Viele Ärzte kennen Patienten, die davon überzeugt sind, an einer chronischen Borreliose zu leiden – entgegen somatischer oder psychiatrischer Diagnose. Manche brechen sogar eine schulmedizinische Behandlung ab. Was hat es mit dem Phantom „chronische Borreliose“ auf sich?
Müdigkeit, Schmerzen, Kognition, Stimmung
Während die Lyme-Borreliose zweifellos zur Schulmedizin gehört, beginnen Unklarheiten bei der sogenannten „chronischen Borreliose“. Bezeichnungen wie „chronische Lyme-Borreliose“ und die „chronische Neuroborreliose“ werden dabei synonym verwendet. Alle bezeichnen sie ein Syndrom, das aus Fatigue, muskuloskelettalen Schmerzen, kognitiven Störungen und depressiver Verstimmung besteht. Die gleichen Symptome hat auch das Post-Borreliose-Syndrom, das als Residuum nach einer behandelten, akuten Lyme-Borreliose besteht, allerdings ebenfalls kaum scharf definiert ist [1].
Abgrenzung zu späten Phasen einer Lyme-Borreliose
Es handelt sich also nicht um gut beschriebenen Spätstadien einer disseminierten, unbehandelten Lyme-Borreliose mit Arthritis, Hautveränderungen und der mit 2% aller Fälle seltenen, späten Neuroborreliose. Die chronische Neuroborreliose äußert sich typischerweise mit Gangstörungen und Blasenstörungen, die sich über Monate bis Jahre schleichend entwickeln. Auch psychiatrische Störungen können dabei auftreten [1].
Eine der größten Kontroversen der Medizin
Die chronische Borreliose wird kontrovers diskutiert. Während Ärzte die Existenz dieses Syndroms abstreiten, fühlen sich Betroffene im Stich gelassen und suchen über Patientenverbände öffentliches Gehör. Fakt ist, dass Betroffene in ihrem Alltag deutlich eingeschränkt sind. Doch stecken wirklich Borrelien hinter den Beschwerden?
Dazu ein Beispiel: Selbst in Australien gibt es Patienten, die vermeintlich an chronischer Borreliose leiden, den Kontinent aber nie verlassen haben. Lyme-Borreliose gibt e sin Australien jedoch nicht [2]. Dennoch geben manche Patienten viel Geld für Borrelien-Diagnostik aus, in heimischen wie in internationalen Labors [3].
Historischer Streit vor Gericht
Die deutsche Leitlinie zur Neuroborreliose wurde in ihrer neuesten Fassung 2018 von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) veröffentlicht – nach einem historisch einmaligen Rechtsstreit zwischen der Fachgesellschaft, Patientenverbänden und der ärztlichen Deutsche Borreliose-Gesellschaft. Die Befürworter der chronischen Borreliose verzögerten die Publikation der Leitlinie mit einer einstweiligen Verfügung um mehrere Monate.
Die DGN bezog eine klare Stellung. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass die Symptome einer chronischen Neuroborreliose „trotz unauffälliger Liquordiagnostik auf eine nicht erkannte oder unzureichend behandelte Infektion des Nervensystems mit Borrelien zurückzuführen sind“[4].
Grundlage dieser Aussage sind systematische Literaturrecherchen, wie bei S3-Leitlinien üblich. Die Assoziationen mit der vermeintlichen, chronischen Neuroborreliose seien laut Datenlage auf Studienartefakte aufgrund der unscharfen Falldefinition zurückzuführen. Außerdem gebe keine Hinweise für den Vorteil einer Langzeitantibiose [4].
Die Gegenseite stellt sich jedoch vehement gegen diese Aussage und sieht darin eine Missachtung der Leiden von Betroffenen. Sie hält an dem Zusammenhang zwischen einer andauernden, latenten Borrelien-Infektion und den Symptomen fest. Die Deutsche Borreliose-Gesellschaft erörtert in ihrer Stellungnahme, die sich im Leitlinienreport befindet, detailliert Kritikpunkte zu den einzelnen Aussagen der DGN-Leitlinie.
Alternative Leitlinie zur Lyme-Borreliose
In ihrer eigenen Leitlinie, Stand Dezember 2010, erläutert die Deutsche Borreliose-Gesellschaft, dass sich chronische Borreliose auch ohne initiales Frühstadium entwickeln und auch nach Jahren im Rahmen einer Multiorganerkrankung zahlreiche Symptome auftreten können [5].
Durch die etablierte 2- bis 3-wöchige Antibiose mit einem Monopräparat würden viele Erkrankte nicht adäquat behandelt. Erreger könnten sich durch Escape-Mechanismen dem Immunsystem entziehen. Infolgedessen sei eine Langzeitantibiose zu bedenken. Konkrete Zeitintervalle werden in der Leitlinie hingegen nicht angegeben [5].
2 Erkenntnisse seien von „herausragender Bedeutung“:
Die Antibiose im Frühstadium ist wirksamer als im Spätstadium.
Bei jedem Antibiotikum könne der Therapieerfolg verzögert sein oder ausbleiben, sodass ggf. mit einem anderen Antibiotikum nachbehandelt werden müsse.
Langzeitantibiose über Monate oder Jahre
Die Gabe von zum Teil wechselnden Antibiotika über Monate hinweg ist im besten Falle sinnlos, im schlimmsten Fall lebensgefährlich. Von einer pseudomembranösen Colitis über substanzspezifische Nebenwirkungen bis hin zu schweren Infektionen mit entsprechend selektierten, resistenten Erregern sind viele Nebenwirkungen denkbar.
In einem Morbiditäts- und Mortalitäts-Bericht der Centers for Disease Control and Prevention (CDC), Atlanta, sind beispielhaft 5 Fälle von durch die inadäquate Borreliose-Therapie schwer geschädigten oder gestorbenen Patienten aufgeführt. Manche von ihnen erlitten einen septischen Schock durch liegende Venenkatheter, die zur Administration der Antibiotika dienten [5].
„Borreliose-Kliniken“ auch in Deutschland
Das Phänomen der chronischen Borreliose existiert nicht nur in den USA. Auch in Deutschland gibt es „Borreliose-Kliniken“, in denen eine internationale Klientel für viel Geld diverse Therapien erhält.
Neben Antibiotika kommen auch Nahrungsergänzungsmittel zum Einsatz, die von den Betreibern der Kliniken selber verkauft werden. Auch gibt es in Deutschland international bekannte Speziallabore, die unzureichend validierte Tests anbieten, um eine chronische Borreliose nachzuweisen.
Starke Internetpräsenz der Borreliose-Aktivisten
Akteure der chronischen Borreliose-Bewegung haben im Internet, sobald man nach Borreliose oder Zeckenstich sucht, eine überwältigende Präsenz. Besonders wirksam ist die Arbeit der Patientenverbände, z.B. der Borreliose- und FSME-Bund. Seiten, die zunächst harmlos wirken, enthüllen nach ein paar Klicks jedoch schnell ihre Agenda. Die wichtigsten Kernaussagen [7]:
Schulmediziner sind nicht ausreichend über die chronische Borreliose informiert.
Die anerkannten diagnostischen Tests sind unzureichend.
Die Borreliose ist ein „großer Imitator“ (eine alte Bezeichnung für die Syphilis).
Die anerkannte Antibiotikatherapie ist unzureichend.
Betroffene werden auf die „Psychoschiene“ geschoben, sodass sie für die „richtige“ Diagnose kämpfen müssen.
Betroffene sollten sich hüten, beim Arzt über ihre Recherchen zu reden, sonst lautete die Diagnose „Internetborreliose“.
Rheumatische, neurologische oder psychiatrische Diagnosen sind das Resultat ärztlicher Inkompetenz.
Überlappung mit Chronic Fatigue & Co.
Auf solche Informationen stoßen nicht nur Menschen, die gerade von einer Zecke gestochen wurden oder tatsächlich gerade eine akute Borreliose haben. Auch Patienten mit den beschriebenen, chronischen diffusen Beschwerden, die vielleicht bereits mit einem Chronic Fatigue-Syndrom, Fibromyalgie oder einer Konversionsstörung diagnostiziert wurden, müssen nicht lange nach diesen Seiten suchen.
Betroffene fühlen sich nicht ernst genommen
In Environmental Health Perspectives versetzen sich Sigal und Hasset (2002) in die Lage der Betroffenen. Die Autoren machen verständlich, warum viele Patientinnen und Patienten über Jahre hinweg an der vermeintlichen Diagnose „chronische Borreliose“ festhalten und für zweifelhafte Behandlungsmethoden viel Geld aus eigener Tasche zahlen.
Die Menschen leiden an Müdigkeit, depressiver Stimmung, Schwäche und an Schmerzen. Diese sind schließlich nicht eingebildet [8]. Man sollte stets im Hinterkopf behalten, dass auch Schmerzen, die man schulmedizinisch als psychosomatisch bedingt interpretiert, echte Schmerzen sind, die die Patientinnen und Patienten genauso empfinden wie organisch bedingte Schmerzen.
Da in unserer Gesellschaft psychisch bedingte Störungen nach wie vor mit einem immensen Stigma belegt sind, fühlen sich Betroffene bei einer solchen Diagnose nicht ernst genommen [8]. Die abwertende innere Grundhaltung mancher Somatiker gegenüber Betroffenen, besonders wenn sie neben akut somatisch Erkrankten Ressourcen verbrauchen, verschärft dieses Problem.
Borrelien geben unklaren Symptomen einen Namen
Es gibt keine klaren Labormarker und keine definitiv wirksame Therapie für diese diffusen Störungen. Borrelien bieten da eine Alternative, denn sie geben Symptomen einen Namen, begrenzen die Angst vor dem unbekannten, schwer fassbaren Leidenszustand. Das Feindbild besteht nicht nur aus dem Bakterium und der Zecke, sondern auch den Schulmedizinern und Krankenkassen, während die Betroffenen sich in Selbsthilfegruppen und Verbänden sozialen Rückhalt geben [8].
Ein sekundärer Krankheitsgewinn durch die Krankenrolle ist ebenso denkbar. Außerdem müssen frühkindliche traumatische Erlebnisse, die sich bei Betroffenen mit chronischen Schmerzen oder Fatigue sehr oft finden, nicht konfrontieren werden. Oder die grundsätzlich heilbare Borrelien-Infektion ist sehr viel weniger angsteinflößend als die unheilbare, fortschreitende neurodegenerative oder rheumatische Erkrankung.
Ständige Rekrutierung neuer Betroffener
Nicht validierte Labordiagnostik, die falsch-positive Ergebnisse erzeugt, bringt den Leistungserbringern nicht nur Geld, sondern rekrutiert zuverlässig neue Betroffene, die dann wiederrum bereit sind, viel Geld für die „Therapie“ auszugeben. Nicht zu vergessen sind auch diejenigen Personen, deren somatische Grunderkrankung, z.B. rheumatologischer oder neurologischer Art, dadurch unbehandelt bleiben.
Weitere Informationen zu den Hintergründen der Borreliose-Aktivisten, medizinisches Wissen sowie Berichte ehemaliger Lyme-Ärzte und -Patienten sind auf der Seite lymescience.org zu finden.
Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Coliquio.de.
Medscape Nachrichten © 2021
Diesen Artikel so zitieren: Gefährlich oder nur umstritten? Patienten kämpfen im Netz um Anerkennung der „chronischen Borreliose“ – Fakten und Fiktion - Medscape - 19. Jul 2021.
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