„If in doubt, take him out“: Consensus Statement zum Vorgehen bei sportbedingten Gehirnerschütterungen

Dr. Christine Hutterer

Interessenkonflikte

28. Juni 2021

Die Team Physician Consensus Conference (TPCC), eine Vereinigung aus Teamärzten und 6 Verbänden in den USA, hat ein überarbeitetes Consensus Statement zum Umgang mit sport-assoziierten Gehirnerschütterungen (sports-related concussion SRC) veröffentlicht [1]. Es richtet sich insbesondere an Mannschaftsärzte. Sie sind häufig die ersten, die mit der Frage konfrontiert sind, ob sich ein Sportler eine Gehirnerschütterung zugezogen hat.

Gehirnerschütterungen oder leichte Schädel-Hirn-Traumata (im Englischen „concussion“) sind bei Kontakt- und Kollisionssportarten nicht selten. Die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG) als Versicherer des bezahlten Sports analysierte 2016 Unfälle in den beiden höchsten Ligen der Männer im Basketball, Eishockey, Fußball und Handball. Am höchsten lag der Anteil der Kopfverletzungen mit 17,9% im Eishockey, gefolgt von Basketball mit 8,8% und Handball und Fußball mit je 6,2%.

Laut einer Veröffentlichung des Bundesinstituts für Sportwissenschaft kommt es in Deutschland pro Jahr zu 44.000 Schädel-Hirn-Traumata, wobei von einer großen Dunkelziffer ausgegangen wird. Einerseits, weil leichte Gehirnschütterungen häufig nicht erkannt werden, andererseits, weil im Leistungssport aufgrund des Leistungsdrucks Kopfverletzungen bagatellisiert oder nicht gemeldet werden.

Wie lang Ruhe halten?

Prof. Dr. Claus Reinsberger, Facharzt für Neurologie, Sportmediziner und Institutsleiter des Sportmedizinischen Instituts an der Universität Paderborn findet das neue Consensus Statement sinnvoll: „Zwar enthält es nicht viele neue Erkenntnisse, aber es fasst das aktuelle Wissen und das derzeit für sinnvoll gehaltene Vorgehen gut zusammen.“

Im Positionspapier wird betont, dass strenge Ruhe nach einem leichten Schädel-Hirn-Trauma die Heilung nicht nur nicht verbessern, sondern sogar verzögern und die Dauer der Symptome verlängern könnte. Die Autoren beziehen sich dabei auf eine Studie aus dem Jahr 2015, bei der Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene nach einer Gehirnerschütterung entweder 5 Tage strikte Ruhe halten sollten (Interventionsgruppe), oder – wie gemeinhin üblich – nach 1 bis 2 Tagen Ruhe schrittweise zu ihren Alltagsaktivitäten zurückkehrten.

Die Teilnehmer der Interventionsgruppe beschrieben mehr Symptome, die nach der Gehirnerschütterung länger anhielten als die Personen mit der Standardbehandlung. Daraus folgern die Autoren, dass eine strikte Ruhephase länger als 2 Tage die Symptomatik negativ beeinflussen kann.

 
In der Praxis empfehle ich daher den Patienten, sich an ihren individuellen klinischen Symptomen zu orientieren. Prof. Dr. Claus Reinsberger
 

Reinsberger gibt hingegen zu bedenken: „Bei Erkrankungen spielen auch psychologische und biosoziale Faktoren eine Rolle. Geht es einem Patienten nicht schlecht, bringt eine längere Ruhe keine weitere Besserung. In der Praxis empfehle ich daher den Patienten, sich an ihren individuellen klinischen Symptomen zu orientieren. Ruhe und Alltagsaktivitäten oder kognitive oder körperliche Belastungen sollten keine Symptome hervorrufen, dann kann weiter gesteigert werden. Die genauen Belastungen sollten dann patientenspezifisch angepasst werden.“

Ein guter Prädiktor für die Dauer des Heilungsverlaufs ist jedoch die Anzahl und Schwere der Symptome kurz nach Auftreten der Verletzung. Die Sportler sollten den Autoren zufolge zu Training und Wettkampf („Return to Play“) grundsätzlich erst zurückkehren, wenn die Symptome vollständig abgeklungen und Werte zu Kognition, Gleichgewicht und posturaler Kontrolle auf dem Stand vor der Verletzung sind. Die Teilnahme an Training und/oder Wettkampf gibt ein (Mannschafts-)Arzt frei. Dadurch soll ein erneutes Schädel-Hirn-Trauma infolge eines zu frühen Beginns verhindert und ein protrahierter Verlauf mit Komplikationen vermieden werden.

SCAT-Test erleichtert Diagnose

Ein Problem bei Gehirnerschütterungen ist die Diagnose, vor allem, wenn sie am Spielfeldrand oder beim Wettkampf gestellt werden soll. Auch kleine Impulse können – abhängig von der Anatomie des Schädels, Gehirns und der Hirnhäute, dem Aufprallort und -winkel, ob die Hals- und Nackenmuskulatur angespannt ist oder nicht – zu einem Schädel-Hirn-Trauma mit signifikanten Symptomen führen.

Für Ärzte ohne neurologische Ausbildung ist der SCAT-Test (Sport Concussion Assessment Tool) sehr hilfreich. Unmittelbar nach einer Kopfverletzung sollte getestet werden. Einzelne Symptome können ggfs. auch im Verlauf wiederholt beurteilt werden.

 
Beim SCAT handelt es sich um eine Untersuchung, die jeder Arzt machen kann und sie ist das Minimum, was gemacht werden sollte. Prof. Dr. Claus Reinsberger
 

Abgefragt werden die Schwere der Symptome, der Bewusstseinszustand, die Orientierungsfähigkeit, Gleichgewichts-, Koordinations- und Konzentrationsaspekte und das primäre und sekundäre Erinnerungsvermögen. Optimalerweise wurde vorab von den Sportlern ein Baselinewert erhoben, der zum Abgleich herangezogen werden kann.

Reinsberger war daran beteiligt, diese Baselinemessung in der Fußball-Bundesliga einzuführen. „Beim SCAT handelt es sich um eine Untersuchung, die jeder Arzt machen kann und sie ist das Minimum, was gemacht werden sollte. Sie bietet einen groben Überblick über die neurologische und neuropsychologische Situation. Kritisch sehe ich die Punktebewertung bzw. die Konsequenz aus einer Punktzahl. Im Zweifel sollten lieber weitere Untersuchungen durchgeführt werden“, betont Reinsberger.

„If in doubt, take him out“

Im Fußball testet die FIFA seit Januar 2021 eine neue Regel, die einer Mannschaft bei Verdacht auf Gehirnerschütterung eines Spielers eine zusätzliche Auswechselung erlaubt. So soll vermieden werden, dass eine Mannschaft einen Nachteil erleiden würde, wenn ein Spieler aus dem Spiel genommen werden muss, wenn schon alle regulären Wechselmöglichkeiten ausgeschöpft sind.

 
Im Englischen gibt es den prägnanten Satz „if in doubt, take him out“, der bedeutet, dass so gehandelt werden soll, als läge eine Gehirnerschütterung vor, wenn sie nicht sicher ausgeschlossen werden kann. Prof. Dr. Claus Reinsberger
 

Im Kinder- und Jugendsport sind in Training und Wettkämpfen häufig keine Ärzte anwesend. Hier ist es wichtig, dass alle Beteiligten, also Trainer, Betreuer, Eltern und Sportler, für das Thema sensibilisiert sind und lieber defensiv vorgehen. „Im Englischen gibt es den prägnanten Satz ‚if in doubt, take him out‘, der bedeutet, dass so gehandelt werden soll, als läge eine Gehirnerschütterung vor, wenn sie nicht sicher ausgeschlossen werden kann. Das bedeutet, den Sportler aus dem Training oder Wettkampf zu nehmen, bis von ärztlicher Seite Entwarnung gegeben wird“, erklärt Reinsberger.

Eine App für Laien

Eine weitere Hilfe im Freizeitsport soll die „Gehirn-Erschütterungs-Test-App“ bieten, die von der VBG entwickelt und der Hannelore Kohl Stiftung unterstützt wurde. Die App fragt typische mögliche Symptome einer Gehirnerschütterung ab, z.B. Unsicherheit beim Stehen, an den Kopf fassen, ungewöhnliches Verhalten, Doppeltsehen, Lichtempfindlichkeit, Gleichgewichtsprobleme, usw. Sobald eine Frage mit „ja“ beantwortet wird, empfiehlt die App, die Spieler medizinisch untersuchen zu lassen.

Somit ist es mit der App zwar nicht möglich, eine Gehirnerschütterung zu diagnostizieren oder auszuschließen, aber sie zeigt die Bandbreite der möglichen Symptome für Laien verständlich auf und sensibilisiert für Gehirnerschütterungen.

Das aktuell erschienene Consensus Statement betont, dass genau diese Sensibilisierung bei Ärzten, Trainern und Betreuern wichtig ist, auch weil die Diagnose von sportbedingten Gehirnerschütterungen weiterhin eine Herausforderung darstellt. Die meisten leichten Schädel-Hirn-Traumata heilen bei Erwachsenen innerhalb von 2, bei Kindern innerhalb von 4 Wochen aus.

 

Kommentar

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