Während für viele Betroffene in den Überschwemmungsgebieten die Welt unterging, halfen Notfallseelsorger dabei den ersten Schock zu verarbeiten und Traumata zu vermeiden. Manchmal auch bei den Helfern. Aber wer fängt jene auf, die Wochen später immer noch nicht schlafen können? Dann könnten auch Hausärzte eine wichtige Rolle als Ansprechpartner für Opfer spielen. Fragen an den Notfallseelsorger Pfarrer Ralf Radix, wie man die Betroffen unterstützen kann, um langwierige psychische Schäden zu verhindern.
Medscape : Herr Radix, Sie sind Landespfarrer für Notfallseelsorge in der Evangelischen Kirche von Westfalen. Wie wirken sich diese extremen Erfahrungen von Zerstörung und Verzweiflung vor Ort auf die Psyche der Betroffenen und den Helfern aus?
Radix: Zweierlei: Zum einen fühlen sie sich bestärkt durch die enorme Hilfsbereitschaft, die den Betroffenen und den Hilfskräften entgegenkommt. Was jedoch das Erlebnis von Zerstörung und Tod bei Helfern und Betroffenen in den Überschwemmungsgebieten anrichtet, lässt sich heute noch gar nicht sagen.
Zum Teil haben sie schlimme Dinge erlebt: Da starben Menschen vor ihren Augen. Sie wurden von den Fluten weggerissen, ohne dass jemand hätte helfen können. Das sind Erfahrungen, die tief in die Seele einsinken.

Ralf Radix
Was die Helfer angeht, muss man sich klar machen, dass die meisten Ehrenamtliche sind. Weil sie zuvor noch nie so eine solche Katastrophe erlebt haben, stehen sie nun vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Mancher Feuerwehrmann ist selber betroffen. Er ist als Helfer ausgerückt und hat Stunden später erfahren, dass auch sein eigenes Haus unterspült ist und seine Familie in Gefahr. Die Bilder der Zerstörung sind gerade für Ehrenamtliche enorm belastend.
Medscape : Was tun die Notfallseelsorgerinnen und Seelsorger?
Radix: Wir hören vor allem den Betroffenen zu. Reden hilft. Studien belegen, dass Reden eine strukturierende Funktion hat. Die wirren und verwirrenden Bilder im Kopf setzen sich wie ein Puzzle langsam wieder zusammen. Beim Ordnen und Sortieren und Begreifen des Erlebten unterstützen Notfallseelsorgende mit einer bestimmten Form der Gesprächsführung.
Medscape : Wie genau läuft so ein Gespräch ab?
Radix: Man kann sich an 3 Schritten orientieren: Zunächst geht es um Stabilisierung. Die Menschen müssen sich in Sicherheit fühlen und mit dem Nötigsten versorgt sein.
Daran schließt sich die Phase der Orientierung an: Was ist eigentlich passiert? Da hören die Seelsorger vor allem zu und unterstützen die Betroffenen durch Nachfragen dabei, im großen Durcheinander festeren Boden unter die Füße zu bekommen. Es geht darum, zu realisieren: Es gibt mich noch. Ich habe überlebt. Mir geht es halbwegs gut. Ich lebe nicht in der Vergangenheit der Katastrophe, sondern ich lebe und zwar jetzt.
In der 3. Phase, der `Aktivierung der Ressourcen, unterstützen die Seelsorger dabei, die eigenen Widerstandskräfte wiederzuentdecken, wieder eigene Entscheidungen treffen zu können und soziale Netzwerke zu aktivieren.
Medscape : Wie viele Helfer sind von Traumatisierungen durch Hilfseinsätze betroffen?
Radix: Verletzungen an der Seele, das heißt ja „Psychotrauma“, haben eigentlich alle, die diese Katastrophe miterlebt haben, erlitten. Aber: Aus Studien wissen wir, dass rund 94% der Betroffenen, also auch der Helfer ohne professionelle Hilfe Extremsituationen verarbeiten.
Psychosoziale Begleitung in der Akutphase und Nachsorgeangebote unterstützen dabei wirksam. Es gibt aber unter den Betroffenen und auch Helfern Menschen, die zu einem späteren Zeitpunkt professionelle psychologische Hilfe in Anspruch nehmen müssen und auch sollten.
Wir als Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger kümmern uns aber vor allem um die von Katastrophen Betroffenen. Wir verfügen über ein Netz von Psychologen, Geistlichen und Psychotherapeuten, an die wir die Betroffenen bei Bedarf weiterleiten können. Denn oft können sie auch nach Wochen nicht schlafen, sind gereizt oder antriebslos, leiden unter den ständig wiederkehrenden Erinnerungen und können die Aufgaben des Alltags nicht bewältigen.
Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe unterstützt nach Katastrophen auch bei der Vermittlung von Traumatologen. Trauma-Ambulanzen sind auch oft eine gute erste Adresse. Natürlich stehen auch die Hausärzte zur Verfügung.
Ärztinnen und Ärzte kommen mit den Belastungen am Rettungsort in der Regel besser zurecht, weil es einfach ihr Beruf ist. Trotzdem werden manche Situationen als belastend empfunden, zum Beispiel der Tod von Kindern an Unfallorten.
Medscape : Was müssen Bewerber für die Notfallseelsorge mitbringen?
Radix: Auf jeden Fall persönliche Reife, und sie hängt nicht vom Lebensalter ab. Manche 23-Jährige, die ihren Bruder oder die Großeltern hat sterben sehen, ist reifer, als ein 30-Jähriger, der all das noch nicht erlebt hat.
Bewerber brauchen zudem psychische Stabilität und müssen mit beiden Beinen auf dem Boden stehen: Das heißt, sie brauchen Selbstbewusstsein und die Gabe, ihre Grenzen zu erkennen und ihre Rolle in der Rettungskette zu akzeptieren. Wir müssen nicht die Ersten am Einsatzort sein. Und wir werden auch nicht überall gebraucht, wo wir meinen gebraucht zu werden.
Medscape : Wie ist die Notfallseelsorge organisiert?
Radix: Deutschalandweit gibt es an jeder Leitstelle ein Notfallseelsorge-Bereitschaftsteam, das rund um die Uhr an jedem Tag des Jahres einsatzbereit ist. Manche Teams haben ihre Dienste als Wochen-Rufbereitschaft organisiert, andere arbeiten in 12-Stunden-Schichten. Sie alle sind durch die Leitstelle jederzeit alarmierbar.
Medscape: Wie wurden die Seelsorgerinnen und Seelsorger vorbereitet?
Radix: Alle haben eine lange intensive, praxis- und methodenorientierte Ausbildung hinter sich. Wir haben ein bundesweit abgestimmtes Curriculum von 100 Stunden Theorie und Übungen plus Hospitationen und Praktika. Natürlich sehen auch Seelsorger die Bilder der Zerstörung, den Tod, die Verzweiflung der Menschen. Auch sie müssen begreifen, was passiert ist. Aber sie sind vorbereitet und darin geschult, professionell zu unterstützen.
Medscape : Wie viele Notfallseelsorgerinnen und Seelsorger arbeiten in Deutschland?
Radix: Als Notfallseelsorgerinnen und Seelsorger der Kirchen sowie als Mitarbeitende von Kriseninterventionsdiensten der Hilfsorganisationen sind etwa 25.000 Menschen in Deutschland aktiv.
Medscape : Haben Sie Nachwuchssorgen?
Radix: Das ist sicher regional unterschiedlich. In Westfalen haben wir in den letzten Jahren ausreichend Interessierte, die sich für die Mitarbeit in der Notfallseelsorge ausbilden lassen möchten.
Nicht jeder Helfer ist nach einem belasteten Einsatz traumatisiert. Im Gegenteil. Oliver Gengenbach, Vorsitzender der Bundesvereinigung Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen (SbE e.V.), sagt, die Erfahrungen von Notärzten oder dem THW im Einsatz seien „vielschichtig“. Natürlich werde mancher Helfer auch traumatisiert. „Aber viele Einsatzkräfte sind auch stolz auf ihre Leistungen, ihnen wird Dank und Anerkennung entgegengebracht, sie haben in den Einsätzen etwas erreicht und konnten helfen. Genau deshalb sind sie ja zur Feuerwehr gegangen oder sind Notarzt geworden“, sagt Gengenbach.
Als nach eigenen Angaben größter deutscher Anbieter bietet die SbE e.V. Kurse zur Stressbewältigung von Einsatzkräften an. „Wir arbeiten in Peergroups, in denen den Einsatzkräften ein abgestuftes Maßnahmenpaket angeboten wird“, erläutert Gengenbach. „Das heißt, in den Gruppen treten neben psychosozialen Fachkräften auch Feuerwehrleute oder Notärzte als Gesprächspartner auf. Sie wissen, was die Kolleginnen und Kollegen erlebt haben aus eigener Erfahrung, sie kennen den Sprachcode.“ Gruppengespräche sind da sehr wertvoll, wenn man stets die Gefahr der Retraumatisierung im Auge behält, betont Gengenbach.
Inzwischen sei es weitgehend akzeptiert, dass Feuerwehrleute, Notärztinnen und -ärzte oder DRK-Mitarbeiter Angebote zur Trauma-Bearbeitung wahrnehmen. „Spätestens seit Eschede ist das klar“, sagt Gengenbach. 1998 forderte ein Zugunglück im niedersächsischen Eschede 101 Menschleben. Hunderte von Einsatzkräfte arbeiteten an der Unfallstelle.
Inzwischen existieren nach Gengenbachs Angaben flächendeckend Teams in Deutschland, die traumatisierten Einsatzkräften unter die Arme greifen. Aber es für die Betreuung von Krankenhauspersonal nach schweren Erfahrungen gibt es kaum Anlaufstellen. Dabei hätten Ärzte und Pflegende in Krankenhäusern mit Suizidversuchen von Patienten zu kämpfen, mit Kindern, die im OP gestorben sind oder einfach mit aggressiven Patienten. „Seit Corona ist noch deutlicher, dass es auch in vielen Krankenhäusern dienlich wäre, solche Unterstützungsteams zu haben“, sagt Gengenbach.
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Diesen Artikel so zitieren: „Traumata haben alle, die die Katastrophe miterlebten“ – Notfall-Seelsorger empfiehlt 3 erste Schritte für Flutopfer und Retter - Medscape - 21. Jul 2021.
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