MEINUNG

2 Wahrheiten und ein Lügenfall – Was ein Pathologe zur Zusammenarbeit mit anderen Ärzten sagt

Benjamin Mazer

Interessenkonflikte

7. Juli 2021

Dr. Benjamin Mazer ist Pathologe am Yale-New Haven Hospital, New Haven, Connecticut. Für Medscape schreibt er über die manchmal schwierige Zusammenarbeit mit anderen Ärzten – und wie man Missverständnisse vermeiden könnte. Hier sein Kommentar über die Probleme mit Kollegen anderer Fachrichtungen.

Pathologen werden manchmal als „Ärzte der Ärzte“ bezeichnet, aber ich habe festgestellt, dass unsere „Patienten“, also die Onkologen, Chirurgen und all die anderen Ärzte, meistens keine Termine bei uns machen.

Aber da bin ich offenbar nicht der Einzige, dem das so geht. Eine kürzlich im Journal of General Internal Medicine veröffentlichte Studie befragte angehende Fachärzte und Oberärzte, wie oft sie mit Pathologen zusammengearbeitet haben. Sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Versorgung kommunizierte die Mehrheit der Befragten selten oder nie mit Kollegen aus der Pathologie.

Da die meisten Patienten entweder direkt (im Falle von histologischen Untersuchungen) oder indirekt von Pathologen betreut werden (durch Aufsicht über klinische Labore und Blutbanken, was in den USA in das Aufgabengebiet der Pathologie fällt), ist dieser Mangel an Kommunikation einigermaßen ernüchternd und auch gefährlich.

Eine schlechte Zusammenarbeit zwischen Pathologen und Klinikern bedeutet sowohl kleine als auch große Missverständnisse, und da Pathologen fast alle Krebsarten diagnostizieren, könnten die Anforderungen nicht höher sein.

In der Hoffnung, damit die zukünftige Zusammenarbeit zu fördern, widme ich mich in diesem Beitrag 2 oftmals falsch verstandenen „Wahrheiten“ und einer verbreiteten „Unwahrheit“, wie ich sie sehr häufig bei meinen klinischen Kollegen gehört habe.

Es gibt keine „bösartigen Zellen“

Diese „Wahrheit“ wird jeden Onkologen überraschen, der je einen Pathologiebericht gelesen hat, in dem eine Biopsie als „positiv für bösartige Zellen“ eingestuft wird: Ein Krebs lässt sich nicht aus den Zellen allein diagnostizieren. Pathologen stützen sich auch auf die Epidemiologie, auf historische Beobachtungen und Expertenmeinungen, um ihre Entscheidung zu treffen. Der Pathologe Dr. Juan Rosai sprach viele von uns aus der Seele, als er erklärte, dass „die Aufteilung der Tumore in gutartig und bösartig nicht ausreicht, um die schier unendliche Vielfalt menschlicher Neoplasien abzubilden“.

Das verwirrt selbst erfahrene Onkologen. Ein kürzlich in der Zeitschrift JAMA Oncology veröffentlichter Leitartikel, in dem die Kontroverse über „Low-grade“-Schilddrüsentumore diskutiert wurde, überging diese Spitzfindigkeit und erklärte, „ein Krebs ist ein Krebs, ob man ihn nun als Knoten, Masse, Tumor, Neoplasie oder Krebs bezeichnet. Wenn sich maligne Zellen in der Probe befinden, ist es eben Krebs.“ Da Malignität und Krebs Synonyme sind, ist die Aussage, dass maligne Zellen Krebs sind, sinnlos.

 
Die Aufteilung der Tumore in gutartig und bösartig nicht ausreicht, um die schier unendliche Vielfalt menschlicher Neoplasien abzubilden. Dr. Juan Rosai
 

Ein Krebs ist tatsächlich nicht immer ein Krebs. Bei den Schilddrüsentumoren wurde eine häufige Form des Schilddrüsenkarzinoms kürzlich herabgestuft, indem man das Wort Krebs (Karzinom) aus seinem Namen entfernte. In der Mammapathologie wird das „lobuläre Karzinom in situ“ verwirrenderweise nunmehr als gutartig eingestuft, ohne jedoch den Namen „Karzinom“ einzubüßen. Was gestern noch Krebs war, muss heute noch lange kein Krebs sein.

Diese Anpassungen sind eine Reaktion auf das epidemieartige Überdiagnostizieren von Krebserkrankungen der Schilddrüse, Mamma, Prostata, von Melanomen und anderen Krebsarten. Es gibt selbst unter Ärzten das Missverständnis, dass Überdiagnose auch Fehldiagnose bedeutet, aber das könnte nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein. Wenn etwa ein Dutzend Pathologen darin übereinstimmen, dass ein Tumor ein „papilläres Schilddrüsenmikrokarzinom“ ist, ist es immer noch wahrscheinlich, dass der Tumor überdiagnostiziert wurde: Dieser häufige, träge wachsende „Krebs“ hat den Menschen eigentlich noch nie ernsthaft geschadet.

Wenn wir daran festhalten, Tumore starr nach gut- oder bösartig zu kategorisieren, verschärfen wir dieses Problem nur noch, da Krebserkrankungen ein breites Spektrum an Aggressivität aufweisen. Die seit Langem bestehende Angst unseres gesamten Berufsstandes, etwas unterzubehandeln, das als „Krebs“ bezeichnet wird, hat unsere Fähigkeit beeinträchtigt, ein ähnlich breites Spektrum an Interventionen zu entwickeln.

Eine bessere Zusammenarbeit von Pathologen und Onkologen könnte dazu führen, dass die Patienten die Risiken, die ein bestimmter Tumor für ihre Gesundheit darstellt, wirklich verstehen. Dann ließen sich auch mehrere evidenzbasierte Kontroll- oder Therapieoptionen entwickeln, die es den Patienten erlauben, eine auf seine individuelle Sichtweise dieser Risiken abgestimmte Therapie zu wählen.

Der beste Labortest ist eine zweite Meinung

Obwohl manche Tumore definitiv diagnostiziert werden können, besteht bei anderen eine diagnostische Unsicherheit. Wenn ein Pathologe einen Krebs diagnostiziert, verlässt er sich dabei sowohl auf die technischen Möglichkeiten als auch auf sein klinisches Urteilsvermögen. Manche maligne Merkmale sind recht subtil und schwer zu erkennen, andere sind schlicht uneindeutig. Kleinste Malignome, die beispielsweise in einen Lymphknoten metastasieren oder sich in einer Linie über den Magen ausbreiten, tauchen manchmal nur in einem einzigen mikroskopischen Feld auf oder sehen wie benigne Veränderungen aus. Dieses pathologische „Wimmelbuch“-Suchbild wird leichter gelöst, wenn der Pathologe mehr Erfahrung besitzt.

 
Eine bessere Zusammenarbeit von Pathologen und Onkologen könnte dazu führen, dass die Patienten die Risiken, die ein bestimmter Tumor für ihre Gesundheit darstellt, wirklich verstehen. Dr. Benjamin Mazer
 

Subspezialisten, die immer wieder dieselben Tumore sehen, haben wohl eine größere und entwickeltere technische Expertise – so wie ein Chirurg, der schon viele Operationen durchgeführt hat, wahrscheinlich präziser und sicherer arbeitet. Manche seltenen Tumore landen nur einmal in der Laufbahn auf dem Kreuztisch eines Pathologen, und der entscheidende Faktor für eine korrekte Diagnose könnte dann sein, ob der Pathologe dieses Bild schon einmal gesehen hat oder nicht.

Das New York Times Magazine veröffentlichte sogar kürzlich eine Geschichte über einen Spezialisten am National Institutes of Health, der ein seltenes Lymphom diagnostizieren konnte, das andere ebenfalls gewissenhaft arbeitende Pathologen nicht hatten erkennen können. Sogar bei häufigen Krebsarten werden Staging- und Grading-Ergebnisse überarbeitet. Subspezialisten sind mit diesen sich ständig ändernden Feinheiten möglicherweise besser vertraut.

Andererseits fehlen bei vielen pathologischen Diagnosen entscheidende Kriterien, sodass Pathologen gleiche Beobachtungen unterschiedlich gewichten können und niemand dabei falsch liegt. Dieses Problem rückte kürzlich ins Blickfeld, als sich nach einer im BMJ veröffentlichten Studie selbst erfahrene Spezialisten oft nicht einig darüber waren, ob ein Hauttumor ein gutartiges Muttermal oder ein bösartiges Melanom war – 2 scheinbar völlig gegensätzliche Diagnosen. Da es bisher noch keinen einzigen mikroskopischen Befund gibt, der eine Melanomdiagnose sichert, können die Expertenmeinungen auseinandergehen.

Das gleiche Dilemma besteht bei der Bewertung eines Prostatakarzinoms. Spezialisierte Pathologen können darüber uneins sein, ob ein Tumor dem Gleason Grad 3 oder Grad 4 entspricht, was den Unterschied zwischen einem aktiven Monitoring und einer aggressiven Therapie bedeuten kann.

Onkologen drängen manchmal darauf, die neuesten, technisch ausgefeiltesten Untersuchungsmethoden zu probieren, wenn die pathologische Diagnose fraglich ist und eine Diagnoseänderung erhebliche Auswirkungen auf die Versorgung des Patienten hat. Eine weitere Studie über melanozytäre Läsionen zeigte zum Beispiel, dass eine 2. Pathologenmeinung die Diagnose in etwa 15% der Fälle so veränderte, dass dies Folgen für die Behandlung hatte.

Zweitmeinungen sind leicht zu bekommen – Objektträger und Gewebeproben können zu verschiedenen Pathologen gesendet werden – und manche Einrichtungen beauftragen inzwischen eigene Pathologen damit, außerhäuslich gestellte Diagnosen zu kontrollieren, bevor eine Behandlung eingeleitet wird.

 
Zweitmeinungen können sowohl dabei helfen, diagnostische Fehler zu vermeiden als auch den behandelnden Arzt auf Unstimmigkeiten bei der Befundinterpretation aufmerksam machen. Dr. Benjamin Mazer
 

Zweitmeinungen können sowohl dabei helfen, diagnostische Fehler zu vermeiden als auch den behandelnden Arzt auf Unstimmigkeiten bei der Befundinterpretation aufmerksam machen. Manche Onkologen oder Chirurgen zögern vielleicht, wenn es darum geht, Zweifel an einer lebensverändernden Diagnose aufkommen zu lassen, aber ein Pathologe mit einer Zweitmeinung sollte wie bei jeder anderen Expertenkonsultation als Chance für einen frischen Blick und als wertvolle Verstärkung des behandelnden Teams betrachtet werden.

Und eine Unwahrheit: Pathologen helfen dir nicht beim Patientengespräch

Pathologen gelten bei Kollegen mitunter als introvertiert und unsozial. Das entspricht ganz und gar nicht meinen Erfahrungen, denn ich habe die meisten als umgängliche Gesprächspartner erlebt. Die immer größere Verbreitung findenden multidisziplinären Tumorkonferenzen sind eine gute Möglichkeit für Onkologen und Chirurgen, die Fähigkeit von Pathologen, ihre diagnostischen Einsichten zu vermitteln, direkt mitzuerleben, insbesondere wenn sie in diesen Meetings eine zentrale Rolle spielen können.

 
Pathologen gelten bei Kollegen mitunter als introvertiert und unsozial. Das entspricht ganz und gar nicht meinen Erfahrungen. Dr. Benjamin Mazer
 

Obwohl wir meistens mit Ärzten und Laborpersonal kommunizieren, werden wir zunehmend von Patienten kontaktiert, die jetzt leichteren Zugang zu ihren medizinischen Unterlagen und zu Online-Informationen haben. Einige Pathologen haben sogar Beratungsstunden für Patienten eingerichtet. Wie andere Pathologen auch kenne ich ängstliche Patienten, die Vorbehalte gegenüber einer aggressiven Behandlung hatten, bis sie zusammen mit einem Pathologen ihren Krebs unter dem Mikroskop selbst sehen konnten. Bei solchen persönlichen Kontakten entwickelt sich schnell ein Vertrauensverhältnis.

Ich kenne auch die nichtssagenden diagnostischen Formulierungen in Pathologiebefunden, die den Patienten Sorgen bereiten, bis schließlich ein Pathologe sie durch Erläuterungen zerstreuen kann.

Die meisten unserer Diagnosen werden jedoch weiterhin von Onkologen und Chirurgen vermittelt. Diese Ärzte haben oft Mühe, unsere Befunde genau wiederzugeben. Ich habe Fälle erlebt, in denen sich Ärzte sich fälschlicherweise durch zurückhaltende Formulierungen seitens des Pathologen in ihren Einschätzungen bestätigt sahen. So wurde z.B. die Aussage, dass der Pathologe „ein zugrunde liegendes invasives Karzinom nicht ausschließen kann“, als hohle Phrase gedeutet und nicht als bewusster Warnhinweis, dass eine solche Möglichkeit durchaus besteht. In solchen Fällen können die Patienten eine wichtige Folgebiopsie versäumen.

Die Pathologen arbeiten ihrerseits daran, Berichte für verschiedene Zielgruppen gleichzeitig zu verfassen: Onkologen, Chirurgen, andere Pathologen, Patienten und sogar Wissenschaftler. Dadurch entstehen Feedback-Schleifen der Fehlkommunikation, in denen manchmal niemand mehr direkt miteinander spricht und Fehler unkorrigiert bleiben.

Schon in meiner kurzen chirurgischen Ausbildungszeit habe ich Chirurgen kennengelernt, die von dem Fachjargon eines Pathologen verwirrt waren und nicht sicher wussten, ob der Patient jetzt operiert werden musste oder nicht. Ich weiß nicht, ob es eine Frage des Stolzes ist oder ob es an Zeitmangel oder an dem Vorurteil, dass Pathologen nicht effektiv kommunizieren könnten, liegt, dass solche Fragen nicht in offener und formaler Form besprochen werden, sondern dass Assistenzärzte darüber auf den Gängen tuscheln.

Eine gestörte Kommunikation kann in Gesundheitsfragen drastische Folgen haben, und es ist besonders traurig, wenn ein kurzes Telefonat oder ein persönliches Gespräch mit einem Pathologen dies hätte verhindern können. Die aktivere Zusammenarbeit mit Pathologen in den Tumorkonferenzen ist ein einfacher Weg, um die Kommunikation zwischen Pathologie und Onkologie zu verbessern.

 
Eine gestörte Kommunikation kann in Gesundheitsfragen drastische Folgen haben. Dr. Benjamin Mazer
 

Aber die behandelnden Ärzte sollten auch eine Zusammenarbeit mit Pathologen in Betracht ziehen, um interessierten Patienten Treffen zur Erläuterung von Pathologiebefunden anzubieten. Da die Patienten immer mehr Energie darauf verwenden, in die Details dieser komplexen Berichte einzusteigen, sind die Pathologen selbst am besten in der Lage, viele der speziellen Fragen zu beantworten.

Obwohl sie die „Ärzte der Ärzte“ sind, bleibt die Arbeit von Pathologen für andere Ärzte oft noch rätselhaft. Ob es nun um die wahre Natur eines Malignoms oder um die Aussagekraft unserer Diagnosen geht, gibt es stets eine Reihe von stummen Überzeugungen über die Pathologie. Nur wenn wir solche Vorstellungen offen diskutieren, können wir sie durch die Realität ersetzen.

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
 

Kommentar

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