Seit Jahren versorgt der Hausarzt Michael Meixner in seiner hessischen Schwerpunktpraxis in Witzenhausen viele Diabetes-Patientinnen und -Patienten. Weil er in ihrem Sinne Originalpräparate verschreibt und in seiner Vergleichsgruppe ein Exot ist, schnappte erstmals 2016 die Regress-Falle zu. Und dabei dürfte es nicht bleiben. Medscape fragte nach.

Hausarzt Michael Meixner, Witzenhausen
Medscape: Herr Meixner, Sie sind seit rund 40 Jahren Hausarzt, Diabetologe und Schmerzmediziner in einer nordhessischen 15.000-Einwohner-Stadt. Für das Jahr 2016 mussten Sie bereits 25.000 Euro Arzneimittelregress aus dem eigenen Portemonnaie zahlen. Für die Folgejahre drohen weit höhere Summen. Wie ist es zu der angespannten Situation gekommen?
Meixner: In der Tat – ich habe für das Jahr 2016 rund 25.000 Euro Arzneimittelregress bezahlt. Die Regress-Summen für die Jahre 2017 bis 2020 drohen sich auf mindestens 300.000 Euro zu addieren. Das Grundproblem ist, dass die hessische Prüfvereinbarung für Arzneimittelverordnungen keine passende Regelung für spezialisierte Hausärzte in einer Schwerpunktpraxis, wie mich, hat.
Diese Gruppen wurden schlichtweg vergessen, obwohl die Prävalenz von Diabetes- und Schmerzpatienten progredient ist. Ich werde in meinem Verordnungsverhalten deshalb der Einfachheit halber über die Fachgruppe der Hausärzte verglichen und meine erlaubte Verordnungsmenge wird dadurch entsprechend begrenzt.
Medscape: In Ihrer Region gibt es keine Diabetologen, die Ihnen Patienten abnehmen könnten?
Meixner: Die Versorgungslage im Kreis ist nicht gerade gut. Wir sind rund 100.000 Menschen im Kreis Werra-Meißner. Zusammen mit einem Kollegen, der auch schon fast im Ruhestand ist, und dessen Tochter versorgen wir in unserem Kreis die Diabetiker jeweils im Rahmen einer diabetologischen Schwerpunktpraxis. Auch die andere Praxis wird mit Regressen überzogen – obwohl wir ja von der KV Hessen extra als einzige regionale Schwerpunktpraxen zugelassen sind.
Ich persönlich betreue weit über 500 Diabetiker pro Quartal, sogar aus dem benachbarten Thüringen. Zusätzlich versorge ich 5 Seniorenheime, davon zwei rein spezialärztlich als Diabetologe, Schmerz- und Palliativmediziner im circa 60 Kilometer entfernten Herleshausen. Und ich bin auch schon im 71ten Lebensjahr!
Dabei ist die Lage im Werra-Meißner-Kreis nicht rosig: In den vergangenen 3 Jahren sind 2 Hausarzt-Kollegen gestorben, weitere Kollegen planen, ihre Praxis aufzugeben. Zwar gibt es im Kreis noch einige wenige Kollegen mit der Zusatzbezeichnung Diabetologie. Aber sie arbeiten nicht mit dem besonderen Auftrag der KV, da meines Wissens nur 2 Schwerpunktpraxen für unseren Kreis als Bedarf definiert sind.
Medscape: Um wieviel haben Sie Ihr Budget überzogen?
Meixner: Die Statistiken der Prüfungsstelle werden pro Jahr erhoben. Perfide ist dabei, dass nach höchstrichterlicher Feststellung ein verfeinertes Prüfverfahren entfällt, wenn ein offensichtliches Missverhältnis bei den Verordnungskosten berechnet wird. Die Grenze liegt meines Wissens bei 45% der Vergleichsgruppe. Meine Praxis und die der betroffenen Kollegen überschreiten diese Grenze.
So schließt sich der Kreis: der gesundheitspolitischen Entwicklung wird von den Verantwortlichen nicht Rechnung getragen, man bildet keine repräsentative Vergleichsgruppe. Und schon sitzen die Spezialisten in der Regress-Falle.
Medscape: Wie begründen Sie die hohen Verordnungen?
Meixner: Wir haben in den letzten 10 bis 15 Jahren eine Reihe von neuen und gut wirksamen Diabetes-Medikamenten bekommen. Sie sind aber zunächst nur als Originalpräparate verfügbar und entsprechend teuer. Generika-Versionen gibt es erst nach dem Ablauf des Patentschutzes. Zudem gibt es anfangs noch keine Rabattverträge der Hersteller mit den Krankenkassen, also Vereinbarungen, die den Preis drücken könnten.
Medscape: Warum verordnen Sie nicht andere, billigere Präparate?
Meixner: Weil es meinen Patientinnen und Patienten damit schlechter gehen würde. Wir können heute nicht mehr einfach sagen: `Lieber Patient, du hast jetzt Zucker, und ich gebe dir mal was dagegen. Stattdessen haben wir heute als Ärzte die Aufgabe, vor allem Folgekrankheiten des Diabetes zu verhüten, wie zum Beispiel Herzinfarkte, Schlaganfälle, den diabetischen Fuß, Nierenleiden oder Blindheit.
Die Versorgung allein eines Schlaganfall-Patienten kostete in den ersten 4 Wochen schon im Jahr 2006 mehr als 40.000 Euro! Soll ich also meinem Patienten jetzt sagen: Du bekommst das Originalpräparat. Und zu einem anderen sage ich: Du bekommst es nicht, aber dafür vielleicht einen Schlaganfall oder ein anderes Leiden?
Dabei sind die neuen Medikamente sogar in der Nationalen Versorgungsleitlinie aufgeführt. Sie wird von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Bundesärztekammer getragen. Das heißt, wir sind sogar gehalten, zur Therapie des Diabetes mellitus diese Arzneimittel im Rahmen eines vorgegebenen Algorithmus mit zu verordnen!
Medscape: Und Sie konnten den Regress nicht über Ihre Praxisbesonderheiten abwenden?
Meixner: Nein. Denn der Prüfungsausschuss hat zwar eingesehen, dass ich für viele Patientinnen und Patienten der einzige Diabetologe weit und breit bin. Aber er legt sein Augenmerk eben nicht auf die Versorgungslage, sondern auf die Verordnungsmenge.
Ich habe an den Vorstand der KV Hessen geschrieben und dargelegt, was hier los ist. Die Antwort war erstaunlich. Natürlich wisse man über die Abläufe Bescheid, hieß es. Aber wenn ich Regresse vermeiden wolle, dann dürfe ich eben keine Originalpräparate mehr aufschreiben.
Also: Zum einen erhalte ich so von der KV den Auftrag, Diabetiker in einer extra zugelassenen diabetologischen Schwerpunktpraxis zu versorgen, erhalte Vorgaben für die anzuwendende Therapien und soll dann aber die anempfohlene Therapie mit meinem erwirtschaftetem Honorar unterstützen. Das ist doch scheinheilig!
Medscape: Haben Sie angesichts ihrer Verordnungsmenge das Unheil nicht kommen sehen?
Meixner: Ich habe einfach meine Arbeit gemacht und darauf vertraut, dass die Prüfer etwas von ihrem Handwerk verstehen. Aber als der 1. Regress kam, habe ich gesehen, sie verstehen nichts von ihrer Arbeit. Nach dem 1. Regress 2016 waren denn auch die folgenden gar nicht aufzuhalten, weil ich den Bescheid ja erst in 2019 erhalten hatte. So waren ja 2 weitere Verordnungsjahre vergangen und das Unheil nicht mehr aufzuhalten.
Medscape: Inzwischen haben Sie sich einen Anwalt genommen …
Meixner: Ja. Der bezahlte Regress für 2016 steht irgendwann beim Sozialgericht an. Für die Folgejahre habe ich Einspruch bei der Prüfungsstelle eingelegt. Voraussichtlich im Herbst werden diese Regresse vor dem Beschwerdeausschuss verhandelt. Aber da mache ich mir, ehrlich gesagt, keine großen Hoffnungen.
Der Vorsitzende, ein ehemaliger Bundessozialrichter, hat mir in der ersten Verhandlung wegen des Regresses 2016 erklärt, der Ausschuss sei nicht dazu da, das Recht zu beugen, sondern es durchzusetzen. Die Idee, dass man gerade als Vertragsarzt vor dem Ausschuss die Gelegenheit bekommen sollte, ein wenig Licht und Gerechtigkeit in die Abläufe zu bringen, war bei der Voreingenommenheit nicht umzusetzen.
Ich habe zwar einen viertelstündigen Vortrag gehalten über Vorsorgemedizin, Wissenschaftlichkeit sowie die Folgekosten für die Sozialgemeinschaft und die Hintergründe. Aber das blieb ohne jede Wirkung. Leider war im ganzen Prozess kein Vertragsarzt eingebunden mit der gleichen Qualifikation wie ich. Das Gremium verstand meinen Vortrag nicht und interessierte sich auch nicht dafür.
Medscape: Was würde es für ihre Praxis bedeuten, wenn Sie die Regresse nicht mehr abwenden könnten?
Meixner: Nun, falls der Beschwerdeausschuss wieder inadäquat besetzt werden und die Regresse mangels Vertreter meiner Fachdisziplinen wieder durchgewinkt werden sollten, bleibt mir immer noch der Gang zum Sozialgericht. Das wäre schade, da der Verwaltungsaufwand doch immer wieder Zeit kostet, welche ich lieber meinen Patienten widmen würde, von meiner Freizeit mal ganz zu schweigen.
Insgesamt ist es in jedem Fall traurig, dass nach nunmehr 40 Jahren als Vertragsarzt und vielen Stunden der Fort- und Weiterbildung die Arbeit, die man pflichtgemäß leistet, in Ermangelung von Sachverstand mit Regressen honoriert wird. Das System hat einen glatt vergessen.
Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht, oder Anregungen für Kollegen? Wir freuen uns über Ihre Beiträge in den Medscape-Kommentaren zu diesem Aritkel( s.u.).
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Diesen Artikel so zitieren: „Das ist doch scheinheilig!“ Wie ein altgedienter Hausarzt in die Regress-Falle geriet und wie er sich wehrt - Medscape - 9. Jun 2021.
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