Das neue, gezielt wirkende Radiopharmakon 177Lu-PSMA-617 (Novartis/Endocyte) verlängerte bei zusätzlicher Gabe zur Standardtherapie bei Patienten mit kastrationsresistentem, fortgeschrittenem Prostatakarzinom (mCRPC) das Gesamtüberleben und das progressionsfreie Überleben. Die Therapie wurde gut vertragen.
„Diese Ergebnisse rechtfertigen die Einführung von 177Lu-PSMA-617 als neue Behandlungsoption bei dieser Patientengruppe“, schlussfolgerte Prof. Dr. Michael J. Morris, Memorial Sloan Kettering Cancer Center, New York City, in der Plenarsitzung bei der virtuellen Jahrestagung der American Society of Clinical Oncology (ASCO) 2021 aus den Daten der VISION-Studie [1].
Trotz dieser positiven Ergebnisse kommentierte Prof. Dr. Mary Ellen Taplin, Harvard Medical School, Boston, als Diskutantin: „Ich bin enttäuscht!“ Dies sei zwar eine positive Studie, aber sie habe sich mehr erhofft. Patienten unter 177Lu-PSMA-617 hätten im Median 15,3 Monate überlebt, aber es gäbe bereits Studien bei Patienten mit mCRPC, in denen eine Gesamtüberlebenszeit von bis zu 18,5 Monaten erreicht worden sei.
„Die Wirksamkeit von 177Lu-PSMA-617 in dieser Patientengruppe ist nicht besser oder schlechter als andere zugelassene Therapien“, so Taplin weiter. Möglicherweise könne der Effekt durch Kombinationen, durch eine andere Dosierung oder wiederholte Therapien verbessert werden.
Taplin kritisierte auch, dass an der Studie nur 6,6% Schwarze und 2,4% Asiaten teilgenommen hätten, obwohl bekannt sei, dass Personen mit schwarzer Hautfarbe häufiger am Prostatakarzinom erkrankten.
Gezielte Bestrahlung mit 177Lu-PSMA-617
Zum Hintergrund: Lutetium-177-prostate-specific membrane antigen-617 (177Lu-PSMA-617) ist ein in klinischer Entwicklung befindliches Radiopharmakon. Es nutzt das Prostata-spezifische Membranantigen (PSMA) als Zielstruktur. PSMA wird auf Karzinomzellen der Prostata sehr viel häufiger exprimiert als auf gesunden Zellen. PSMA-617 bindet gezielt an PSMA und schleust dadurch den Beta-Strahler Lutetium-177 gezielt in Karzinomzellen ein. Die Strahlung reicht nur wenige Millimeter weit und wirkt gezielt in der malignen Zelle.
Offene Phase-3-Studie VISION
Wirksamkeit und Verträglichkeit von 177Lu-PSMA-617 wurden in der offenen Phase-3-Studie VISION im Vergleich zum Therapiestandard untersucht. Daran nahmen Männer mit kastrationsresistentem, metastasiertem Prostatakarzinom teil, die zuvor mindestens 1 Androgeninhibitor und 1 oder 2 Chemotherapie-Regime erhalten hatten.
Außerdem musste der Tumor PSMA-positiv sein, was anhand einer PET/CT-Untersuchung mit 68Ga-PSMA-11 nachgewiesen wurde.
Alle 831 Patienten erhielten den so genannten Standard of Care (SOC) nach Wahl des Arztes, der jedoch keine Chemotherapie und kein Radium-223 beinhaltete. Randomisiert behandelten Ärzte 551 Patienten zusätzlich alle 6 Wochen mit 177Lu-PSMA-617 in einer Dosis von 7,4 GBq (200 mCi) über 4 Zyklen. Responder konnten weitere 2 Zyklen erhalten.
Primäre Endpunkte waren das radiologische progressionsfreie Überleben (rPFS) und das Gesamtüberleben (OS). Wenn einer dieser Endpunkte positiv war, galt die Studie als Erfolg.
Unterschiedlich große Patientengruppen für die Endpunktanalyse
Die Rekrutierung begann im Juni 2018. Nach Einschluss von 250 Patienten fiel aber auf, dass in der Kontrollgruppe 56% der Teilnehmer die Behandlung früh abgebrochen hatten. Daraufhin etablierte die Studienleitung im März 2019 Maßnahmen zur Verbesserung der Adhärenz und Kommunikation, so dass die Drop-out-Rate im weiteren Verlauf in der Kontrollgruppe auf 16,3% abnahm.
Mit Zustimmung der US Food and Drug Administration (FDA) begann die Rekrutierung für den primären Endpunkt rPFS nach dieser Anpassung erneut, um den Bias zu reduzieren, der möglicherweise bei Endpunkten basierend auf Scans entstanden ist. Die rPFS-Analyse berücksichtigte daher nur 551 Patienten, während die Überlebensanalyse alle 831 Patienten umfasste.
Dieses Vorgehen war für Taplin Grund genug, Kritik zu üben: „Auf die Gefahr hin, als Pedantin zu gelten, möchte ich darauf hinweisen, dass es in der Verantwortung der Prüfer liegt, die Integrität eines klinischen Studiendesigns zu schützen, wenn sie sich für eine Teilnahme entscheiden“, so die Diskutantin. Prüfärzte seien dafür verantwortlich, Teilnehmer über Anforderungen einer klinischen Studie aufzuklären und keine Patienten zu rekrutieren, die sich nicht an das Studiendesign halten könnten oder wollten. „Wenn ein Prüfer die Integrität der Studie nicht schützen kann, dann sollte er nicht an der Studie teilnehmen“, so Taplin weiter.
Progressionsfreies Überleben und Gesamt-Überleben signifikant verbessert
Morris stellte wichtige Ergebnisse der Studie vor; demographische Parameter waren in beiden Gruppen vergleichbar.
„Die Behandlung mit 177Lu-PSMA-617 senkte das Sterberisiko um 38%“, so Morris. Die Überlebenszeit verlängerte sich durch die gezielte Bestrahlung signifikant von im Median 11,3 auf 15,3 Monate (HR 0,62, p < 0,001).
Die positive Wirkung auf das Gesamtüberleben war in fast allen vordefinierten Subgruppen nachweisbar.
In der rPFS-Analysegruppe (n = 581) verlängerte 177Lu PSMA-617 auch das rPFS im Vergleich zur Standardbehandlung signifikant von 3,4 auf 8,7 Monate im Median (HR 0,40, p < 0,001). Dieser Effekt war in der Gesamtgruppe der Patienten ebenfalls nachweisbar (n = 831).
Auch die wichtigen sekundären Endpunkte hatten sich unter 177Lu-PSMA-617 signifikant im Vergleich zu Standardtherapie allein verbessert. Die Gesamtansprechrate nahm von 1,7% auf 29,8 % zu, die Krankheitskontrollrate von 66,7% auf 89,0%, und die Zeit bis zum ersten symptomatischen skeletalen Ereignis von im Median 6,9 auf 11,5 Monate.
Unter 177Lu-PSMA-617 traten mehr Nebenwirkungen auf. Häufige unerwünschte Ereignisse vom Schweregrad ≥ 3 waren Knochenmarksuppressionen (23,4% versus 6,8%), Fatigue (7,0% versus 2,4%), Nierenfunktionsstörungen (3,4% versus 2,9%) sowie Übelkeit und Erbrechen (1,5% versus 0,5%).
Medscape Nachrichten © 2021
Diesen Artikel so zitieren: Fortgeschrittenes, kastrationsresistentes Prostatakarzinom: Radiopharmakon verlängert Überlebenszeit - Medscape - 14. Jun 2021.
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