Häusliche Pflege wird in Zukunft auf jeden Fall teurer: In einem spektakulären Grundsatzurteil hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) jetzt entschieden, dass den oft aus Osteuropa kommenden Haushaltshelfern der Mindestlohn gezahlt werden muss – und dies auch für „Bereitschaftszeiten“. Bei einer sogenannten 24-Stunden-Pflege, die eine Unterstützung des Pflegebedürftigen quasi rund um die Uhr umfasst, wird sich die Zahl der zu entlohnenden Arbeitsstunden deutlich erhöhen, jedenfalls dort, wo die Arbeitgeber bisher von nur 6 oder 8 Stunden pro Tag ausgehen.
Geklagt hatte eine Bulgarin, die im Auftrag eines bulgarischen Unternehmens in Berlin eine 96-jährige Seniorin betreut hatte. Der Arbeitsvertrag sah 6 Arbeitsstunden täglich und 30 pro Woche vor. Zu den Pflichten der Pflegerin gehörte aber, den gesamten Alltag der alten Dame zu managen: waschen, kochen, einkaufen, Arzttermine bis hin zu Spaziergängen sowie der Aufgabe, ihr einfach nur Gesellschaft zu leisten.
Tatsächlich habe sie 24 Stunden täglich gearbeitet, an 7 Tagen pro Woche, machte die Klägerin vor Gericht geltend. „Ich war immer auf Abruf, immer in der Wohnung oder bei der Patientin – ich hatte nicht mal Zeit, um bis zum Alexanderplatz zu fahren, um dort einen Kaffee zu trinken“, so die Pflegekraft gegenüber dem ZDF. Im Arbeitsvertrag aber waren nur 6 Stunden pro Tag vereinbart, für einen Monatsverdienst von 1.500 Euro brutto.
Das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg hatte ihr in einem spektakulären Urteil eine Nachzahlung von mehr als 38.000 Euro für 7 Monate im Jahr 2015 zugesprochen – zusätzlich zu den knapp 6.700 Euro netto, die sie erhalten hatte. Das LAG war von 21 Arbeitsstunden pro Tag ausgegangen. Der gesetzliche Mindestlohn liegt seit Anfang des Jahres bei 9,50 Euro.
Was Pflegekräfte künftig verdienen werden, ist noch offen
Das BAG hob dieses Urteil nun auf und verwies es zur Neuverhandlung zurück ans LAG. Das Gericht stufte die Annahme eines 21-Stunden-Tages als überzogen ein. Es fehle an ausreichenden Anhaltspunkten, dass die Frau nur 3 Stunden täglich Freizeit gehabt habe. Doch auch das BAG geht davon aus, dass die Frau sehr viel mehr als nur 30 Stunden pro Woche gearbeitet hat. Auch den Bereitschaftsdienst zählt es ausdrücklich zur Arbeitszeit. Wie viele Stunden dies im konkreten Fall waren, muss nun das LAG ermitteln.
Was Pflegekräfte künftig verdienen werden, ist noch offen. Das LAG Berlin-Brandenburg hatte der Klägerin für 21 Stunden täglich den Mindestlohn zugesprochen, das BAG hielt das für zu hoch, die im Arbeitsvertrag veranschlagten 6 Stunden aber für deutlich zu wenig. Die Wahrheit dürfte also irgendwo dazwischen liegen.
Möglicherweise müssen die Arbeitsgerichte nun im Einzelfall ermitteln, wie viel tatsächlich gearbeitet wird. Möglich sind aber auch Schätzungen, die sich am Umfang der vereinbarten Hilfs- und Pflegedienste orientieren. Genaueres dürfte sich erst aus der schriftlichen Urteilsbegründung ergeben; diese wird in einigen Wochen erwartet.
Wer die höheren Kosten zahlt, ist bislang unklar. Zunächst machen Pflegekräfte ihre Forderungen gegenüber der Agentur geltend, die sie vermittelt hat. Mittelfristig werden diese die Kosten aber an die Pflegebedürftigen weitergeben werden. Die Forderung von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) nach einer Pflege-Bürgerversicherung wies Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) allerdings zurück, sprach sich aber dafür aus, eine eigene gesetzliche Regelung zu Arbeitsschutz und Arbeitszeiten zu schaffen.
Sozialverbände warnen, dass häusliche Pflege unbezahlbar wird
Die Reaktionen auf das BAG-Urteil fallen gemischt aus. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi begrüßte die Entscheidung. „Das ist ein klares Signal: Alle Beschäftigten, die in Deutschland arbeiten, sind von den hiesigen Arbeitsschutzgesetzen erfasst – unabhängig von ihrer Herkunft und davon, mit wem sie ihren Arbeitsvertrag geschlossen haben“, sagte ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler. „Das Modell der sogenannten 24-Stunden-Pflege basiert auf systematischem Gesetzesbruch. Damit muss Schluss sein.“
Als „Paukenschlag für die Beschäftigten“ wertet Anja Piel, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) das BAG-Urteil. „Das Urteil schränkt die Chance für ausbeuterische Geschäftsmodelle ein, mit dem sich Vermittler bisher zu Lasten der Beschäftigten eine goldene Nase verdienen konnten“, sagt Piel.
Auch Rechtsanwältin Dr. Susanne Punsmann von der Verbraucherzentrale NRW hält es im Interview mit dem Deutschlandfunk für richtig, dass es künftig „keine 24-Stunden-Betreuung zum Preis einer 8-Stunden-Kraft gibt“. Sie erinnert aber auch daran, dass das bisher an pflegebedürftige Menschen ausgezahlte Pflegegeld nicht reiche, um die Kosten für die Betreuung in den eigenen 4 Wänden zu decken. Wer im Heim lebe, erhalte deutlich höhere Zuschüsse von der Pflegekasse. Das ist aus ihrer Sicht nicht länger zu rechtfertigen.
„So nachvollziehbar die Entscheidung auch ist: Das Urteil löst einen Tsunami aus für alle, die daheim auf die Unterstützung ausländischer Pflegekräfte angewiesen sind“, erklärt Eugen Brysch, Vorstand bei der Deutsche Stiftung Patientenschutz.
„Es droht das Armageddon der häuslichen Pflege“, warnt Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK. Bentele erinnert daran, dass durch die jetzt auch vom Bundesrat gebilligte Pflegereform (GVWG) zuhause Gepflegte „unterm Strich weniger Pflegegeld“ bekommen.
Mit seinem Urteil zur 24-Stundenpflege habe das BAG Fakten für die häusliche Pflege geschaffen: „ Rund-um-die-Uhr Pflege ist nur noch mit Mindestlohn legal. Für die allermeisten wird sie damit unbezahlbar. Das kommt davon, wenn Politik ein drängendes Problem jahrelang ausblendet.“ Bentele sprach von einer „ Bankrotterklärung für das ambulante Pflegesystem“.
Der Bundesverband für häusliche Betreuung und Pflege e.V. (VHBP) begrüßt das BAG-Urteil, stellt aber auch klar: „Dadurch entstehende Kosten in Höhe von ca. 12.000 bis 15.000 Euro pro Monat kann ein normaler Pflegebedürftiger nicht mehr bezahlen.“ Berlin müsse endlich aufwachen und für bezahlbare Rechtssicherheit sorgen. Aktuell würden in Deutschland ca. 300.000 Menschen in häuslicher Gemeinschaft durch osteuropäische Betreuungspersonen versorgt. Im Laufe eines Jahres reisten 700.000 v.a. Frauen ein und aus – der überwiegende Anteil von ihnen illegal, schreibt der Verband.
Die meisten osteuropäischen Arbeitskräfte erhalten laut VHBP ein Netto-Monatsgehalt von mindestens 1.400 bis 1.500 Euro – allerdings nur, wenn sie aus dem EU-Ausland kommen. „Menschen aus Drittländern werden häufig schwarz und zu schlechteren Bedingungen beschäftigt“, sagt Frederic Seebohm vom VHBP. Seebohm schätzt, dass nur 10% der 24-Stunden-Kräfte über seriöse Agenturen legal in Deutschland arbeiten. Die restlichen 90% seien illegal angestellt, etwa über Pseudo-Mini- oder Midi-Job-Konstruktionen, oder bekämen ihr Geld bar, ohne überhaupt angemeldet zu sein.
Hausbetreuungsgesetz: Vorbild Österreich?
„Der Rechtsstaat hat jetzt zu handeln und Pflegebedürftige und Pflegekräfte gleichermaßen zu schützen. Qualitativ hochwertige Pflege hat ihren Preis“, erklärt Bernd Meurer, Präsident des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste e.V. (bpa). Er mahnt, dass das Urteil jetzt Folgen haben und in die Praxis umgesetzt werden müsse.
Aus Seebohms Sicht könnte man sich an Österreich orientieren. Vor mehr als 10 Jahren wurden dort mit dem Hausbetreuungsgesetz besondere arbeitnehmerähnliche Beschäftigungsverhältnisse für 24-Stunden-Kräfte geschaffen, inklusive Sozialversicherungsschutz und staatlicher Förderung. „Das bietet eine lebenspraktische Lösung mit Rechtssicherheit, die wir in Deutschland nicht haben“, sagt Seebohm.
Auch Spahn hatte am Freitag auf das österreichische Modell verwiesen. „Betreuung in häuslicher Gemeinschaft ist durch klassische Arbeitsverträge meist nicht darstellbar. Unser Rechtssystem bietet für das Leben und Arbeiten an einem Ort keine Lösung. Wir brauchen dringend eine Alternative wie in Österreich“, sagt auch Daniel Schlör, Vorsitzender des VHBP.
Dass die Erwartungshaltung von betroffenen Familien, für vergleichsweise wenig Geld eine „Rund-um-die-Uhr-Betreuung“ zu erhalten, ein Problem darstellt, bestätigt Markus Küffel, Geschäftsführer der Agentur Pflege zu Hause Küffel GmbH, die seit 15 Jahren osteuropäische Pflegekräfte vermittelt.
Küffel erklärt, dass seine Agentur den Kunden gegenüber klar die Grenzen des Pflegemodells kommuniziere, deutlich mache, dass eine Anwesenheitsbereitschaft oder mehrere Nachteinsätze nicht dazu gehören und im Bedarfsfall weitere Akteure (Angehörige, Freunde, ambulanter Pflegedienst etc.) eingesetzt werden müssten.
Er hält eine politische Regelung für „längst überfällig“. Eine Lösung könnte seiner Ansicht nach darin bestehen, Betreuungskräfte in der häuslichen Pflege nicht mehr als Arbeitnehmer, sondern als Arbeitnehmer-ähnliche Personen zu bewerten. Natürlich ließen sich Bereitschaftszeit und Freizeit der Betreuungskraft nur schwer voneinander abgrenzen, wenn sie sich die Wohnung mit der pflegebedürftigen Person teile.
Eine Regelung solle „keinesfalls zu einer Entgrenzung von Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen“ führen, „aber berücksichtigen, dass es in einer Betreuung in häuslicher Gemeinschaft bezüglich Arbeits- und Bereitschaftszeiten mehr Flexibilität benötigt, als die aktuelle Rechtslage hergibt“, meint Küffel.
DGB-Vorstandsmitglied Piel hält nichts davon, dem Vorbild Österreichs zu folgen. Wenn die Arbeitgeber nun Ausnahmen erwirken wollten, ziele das nur darauf ab, den jahrelangen „Rechtsbruch zum Gesetz zu erheben“, so Piel im Handelsblatt. Hart erkämpfte Mindeststandards wie eine faire Bezahlung müssten aber für alle gelten – unabhängig von ihrer Herkunft.
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Diesen Artikel so zitieren: „Es droht das Armageddon der häuslichen Pflege“ – die Folgen des spektakulären Urteils des Bundesarbeitsgerichts - Medscape - 30. Jun 2021.
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