Die jetzt vorliegende Neufassung der S3-Leitlinie zur Behandlung von Angststörungen sieht erstmals Online-Interventionen als Option vor. „Diese Internet-Interventionen sollten als Angebote zur Überbrückung bis zum Beginn einer Psychotherapie oder als therapiebegleitende Maßnahme im Sinne einer Anleitung zur Selbsthilfe verstanden werden“, sagte Prof. Dr. Manfred Beutel, Leitlinienkoordinator und Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz auf einer Online-Pressekonferenz zum diesjährigen Deutschen Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie [1]. Bei manifesten Angststörungen seien solche Online-Interventionen hingegen nicht geeignet als alleinige Behandlungsmaßnahme.
Verhaltenstherapie und Medikation weiterhin 1. Wahl
Die meisten positiven Studienbefunde bei Angststörungen gibt es nach wie vor für die kognitive Verhaltenstherapie, die Pharmakotherapie oder deren Kombination, weshalb diese in der Leitlinie auch weiterhin als 1. Wahl empfohlen werden. Ebenfalls empfohlen werden tiefenpsychologisch fundierte und psychoanalytische Verfahren (psychodynamische Therapie).
Demgegenüber sind Online-Interventionen relativ neu: „Bei ihnen ist es gerade auch durch die COVID-19-Pandemie und die zeitweise Verlagerung der herkömmlichen Psychotherapie auf andere Kanäle zu einem regelrechten Boom gekommen“, berichtete Beutel. Vorteile der Online-Programme: Sie lassen sich niederschwellig von zuhause durchführen und sind flexibel und ohne Wartezeit einsetzbar.
Dabei absolvieren die Patienten strukturierte, meist verhaltenstherapeutisch basierte Selbsthilfe-Programme mit Fallbeispielen, Fragen und Übungen, oder sie verfassen Blogs, die später online von therapeutischer Seite kommentiert werden.
Online-Interventionsstudien mit Defiziten bei Methodik und Expertise
Was den Nutzen der Internet-Interventionen gegen Angststörungen betrifft, so wird in dazu durchgeführten aktuellen Studien zwar über ähnlich gute Effekte wie bei persönlichen Psychotherapien berichtet. „Allerdings dürfte die Wirksamkeit der Online-Therapie für die Praxis überschätzt werden, denn es lassen sich in diesen Studien deutliche methodologische Probleme entdecken“, kritisierte der Angstforscher Prof. Dr. Borwin Bandelow von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen, der an der Leitlinienerstellung inhaltlich federführend beteiligt war.
So habe eine in Göttingen durchgeführte Metaanalyse von 39 dieser Online-Therapiestudien ergeben, dass kaum eine von ihnen hinsichtlich der Haupteffizienzkriterien verblindet war. „32% der Teilnehmer“, so Bandelow, „nahmen zusätzlich Medikamente gegen ihre Ängste ein, sodass die wahre Wirkung der Online-Therapie hier nicht klar herauslesbar ist.“
In 89% der Studien waren die Teilnehmer nicht aus klinischen Settings, sondern sehr selektiv z.B. über Websites rekrutiert, 63% der Teilnehmer hatten einen akademischen Hintergrund, und in nur 15% der Fälle wurden die Diagnosen durch Psychologen oder Psychiater gestellt, so der Angstforscher.
Zudem hätten die Teilnehmer ein Feedback häufig nur von Studenten bzw. Personen ohne adäquate Therapieausbildung erhalten. Dass die Online-Interventionen in diesen Studien hohe Effektstärken erzielten, könnte dem Göttinger Angstexperten auch daran liegen, dass es sich bei vielen Teilnehmern um hochintelligente, mit Computern vertraute bzw. internet-affine Menschen handelte, die nicht unbedingt schwer krank waren.
Internet-Interventionen schließen persönliche Betreuung nicht aus
Allerdings gibt es durchaus auch Internet-Interventionsprogramme mit persönlicher Patienten-Therapeuten-Beziehung, wie Psychosomatiker und Psychotherapeut Beutel erklärte. So wurde an seiner Klinik in Mainz z.B. eine psychodynamische Online-Intervention entwickelt, bei denen die Teilnehmer zunächst mit Online-Anleitung eine Schreibtherapie durchführen und das von ihnen Geschriebene dann innerhalb von 24 Stunden von einem qualifizierten Therapeuten kommentiert bekommen. „In solchen Fällen kommt es zumindest zu einem zeitlich versetzten persönlichen Austausch von Botschaften innerhalb einer therapeutischen Beziehung“, so Beutel.
Erfahrungen gibt es zudem mit der Kombination einer stationären Therapie mit einem Online-Programm, das dann nach der Entlassung aus der Klinik noch mehrere Wochen von den Patienten weiterbearbeitet wird und z.B. als Überbrückung bis zur Wiederaufnahme einer ambulanten Therapie nutzbar ist: „Hier konnten wir im Vergleich zu Patienten ohne Online-Programm deutlich bessere und stabilere Behandlungseffekte feststellen.“
Bedarf an Versorgungsstudien
Noch zu wenig, so der Mainzer Experte im Gespräch mit Medscape, wisse man bisher über die Effekte von Online-Anwendungen auf die Versorgung: „Da die Teilnehmer in bisherigen Studien meist selektiv online rekrutiert wurden, kann man aus diesen Studien kaum abschätzen, inwieweit die in unserer Versorgung befindlichen Patienten von solchen Programmen profitieren. Hier besteht also noch deutlicher Forschungsbedarf.“ Schätzungen zufolge sind bis zu 14% der deutschen Bevölkerung an einer behandlungsbedürftigen Angststörung erkrankt, und jeder Vierte leidet mindestens einmal im Leben darunter.
Bereits jetzt und vor allem wenn es sich vermutlich eher um leichte oder mittelschwere Angststörungen handelt, kann Patienten auch in der hausärztlichen Sprechstunde eine Online-Intervention als Option vorgeschlagen und bei Interesse verordnet werden. „In Frage kommt dies etwa auch für Patienten, die sich noch nicht für eine Psychotherapie entscheiden wollen, die man aber mit der Empfehlung zu einer Online-Intervention motivieren kann, über eine solche Entscheidung nachzudenken“, so Beutel.
„Solche Interventionsprogramme sind als digitale Gesundheitsanwendungen verschreib- und abrechenbar, sofern sie vom BfArM zugelassen sind. Nähere Informationen dazu geben die Krankenkassen, an die man die Patienten verweisen kann.“ Die Techniker Krankenkasse z.B. bietet gegen Angststörungen ein digitales Behandlungsprogramm mit einer App, Schulungsvideos, Angstszenarien per virtueller Brille und einer persönlichen psychotherapeutischen Betreuung an, die bis auf Weiteres auch videotelefonisch durchgeführt werden kann.
Konfrontation mit virtueller Realität
Die Möglichkeit, sich mittels VR-Brille in einer virtuellen Realität seinen Ängsten zu stellen, wurde als weitere Neuerung auch in die aktuelle S3-Leitlinie zu den Angststörungen aufgenommen. Sie wird dort als mögliche Ergänzung zur Standardtherapie bei sozialer Phobie empfohlen. „Wenn Patienten virtuell mit intensiven Angstszenarien konfrontiert werden, ist eine begleitende persönliche psychotherapeutische Betreuung jedoch unverzichtbar“, so Beutel.
Konsultationen vor Ort nicht völlig verzichtbar
In der Entwicklung befinden sich dem Mainzer Experten zufolge Konzepte, bei denen Online-Programme mit persönlichen Online- bzw. Videosprechstunden kombiniert werden. „Allerdings sollte auch bei solchen Konzepten die Mindestforderung darin bestehen, dass am Anfang ein persönliches Gespräch vor Ort mit gründlicher Untersuchung steht.“
So können hinter Ängsten auch ganz andere psychische Erkrankungen stecken, die bei einer von Anfang an und ausschließlich online durchgeführten Therapie unentdeckt bleiben, und es können Fehldiagnosen gestellt werden. „Wer seinen Patienten eine digitale Gesundheitsanwendung verschreibt, sollte schließlich genauso wie bei einer medikamentösen Verordnung nachfassen und überprüfen, wie die Verordnung akzeptiert und vertragen wird und vor allem, ob sie Erfolg hat und dem Patienten hilft.“
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Diesen Artikel so zitieren: Neue S3-Leitlinie zu Angststörungen erstmals mit Online-Interventionen zum Einstieg und als Add-on - Medscape - 23. Jun 2021.
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