Weiblich, männlich, divers – wie mit Varianten der Geschlechtsentwicklung (VdG) in der psychotherapeutischen Praxis umgegangen werden kann, stellte Gebhard Hentschel, psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut auf der Pressekonferenz der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung (DPtV) vor [1].
Als „Meilenstein“ bezeichnete Hentschel, Bundesvorsitzender der DPtV, dabei das im Mai 2021 verabschiedete „Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung. „Wenn man bedenkt, dass bis 1990 eine geschlechtsangleichende Operation und die Entscheidung für ein Geschlecht noch der Standard war, dann ist das jetzt beschlossene Gesetz wirklich geeignet, die Kinder zu schützen und späte Traumatisierungen zu verhindern“, sagte Hentschel.
Er berichtete, dass Patienten, die heute in die Praxen kommen, mitunter Patienten seien, die selbst lange Zeit nicht wussten, dass sie als Kind operiert wurden, oder die durch die damalige Entscheidung nicht glücklich geworden sind. „Da fand eine Geschlechts-Festlegung statt, die sie heute eher als belastend empfinden. Um solche Spätfolgen auch dauerhaft zu verhindern, ist dieses Gesetz ein Game Changer“, betonte Hentschel.
Das Gesetz sieht vor, dass operative Eingriffe an den inneren oder äußeren Geschlechtsmerkmalen des nicht einwilligungsfähigen Kindes künftig von Eltern nur veranlasst werden dürfen, wenn sie nicht bis zu einer selbstbestimmten Entscheidung aufgeschoben werden können. Die Einwilligung der Eltern muss vom Familiengericht bestätigt werden. Ausnahmen gibt es nur dann, wenn durch die Operation eine Gefahr für Leben und Gesundheit des Kindes abgewehrt und auf die Erteilung der Genehmigung nicht gewartet werden kann.
Legen die Eltern dem Familiengericht eine Stellungnahme einer interdisziplinären Kommission vor, die den Eingriff befürwortet, wird vermutet, dass dieser dem Wohl des Kindes am besten entspricht. Eine solche interdisziplinäre Kommission setzt sich aus Ärzten unterschiedlicher Disziplinen, Psychotherapeuten oder Kinder- und Jugendpsychiater und Sozialarbeitern zusammen.
Intergeschlechtlichkeit ist weiterhin am wenigsten sichtbar
„In den letzten Jahren ist es zu einer gesellschaftlichen Öffnung im Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt gekommen. Dennoch zählt Intergeschlechtlichkeit weiterhin zu den am wenigsten sichtbaren und auch bei Psychotherapeuten unbekannten Phänomenen“, sagte Hentschel. Verdrängung, Verleugnung und der Wunsch, etwas „ungeschehen“ zu machen, haben in der Vergangenheit den psychologischen und medizinischen Umgang mit VdG geprägt.
VdG-Körper wurden als „Fehler der Natur“ betrachtet, die einer „Korrektur“ bedurften und dadurch auch öffentlich aus dem Sichtfeld verschwanden. Die psychischen, oft traumatisierenden Folgen sind bis heute spürbar. Sprachlosigkeit, Tabuisierung und fehlendes Wissen in den psychosozialen Fächern und der Allgemeinbevölkerung setzten sich fort. Betroffene verbindet häufig eine „somatische Aggression“ und führt sie in Selbsthilfegruppen zusammen.
Seit Ende Dezember 2018 kann neben „weiblich“ und „männlich“ auch „divers“ in das Personenstandsregister eingetragen werden. Bei geschätzt 160.000 Betroffenen (0,2%) war die Zahl der erfolgten Eintragungen 2019 noch gering. Nach einer Erhebung der ZEIT hätten bundesweit nur 150 Personen einen Antrag auf „divers“ gestellt.
Doch der Kampf der Betroffenen um Anerkennung und Gleichberechtigung hat zu einer Entstigmatisierung beigetragen, sagte Hentschel. Mittlerweile haben sich verschiedene Begriffe entwickelt: Intersexualität, Intergeschlechtlichkeit, Inter* oder der am weitesten gefasste Begriff VdG.
AWMF-Leitlinie betont die Bedeutung der psychosozialen Versorgung
Aktuelle Behandlungsempfehlungen, wie die S2k-Leitlinie „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ heben die Bedeutung der psychosozialen Versorgung und Psychotherapie für Betroffene und für Eltern intergeschlechtlicher Kinder hervor – insbesondere vor irreversiblen medizinischen Eingriffen.
Eine psychologische Betreuung sollte frühzeitig angeboten werden, bei Menschen mit VdG könne diese auch über einen längeren Zeitraum notwendig werden sein, sagte Hentschel. Psychosoziale Berufe müssten dazu sensibilisiert werden und entsprechende Angebote müssten finanziert werden.
„Eine psychotherapeutische Begleitung sollte sehr stark unterstützend sein und das Ziel haben zu entstigmatisieren, die Eltern und auch die Kinder von schnellen Entscheidungen abzuhalten, die in eine Operation oder Angleichung münden“, sagte Hentschel. Psychotherapie sollte die Resilienz gegenüber Stigmatisierung stärken, „aber auch dazu führen, sich mit den eigenen Vorurteilen auseinander zu setzen, die Diversität anzuerkennen und eine Entwicklung ermöglichen, die dann zu reifen Entscheidungen führt“.
Es sei wichtig zu überlegen, wie „Kinder, Jugendliche und Eltern in einen Prozess mitgenommen werden können, der in Richtung Akzeptanz, Annahme der Situation und des Andersseins münden kann und münden sollte“.
Allerdings lasse das Gesetz Fragen offen: Wann ist ein Kind einsichtsfähig und kann einen operativen Eingriff selbstbestimmt annehmen und ablehnen? Wie wird die Finanzierung der Kommission gewährleistet, ohne betroffene Eltern finanziell zu überfordern? Die Einwilligungsfähigkeit wurde von Gerichten lange Zeit am Alter von 14 Jahren festgemacht.
„Davon ist man aber längst abgerückt. Einsichtsfähigkeit hat damit zu tun, wie man die eigene Situation versteht, wie unabhängig man im Leben steht, auch wie unabhängig von den Eltern man sich zur eigenen Situation äußern und die Konsequenzen einer Operation bewerten kann“, erklärte Hentschel. Um Einsichtsfähigkeit festzustellen, müsse man sich deshalb immer den Einzelfall anschauen und sich mit dem Kind auseinandersetzen.
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Diesen Artikel so zitieren: Weiblich, männlich, divers: Psychotherapeuten sehen im neuen Gesetz einen „Meilenstein“ zum Schutz der Kinder - Medscape - 24. Jun 2021.
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