Obwohl direkte orale Antikoagulanzien (DOAK) im Vergleich zu Vitamin-K-Antagonisten (VKA) ein positives Nutzen/Risiko-Verhältnis zeigen, kommt es doch bei 2 bis 3% der Patienten zu schweren Blutungsereignissen mit Klinikeinweisungen. In jüngerer Zeit wurden mit Idarucizumab (für Dabigatran) und Andexanet alfa (für Faktor-Xa-Inhibitoren 2) spezifisch gegen DOAK-Anwendungen gerichtete Antidote zugelassen – zusätzlich zu den lange verfügbaren, unspezifisch wirksamen 4-Faktor-Prothrobim-Komplex-Konzentraten (4PCC). Eine aktuelle Metaanalyse analysiert Outcome-Daten der Antidot-Anwendungen, veröffentlicht im Journal of the American College of Cardiology [1].
Dabei zeigten die innovativen Wirkstoffe Idarucizumab und Andexanet mit einer Mortalitätsrate um die 18% und einer effektiven Hämostase von etwa 79% einen vergleichbaren Outcome wie die unspezifisch wirksamen 4PCC. Unter dem Wirkstoff Andexanet kam es mit 10,7% der dokumentierten Fälle etwa doppelt so häufig zu Thromboembolien wie mit den anderen Antidoten.
60 Studien, über 4.700 Fälle, trotzdem viele Unklarheiten
„Die Studie ist angesichts des neuen Faktor-Xa-Protein-Analogons Andexanet alpha wichtig, aber es wurde die Chance vertan, zusätzliches Licht auf das Blutungs-Antagonisierungsgebiet zu werfen“, bemerkt dazu Prof. Dr. Hanno Riess von der medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Onkologie und Hämatologie an der Charité Berlin. „Denn aufgrund der unterschiedlichen Wirkweise von Dabigatran als Thrombininhibitor einerseits und Apixaban, Edoxaban und Rivaroxaban als Faktor Xa-Inhibitoren andererseits ist es schwierig, allgemeingültige Ergebnisse aus dieser Studie abzuleiten.“
Die Autoren um Dr. Antonio Gomez-Outes, Abteilung Pharmakologie der spanischen Medizinagentur AEMPS in Madrid, nutzten für ihre Metaanalyse 60 klinische Studien, überwiegend aus den letzten 2 Jahren, mit insgesamt 4.735 Patienten mit schweren Blutungen unter einem DOAK. Dabei entfielen 2.688 der dokumentierten Antidot-Einsätze (zu 97% unter Apixaban oder Rivaroxaban) auf ein 4PCC, 1.111 der Fälle (zu 100% unter Dabigatran) auf Idarucizumab und 936 (keiner der Fälle unter Dabigatran) auf Andexanet.
„Idarucizumab ist lediglich als Antidot gegen Dabigatran indiziert“, stellt Riess klar. „Eine Subgruppen-Analyse mit Fokus auf die Unterschiede der bislang verwendeten 4PCC-Substanzen bei schweren Blutungen unter Faktor Xa-Inhibitoren gegenüber Dabigatran wäre praxisrelevant. Auf dieser Basis könnte man besser beurteilen, ob und welche Vorteile die innovativen spezifischen Antidote Idarucizumab und Andexanet in der Klinik bringen.“
Die 60 einbezogenen Studien differierten sowohl in Bezug auf das Design (meist retrospektiv), die Dauer der Nachbeobachtung (5 bis 180 Tage), der Anzahl der Fälle (11 bis 3030), der Art der Blutung, der Definition des Hämostase-Ergebnisses, des Bias-Risikos sowie der Dosierung der relevanten Medikamente.
Entscheidend für die Mortalität ist das Ergebnis der Hämostase
Als wichtiger als die marginalen Unterschiede der Wirkung der verschiedenen Antidote betonen die Autoren, dass das Todesrisiko signifikant um das 3,6-Fache erhöht war, wenn keine effektive Hämostase erzielt wurde (2,56 bis 5,16 im 95% Konfidenzintervall).
Weiterhin lag die Mortalitätsrate mit 20% bei intrakraniellen Blutungen höher als bei extrakraniellen (15%). Im Vergleich dazu lag noch vor 10 Jahren, als spezifische Antidote nicht verfügbar waren und 4PCC deutlich seltener eingesetzt wurden, das Mortalitätsrisiko bei intrakraniellen Blutungen bei etwa 40%, betonen sie in ihrer Diskussion.
Dem schließt sich auch Riess an: „Die Bekämpfung von lebensbedrohlichen Hirnblutungen ist durch die relativ einfach zu handhabenden Antidote in den letzten Jahren weitaus erfolgreicher geworden. Das Problem liegt heute in der möglichst schnellen Diagnose, sobald ein Patient ernsthaft über das Erstsymptom Kopfschmerz klagt, damit eine Antidot-Behandlung zeitnah – möglichst innerhalb von 3 Stunden – eingeleitet werden kann, um den Tod oder schwerste Folgeschäden zu vermeiden.“
Die Rate von erneuten, sekundären Blutungsereignissen lag insgesamt bei 13%, von denen 78% nach Wiederaufnahme der Antikoagulation auftraten. Allerdings bezog sich dieses Ergebnis auf lediglich 232 Fälle in 6 Studien.
Algorithmen zum Management schwerer Blutungen unter DOAK fehlen
In ihrem parallel im Journal of the American College of Cardiology veröffentlichten Editorial weisen Prof. Dr. Christopher R Granger und Prof. Dr. Sean D Pokorney, beide Duke University, North Carolina, USA, darauf hin, dass schwere Blutungen und der Einsatz von Antidoten aufgrund der Behandlung mit den kurzwirksamen DOAK im Vergleich zu VKA selten sind [2]. Meist treten sie überdies im Gastrointestinal-Bereich auf und können dort oft interventionell beherrscht werden.
Sie werten die vorliegende Metaanalyse als sinnvolle und notwendige Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation, fordern aber weitere Forschungen, um Algorithmen zur Anwendung der verfügbaren Medikamente zu finden – sowohl zur weitestgehenden Vermeidung von Schlaganfall-induzierenden Thromboembolien als auch zum Management auftretender Blutungsereignisse und letztlich zur Wiederaufnahme der Antikoagulation.
Die innovativen Antidote, die spezifisch auf DOAK gerichtet sind, scheinen ihnen nützlich als weitere Notfall-Behandlung, sie sehen aber weiterhin auch die Berechtigung der unspezifisch wirksamen 4PCC.
Riess äußert sich differenzierter dazu: „Es fehlen Algorithmen zur Identifizierung von besonders blutungsgefährdeten Patienten bei Anwendung der verschiedenen DOAK. Sollte es diesbezüglich Unterschiede geben, wofür es durchaus Hinweise aus Studien und Versorgungsdaten gibt, würden diese das Ergebnis einer alle DOAK nivellierenden Metaanalyse ad absurdum führen.“
Die rasche laboranalytische Normalisierung der Hämostase bei Antikoagulation mit VKA durch 4PCC sei bekannterweise effektiv, so Riess. „Dennoch sind die Evidenzen rar, dass 4PCC das Outcome nach intrakraniellen oder anderen Blutungen definitiv positiv beeinflussen. Betrachtet man die sehr breiten Streuungen der Tal- und Peakwerte bei allen DOAK, könnten DOAK-Plasmaspiegel-Bestimmungen erfolgreich sein, um sowohl besonders blutungsgefährdete als auch Thromboembolie-gefährdete Patienten zu identifizieren.“
Medscape Nachrichten © 2021
Diesen Artikel so zitieren: Gefürchtete Komplikation: Blutung unter DOAK – Metaanalyse zu neuen und etablierten Antidoten, und was ein Experte dazu sagt - Medscape - 28. Jun 2021.
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