Medscape: Herr Waraich, seit einigen Wochen stehen 3 weiße Zelte auf dem Markt des Hannoveraner Brennpunkt-Stadtteils Vahrenheide. Sie haben diese zusammen mit der Feuerwehr aufgebaut. Was hat es mit den Zelten auf sich?
Waraich: Das ist eine kleine Zeltstadt, die wir bei Bedarf sogar noch einmal um 3 weitere Zelte erweitern können. Sie soll den Bewohnerinnen und Bewohnern des Stadtteils niedrigschwellig die Gelegenheit bieten, sich unverbindlich über das Corona-Virus, über die Corona-Tests und über die Corona-Impfungen zu informieren. Bald wird hier auch geimpft.
Informieren, testen und impfen im sozialen Brennpunkt
Medscape: Nun gehen die Infektionszahlen in Deutschland und auch in Hannover deutlich zurück. Manche Testzentren machen schon dicht. Warum Ihr Engagement?
Waraich: Das Viertel Vahrenheide gilt in Hannover als sozialer Brennpunkt. Hier leben viele von der klassischen Arbeiterschaft, die Busfahrer, Handwerker, Reinigungskräfte, Pflegekräfte oder auch Erwerbslose oder Flüchtlinge. Die sozioökonomische Situation von sehr vielen Familien ist in diesem Stadtteil prekär. In diesem Stadtteil gibt es stadtweit mit die höchste Kinderarmut.

Dr. Wjahat Waraich
Ich kenne das Viertel gut, denn ich bin selbst hier aufgewachsen und lebe noch heute hier. Meine Eltern, die in den 80er-Jahren aus Pakistan geflohen sind, wohnen ebenfalls um die Ecke. Mir liegt das Engagement am Herzen, da ich biografisch in meinem Kiez tief verwurzelt bin.
Außerdem weiß ich, dass viele Bewohnerinnen und Bewohner Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache haben. Sie schaffen es oft nicht, sich auf den Homepages der Impfzenten durchzukämpfen, bis sie endlich einen Impftermin erhalten. Und wer schon Schwierigkeiten hat, seinen Namen zu schreiben, wird auch mit den Impfeinladungen seine liebe Mühe haben.
Da wollen wir unterstützen und einen festen Standort bieten, wo den Menschen geholfen werden kann. In all den Monaten hat sich kein Betreiber bereit erklärt, in diesem Brennpunkt ein Testzentrum zu errichten. Soziale und gesellschaftliche Teilhabe war eine Zeit lang mit einem negativen Test verknüpft und ist es zum Teil auch jetzt noch bei niedriger Inzidenz. Man denke an den Besuch im Pflegeheim oder Krankenhaus.
Das Problem: Für die klassischen kommerziellen Betreiber sind Stadteile wie dieser finanziell nicht attraktiv. Die teuren PCR-Testungen werden dagegen in besser situierten Stadtteilen viel besser angenommen. In einem Stadtteil wie diesen winken daher die Betreiber meist ab. Der Markt hat hier leider versagt, denn in manchen Stadtteilen existierten 4, 5 oder mehr Teststationen aber in diesem Brennpunkt gar keine. Das halte ich nicht für akzeptabel!
Medscape: Inzwischen sind ja auch viele Impfteams in Brennpunktvierteln unterwegs …
Waraich: Das stimmt. Aber die vielen Fragen oder auch Sorgen, die Bürgerinnen und Bürger vorab oder generell haben, können oft nicht beantworten werden. Zudem erreichen die mobilen Impfteams nur die Impfwilligen, die einen schnellen Termin brauchen. Beim Impfen ist Vertrauen maßgeblich. Mobile Teams können das im Vergleich zu einer stationären Einrichtung nur bedingt aufbauen.
Skepsis gegen Impfungen abbauen
Medscape: Was wollen Menschen im Stadtteil über das Impfen erfahren?
Waraich: Die Bewohner haben eine Skepsis, die sie aus ihren Herkunftskulturen mitbringen. Die meisten hier leben in ihren sozialen Blasen. Es gibt viele Fragen und Vorbehalte, die in den normalen Impfzentren nicht angemessen beantwortet werden könnten. So wollen zum Beispiel viele russischstämmigen Bewohner nur den Sputnik-Impfstoff erhalten. Andere fürchten, dass das Impfen an sich steril mache.
Dabei muss man wissen: Die Leute aus dem Viertel sind keine Corona-Leugner und sind auch nicht dumm. Sie sind nur schlecht und einseitig informiert. Man kann mit ihnen sprechen, sie aufklären, und danach sind sie überzeugter darin, sich impfen zu lassen. Das kostet Kraft und Zeit, aber es lohnt sich. Ich konnte bereits mehrere hundert Menschen aufklären, die jetzt nochmals darüber aktiv nachdenken und nun sogar bereit sind, sich impfen zu lassen.
Warten auf den Impfstoff
Medscape: Wann werden sie anfangen, zu impfen?
Waraich: Sobald genügend Impfstoff da ist. Die Landeshauptstadt Hannover hat ihre Unterstützung zugesagt. Wann genau es losgeht, kann ich nicht sagen, ich bin jedoch bereit, loszulegen. Ziel ist es, dass Menschen sich unkompliziert auf dem Marktplatz, wo die Zelte stehen, impfen lassen können. Ich habe ein mehrsprachiges Team aufgestellt, das hier in den Stadtteilen wohnt. Sie können also nicht nur die unterschiedlichen Sprachen sprechen, sondern kennen auch die Sorgen und Fragen der Menschen.
Wichtig ist, dass wir nicht weiter viel Zeit verlieren. Wir haben gerade ein günstiges Fenster mit niedriger Inzidenz und eine verhältnismäßig entspannte Infektionslage. Die Delta-Variante des SARS-CoV-2 macht mir derzeit jedoch große Sorgen. Sie wird Stadtteile wie Vahrenheide oder Sahlkamp, verheerend treffen. Wir müssen die Zeit in den Sommermonaten jetzt nutzen und impfen, damit wir zum Spätsommer beziehungsweise. im Herbst solche Viertel schützen und Menschenleben retten.
Medscape: Wie wollen Sie die Geimpften davon überzeugen, noch einmal in Ihr Zelt zu kommen und die Zweitimpfung zu erhalten?
Waraich: Diese Impfmüdigkeit erleben wir derzeit auch in den USA. Die 2. Impfung fällt immer öfter unter den Tisch, weil die Menschen nicht erneut kommen. Das wird in der Tat eine Herausforderung. Wenn die Leute die 1. Spritze bekommen haben, müssen wir sie einfach überzeugen, auch die 2. Impfung in Anspruch zu nehmen. Denn nur dann gibt es einen ausreichenden Schutz. Auch hier gilt, dass wir dies über Vertrauen erreichen möchten.
Ärztliche Pflicht, zu handeln
Medscape: Wie finanzieren Sie das Informations- Test- und Impfzentrum? Sie sind ja auch Bezirksratsherr der SPD und möchten Bürgermeister im Stadtbezirk werden. Nun wirft Ihnen die CDU vor, sie würden an Ihrem Projekt verdienen.
Waraich: Ich betreibe das Test-, Aufklärungs- und Impfzentrum als Privatperson und als Arzt. Mein Ziel ist es, den Menschen in dieser außergewöhnlichen Gesundheitsnotlage zu helfen. Stadtteile wie Vahrenheide – und damit oftmals auch die ärmere Bevölkerung – sind viel leichter Opfer dieser Pandemie und werden oft vergessen. Als ich gemerkt habe, dass dieser Stadtteil einmal mehr nicht berücksichtigt wurde und dass sich hier niemand von „außen“ engagieren möchte, sah ich es als meine Pflicht an, zu handeln.
Ich halte die Kritik der CDU daher für unberechtigt und falsch. Mich hier zu diskreditieren halte ich für ein Wahlkampfmanöver.
Medscape: Sie sind 33 Jahre alt und stehen kurz vor ihrer Facharztprüfung als Gynäkologe und Geburtshelfer. Hätten Sie nicht anderes zu tun als in Vahrenheide ein Test-, Aufklärungs- und Impfzentrum zu errichten?
Waraich: Tatsächlich habe ich ein Übernahmeangebot meines Arbeitgebers ausgeschlagen, um mich ganz diesem Projekt zu widmen. Ich sehe hier eine großartige Chance, durch Impfen Menschen vor schweren Krankheitsverläufen zu schützen. Üblicherweise nehme ich seit etwa 10 Jahren jedes Jahr zwei Wochen Urlaub für ärztliche und humanitäre Hilfsprojekte in Afrika oder Asien. Jetzt habe ich die Chance, die Pandemie nicht nur in der Klinik, sondern auch vor meiner Haustür zu bekämpfen und tausende Menschenleben zu schützen. Das wird mein Auftrag in den nächsten Monaten bleiben.
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Diesen Artikel so zitieren: Kiez-Impfzentrum „für kommerzielle Betreiber nicht attraktiv“ – mit diesen Ideen geht ein Gynäkologe gegen Corona vor - Medscape - 30. Jun 2021.
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