Ein kleiner Schritt hin zur Substitution ärztlicher Leistungen: Am 11. Juni hat der Bundestag das Gesundheitsversorgungs-Weiterentwicklungsgesetz (GVWG) beschlossen. Darin ist auch die „verpflichtende Durchführung von Modellvorhaben zur Übertragung ärztlicher Tätigkeiten“ an Pflegekräfte vorgesehen. So bestimmt es der neue § 64d im V. Sozialgesetzbuch (SGB V), den die Regierungskoalition per Änderungsantrag eingebracht hat. Ärztevertreter reagieren verschnupft. Der Deutsche Pflegerat begrüßt die Initiative jedoch als längst überfällig.
Zwar thematisiert bereits der § 63 Abs. 3c SGB V die selbstständige Ausübung der Heilkunde durch Pflegekräfte in Modellvorhaben. Hier handelt es sich aber um eine Kann-Bestimmung, die bislang kaum umgesetzt worden ist. Der neue §64d SGB V hingegen verlangt solche Modellprojekte ausdrücklich [1].
Modellvorhaben werden zur Pflicht
Demnach sollen Krankenkassen zusammen mit jedem Bundesland spätestens ab 1. Januar 2023 mindestens 1 Modellvorhaben „zur Übertragung ärztlicher Tätigkeiten in die Tat umsetzen, bei denen es sich um selbstständige Ausübung von Heilkunde handelt“. Pflegekräfte brauchen eine Zusatzausbildung. In den Projekten sollen die Akteure der verschiedenen Berufe auch neue Standards ihrer Zusammenarbeit entwickeln. Die Projekte laufen maximal 4 Jahre.
In einem Rahmenvertrag vereinbaren der GKV-Spitzenverband und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) unter anderem einen Katalog der ärztlichen Leistungen, die übertragen werden sollen. Dabei sollen auch die Fragen der Vergütung geklärt werden. Einigen sich beide Seiten nicht, ist ein Schiedsamt gefragt. Die Projektauswertungen müssen „einen Vorschlag zur Übernahme in die Regelversorgung enthalten.“ Mit den Bestimmungen macht der neue § 64d nach dem Scheitern von § 63 also deutlich mehr Druck.
Bei der Anhörung des GVWG im Gesundheitsausschuss des Bundestages am 7. Juni kam auch die Frage der Substitution ärztlicher Leistungen zur Sprache. Dr. Karin Bräutigam von der Bundesärztekammer verwies darauf, dass manche Tätigkeiten wegen ihrer „Gefährlichkeit, Komplexität oder Unvorhersehbarkeit“ nur von Ärzten ausgeführt werden können. Darauf müsse der Katalog der Leistungen Rücksicht nehmen.
Ulrike Döring vom Deutschen Pflegerat begrüßte die Neuregelung, nachdem der § 63 Abs. 3c SGB V in den vergangenen 10 Jahren „in keiner Weise umgesetzt wurde“, wie sie sagte. Sie betonte die gute Qualifikation vieler Pflegefachpersonen. Unterdessen bleibe als altes Problem bestehen, dass ärztlichen Verordnungen für Pflegepatienten nicht ausführten, was „aus pflegewissenschaftlicher Sicht auch geboten“ sei. „Von daher halten wir dieses Gesetz für sehr gut“, kommentierte Döring.
KBV schlägt durch ärztlich geleitete Teams vor
Skeptischer dagegen äußerte sich Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Zwar begrüßte auch er die Gesetzesinitiative, weil die Qualifikation der medizinischen Fachberufe ständig zunähme und auch zu mehr Delegation ärztlicher Leistungen geführt hätte. „Insofern ist das (Gesetz) begrüßenswert“, sagte Gassen im Gesundheitsausschuss. Aber die Substitution sei „natürlich eine andere Dimension“. Dass ärztliche Leistungen nun in verpflichtenden Projekten übertragen werden müssen, missfiel der KBV-Chef. Auf der zwingenden Umsetzung, die der § 64d SGB V fordert, liege „kein Segen“, meinte Gassen lapidar. Eine Kann-Bestimmung nach § 63 Abs. 3c SGB V hält Gassen für sinnvoller.
Bereits im Vorfeld der Sitzung des Gesundheitsausschusses hatte die KBV sich mit dem Thema Substitution auseinandergesetzt und das Konzeptpapier „Strukturen bedarfsgerecht anpassen“ vorbereitet. Darin fordern Experten „eine Revision der bisherigen Haltung“.
Der Direktzugang zu nichtärztlichen Gesundheitsberufen dürfe weiterhin kein grundsätzlicher Ansatz sein. Stattdessen setzt die KBV auf ärztlich geleitete Teams. Hier könnten Ärzte mit Gesundheitsberufen zusammenarbeiten und ihnen Aufgaben im Rahmen einer Delegation für eine bestimmte Zeit übertragen. So könnten die Teams den Forderungen nach einem Direktzugang etwa zum Physiotherapeuten, also nach der Substitution ärztlicher Leistungen, den Wind aus den Segeln nehmen, hofft die KBV. Dazu brauche es unter anderem die klare Unterscheidung von rein ärztlichen und delegationsfähigen Leistungen.
Abstimmung mit den Füßen
Am Schluss sollen die Patienten entscheiden, „ob sie eine vom Arzt/Psychotherapeuten verantwortete Versorgung oder eine Art subsidiäre beziehungsweise Ersatzversorgung in Anspruch nehmen“ wollen, heißt es in dem Papier. Dann hätten Patienten und Versicherte die nötige Transparenz. Klar, dass Gassen mit den im GVWG verordneten Modellprojekten, die die Substitution ärztlicher Leistungen erproben sollen, wenig anfangen kann.
So geht es auch dem Spitzenverband der Fachärzte Deutschlands (SpiFa). Bei den verpflichtenden Modellvorhaben zur Substitution ärztlicher Leistungen handele es sich „um einen gesetzgeberischen Schuss aus der Hüfte“, kritisiert der Verband in einer Mitteilung. Das Thema muss nach Ansicht des Verbandes viel breiter diskutiert werden. Andernfalls werde “das Vorhaben zu einer Randnotiz herabqualifiziert.“
L ars F. Lindemann, der Hauptgeschäftsführer des SpiFa, erklärte: „Aus Sicht der Fachärztinnen und Fachärzte darf es solche Schnellschüsse im Interesse der Patientinnen und Patienten nicht geben.“ Und weiter: „Wir fordern die Parlamentarier auf, sich für eine breite und sorgfältige ordnungspolitische Debatte in dieser für die Versorgung wichtigen Frage mit weitreichenden Folgen einzusetzen und sich an dieser Stelle nicht von der Bundesregierung vor sich her treiben zu lassen.“
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Diesen Artikel so zitieren: Modellvorhaben zur Übertragung ärztlicher Tätigkeiten werden verpflichtend – diese Kritikpunkte haben Standesvertreter - Medscape - 15. Jun 2021.
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