stange verordnen kann“, sagte Dr. David M. Nathan, Leiter der Studie und Direktor des Diabetes Center am Massachusetts General Hospital, in einer ADA-Pressemitteilung. Die datenreiche Studie wurde maßgeblich von 2 Zweigstellen der National Institutes of Health finanziert. Der private Anteil an den Kosten der Studie beschränkte sich auf die Bereitstellung der Studienmedikamente.

Nathan und andere leitende Personen der GRADE-Studie wiesen bei der Vorstellung wiederholt darauf hin, dass die Ergebnisse vorläufig seien, da sie nur 90% der Gesamtdaten umfassten, während die restlichen 10% noch beurteilt werden müssten.

 
Wir wollten mit dieser Studie eine Lücke in den Leitlinien schließen. Dr. Deborah J. Wexler
 

„Wir wollten mit dieser Studie eine Lücke in den Leitlinien schließen“, sagte die an der Studie mitwirkende Dr. Deborah J. Wexler, Direktorin des Diabetes Center am Massachusetts General Hospital in Boston. „Allerdings hätte ich gerne zunächst sämtliche Ergebnisse vorliegen ..., bevor ich mich dazu äußere, wie die Leitlinien am besten angepasst werden könnten.“

Nathan pflichtete ihr warnend bei: „Die Daten zum Stoffwechsel sind solide, doch die über die kardiovaskulären Erkrankungen sind noch vorläufig.“

Aber das hielt einige Teilnehmer nicht davon ab, schon jetzt eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. So sagte der Moderator der Sitzung Dr. Julio Rosenstock, der nicht an der Studie beteiligt war: „Eine positive Überraschung sind die Daten zum Basalinsulin.“ Er betrachtete die Resultate „als Bestätigung“ für das Basalinsulin in der Therapie von Typ-2-Diabetikern.

Prof. Dr. Steven E. Kahn, der ebenfalls an GRADE mitgewirkt hatte, stimmte ihm zu: „Die Ergebnisse sollten dazu führen, dass in den Leitlinien die frühzeitige Insulingabe aufgenommen wird.“

Für Patienten mit begrenzten Ressourcen seien nach dem Metformin sowohl ein generisches Basalinsulin als auch ein generischer Sulfonylharnstoff vernünftige Optionen, so Kahn, der Endokrinologie an der University of Washington in Seattle lehrt.

Für Rosenstock, Direktor des Dallas Diabetes Research Center in Texas, gehen die Ergebnisse auch gegen die Klasse der DPP-4-Hemmer wie Sitagliptin. Diese Wirkstoffe stünden für einen Jahresumsatz von 9 Milliarden Dollar, doch frage er sich, ob es „gerechtfertigt ist, sie mit anderen Wirkstoffen auf eine Stufe zu stellen.“

An der Diskussion nahm auch Dr. David R. Matthews, Diabetologe der britischen Universität in Oxford, teil. Er beglückwünschte die Forscher zu bestimmten Aspekten der Studie. Er war jedoch auch der Ansicht, dass sie letztlich zu kurz greife, weil kein Arm mit einem SGLT2-Hemmer existiere. „Aus meiner Sicht verdienen die Autoren einen Rüffel, denn die fehlende Berücksichtigung der SGLT2-Hemmer führt dazu, dass die GRADE-Daten im Grunde bereits überholt sind.“

Nathan gab zu, dass ihm auch nicht wohl dabei gewesen sei, keine SGLT2-Hemmer aufgenommen zu haben, doch wies er eindringlich auf das Dilemma hin, vor dem die Organisatoren der Studie gestanden hätten.

Als man 2013 mit der Rekrutierung begonnen habe, seien die oralen SGLT2-Hemmer beim Typ-2-Diabetes noch nicht voll etabliert gewesen und die Untersucher seien sehr zurückhaltend damit gewesen, Substanzen einzubeziehen, die sich als problematisch herausstellen könnten, was damals nicht zuletzt auch der kurz davor stattgefundenen Kontroverse um die Sicherheit der Glitazone (wie Rosiglitazon) geschuldet gewesen sei, erklärte er.

Sie hatten zudem erkannt, dass die Aufnahme eines fünften Medikaments in die Studie eine Verdoppelung der Teilnehmerzahl erfordert hätte, wodurch die bereits bestehenden Finanzierungspläne der Studie untergraben worden wären.

Matthews bemängelte weiter, dass die GRADE-Studie auch keine Aussage darüber erlaube, wie sich die getesteten Wirkstoffe auf schwere kardiale Ereignisse (MACE) und Klinikaufenthalte wegen Herzinsuffizienz auswirkten. Zudem sei die Untersuchung gänzlich und auf die USA ausgerichtet gewesen und nicht so leicht auf andere Länder übertragbar.

Eine Menge Daten

Die rund 5.000 Patienten der GRADE-Studie waren im Schnitt 57 Jahre alt; 64% waren Männer, 66% weiß und 20% schwarz. Sie hatten seit durchschnittlich 4,2 Jahren einen Typ-2-Diabetes. Der mittlere Body-Mass-Index (BMI) lag zu Studienbeginn bei etwa 34, der HbA1c-Wert zwischen 6,8 und 8,5% und die geschätzte glomeruläre Filtrationsrate im Mittel bei 95 ml/min/1,73 m2.

Die Studie hatte eine Einführungsphase, in der die Metformin-Therapie auf die maximale tolerierte Dosis zwischen 1.000 und 2.000 mg pro Tag titriert wurde. Anschließend wurden die Patienten zufällig einem der 4 zusätzlichen Wirkstoffe zugeteilt. Letztere wurden bis zu einem HbA1c-Wert <7% bei der maximal verträglichen Dosis titriert. Der primäre Endpunkt galt als erreicht, wenn die Behandlung versagte, d.h. wenn der HbA1c-Wert 7% erreichte oder überstieg.

Sowohl Liraglutid als auch Insulin Glargin stachen aus der großen Datenmenge heraus.

Der sekundäre metabolische Endpunkt, das Fortschreiten der Krankheit bis zu einem bestätigten HbA1c-Wert von 7,5%, betraf 39% der Patienten unter Insulin Glargin, was signifikant niedriger ist als die 46% bei Patienten unter Liraglutid und diese wiederum signifikant niedriger als die 50%-Rate unter Glimepirid und die 55% unter Sitagliptin.

Die durchschnittliche Dosierung bei den Second-line-Wirkstoffen lag nach einer Behandlungsdauer von 4 Jahren bei Tagesdosen von 38,8 Einheiten Glargin, 3,5 mg Glimepirid, 1,3 mg Liraglutid s.c. und 82,9 mg Sitagliptin.

Von 3 kardiovaskulären Outcomes zeigte sich bei einem ein signifikanter Benefit unter Liraglutid gegenüber den anderen 3 Medikamenten für den Endpunkt „beliebiges kardiovaskuläres Ereignis“, der nicht nur MACE umfasste (kardiovaskulär bedingter Tod, Myokardinfarkt oder Schlaganfall), sondern z.B. auch Ereignisse wie Klinikaufenthalt wegen Herzinsuffizienz, instabiler Angina oder Revaskularisation, jegliche arterielle Eingriffe, Stentthrombosen oder transitorische ischämische Attacken.

Für den Endpunkt jedes kardiovaskulären Ereignisses lag die Rate unter Liraglutid mit 5,8% signifikant niedriger als unter Insulin Glargin (7,6%), Glimepirid (8,0%) und Sitagliptin (8,6%), berichtete Prof. Dr. John B. Buse, Endokrinologe und Direktor des Diabeteszentrums an der University of North Carolina School of Medicine in Chapel Hill.

 
Die Daten zum Stoffwechsel sind solide, doch die über die kardiovaskulären Erkrankungen sind noch vorläufig. Dr. David M. Nathan
 

Bei den beiden anderen kardiovaskulären Endpunkten, MACE allein und Klinikaufenthalt wegen Herzinsuffizienz allein, hatte Liraglutid zwar einen rein numerischen Vorteil gegenüber den anderen 3 Medikamenten, erreichte dabei jedoch keine Signifikanz.

Patienten, die Liraglutid einnahmen, hatten auch eine niedrigere Gesamttodesfallrate von 2,1%, gegenüber 3,1–3,4% in den anderen 3 Gruppen, aber auch hier ohne Signifikanzniveau.

Nathan betonte, dass die Daten zu den kardiovaskulären Erkrankungen noch als vorläufig anzusehen seien.

Liraglutid hatte noch bei 2 weiteren Endpunkten die Nase vorn: Unter diesem Wirkstoff benötigten die Patienten während der Nachbeobachtung signifikant seltener blutdrucksenkende Medikamente oder ihr Blutdruck stieg seltener über 140/90 mm Hg als unter den anderen 3 Medikamenten (zu Beginn der Studie lag der durchschnittliche Blutdruck aller Patienten bei 128/77 mm Hg).

Schließlich hatten Patienten, die Liraglutid einnahmen, nach 4 Jahren im Mittel 4 kg abgenommen (Ausgangsgewicht im Durchschnitt etwa 100 kg), was zwar in etwa auch unter Sitagliptin passierte, jedoch deutlich über den Ergebnissen unter Glimepirid oder Insulin Glargin lag. Unter dem Letztgenannten nahmen die Patienten in den ersten Jahren der Behandlung im Durchschnitt sogar etwa um 1 kg an Gewicht zu, kehrten aber nach 4 Jahren zu ihrem Ausgangsgewicht zurück.

Wirkstoffquartett mit einigen gleichen Outcomes

Schließlich zeigten die 4 Substanzen noch ähnliche Ergebnisse bei weiteren Zielgrößen. Dazu gehörten die Auswirkungen auf die Nierenfunktion, die distale sensorische Polyneuropathie und der LDL-Wert.

 
Aus meiner Sicht verdienen die Autoren einen Rüffel, denn die fehlende Berücksichtigung der SGLT2-Hemmer führt dazu, dass die GRADE-Daten im Grunde bereits überholt sind. Dr. David R. Matthews
 

Auch die Sicherheitsprofile der 4 Wirkstoffe waren vergleichbar: Die Quoten für schwerwiegende unerwünschte Ereignisse lagen alle innerhalb eines engen Bereichs von 33 bis 37%.

Die Quoten schwerer Hypoglykämie-Episoden, die eine zusätzliche medizinische Behandlung erforderten, wichen jedoch signifikant auseinander. Für Glimepirid lag dieser Wert bei 2,3% und führte über 1,4% für Glargin und 0,9% für Liraglutid zu 0,7% für Sitagliptin. Gastrointestinale Symptome traten bei etwa 50% der Patienten in 3 der Behandlungsgruppen auf und erreichten unter Liraglutid 60% einen signifikant höheren Wert.

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....