„Kein Grund zur eiligen Impfung von Kindern und Jugendlichen“: Experten-Papier argumentiert gegen voreiligen „Aktionismus“

Michael van den Heuvel

Interessenkonflikte

1. Juni 2021

Nach der Aufhebung von Impfprioritäten und nach der 1. Zulassungserweiterung eines COVID-19-Vakzins auf mRNA-Basis durch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) wird die Forderung, Kinder und Jugendliche zu impfen, lauter. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat bekanntlich beim letzten Impfgipfel angekündigt, Jugendlichen ab 12 Jahren ab dem 7. Juni entsprechende Angebote zu unterbreiten. Auch die Ständige Impfkommission (STIKO) könnte sich diese Woche dazu äußern.

Nicht alle Experten teilen die Euphorie. In einem Preprint haben Prof. Dr. David Martin von der Universität Witten/Herdecke und Kollegen kritisch mit der Thematik auseinandergesetzt [1].

„Weil Corona für die allermeisten, auch die meisten kranken Kinder und Jugendlichen keine ernsthafte Bedrohung darstellt und weil sich die Erwachsenen jetzt gut schützen können, haben wir keinen Grund zur eiligen Impfung von Kindern und Jugendlichen“, sagt Martin der FAZ (Paywall). „Beides, COVID-19 und die Impfungen, haben Risiken, und die müssen gut miteinander abgewogen werden.“

 
Die Daten zur Effektivität sind vorläufig und die zur Sicherheit der Impfung in dieser Altersgruppe noch unvollständig. Prof. Dr. David Martin
 

Seine Einschätzung zum BioNTech/Pfizer-Vakzin: „Die Daten zur Effektivität sind vorläufig und die zur Sicherheit der Impfung in dieser Altersgruppe noch unvollständig.“ Bis es weitere Daten gibt, fordert der Experte, Kinder, Jugendliche und deren Eltern „vom gesellschaftlichen Druck, sich zu impfen, zu befreien“. Im Preprint erklärt er zusammen mit seinen Koautoren die Argumentation im Detail. Grundlage ist eine systematische Literaturrecherche.

Profitieren Kinder und Jugendliche selbst von COVID-19-Impfungen?

Kinder erkranken laut Übersichtsartikel selten so schwer an COVID-19, dass sie stationär behandelt werden müssen. Dazu ein Blick auf Deutschland. Von allen Hospitalisierungen in 2021 (n = 97.985) fielen 925 (0,9%) auf 0- bis 4-Jährige und 725 (0,8%) auf 5- bis 14- Jährige. Seit Beginn der Pandemie sind von rund 14 Millionen Kindern und Jugendlichen etwa 1.200 im Krankenhaus (< 0,01%) behandelt worden, und es gab 4 Todesfälle (< 0,00002%). Zum Vergleich: Im Jahr 2019 sind allein 55 Kinder bei Verkehrsunfällen gestorben.

Auch das systemische Inflammationssyndrom (PIMS) bei Kindern, über das so viel berichtet wurde, ist in dieser Altersgruppe eigentlich selten. Im PIMS-Register der Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie wurden bis zur Kalenderwoche 16/2021 genau 281 Kinder und Jugendliche erfasst. Es gab keinen Todesfall. 43,6% der Patienten hatten bei der Entlassung aus ihrer stationären Behandlung noch Beschwerden und bei 6,5% gab es Folgeschäden.

Daten zu Long-COVID bei Patienten unter 18 gibt es weder aus Deutschland noch aus anderen Regionen. Alles in allem bewerten Martin und Kollegen gesundheitliche Risiken durch COVID-19 für Kinder und Jugendliche als gering.

Dem steht gegenüber: COVID-19-Impfungen rufen bei jüngeren Menschen eher Fieber, Kopfschmerzen, Gliederschmerzen und andere Symptome hervor als bei Personen über 40 bis 50. In wie weit Kinder auch von thromboembolischen Komplikationen betroffen sind, lässt sich derzeit nicht einschätzen.

Bleibt als Fazit der Autoren: „Für gesunde Kinder und Jugendliche deren Risiko, an COVID-19 zu sterben, gegen Null (0,00002%) geht, ist es schwer verständlich, dass Politiker und sogar Ärzte die Impfung als Voraussetzung für die Teilnahme am schulischen und gesellschaftlichen Leben in Erwägung ziehen“, schreiben Martin und Kollegen.

Hat die Gesellschaft indirekt einen Nutzen?

Trotz dieser kritischen Punkte bleibt als Frage: Ist es vielleicht sinnvoll, Personen unter 18 zu impfen, um ältere Menschen zu schützen? Das in der Öffentlichkeit vielfach verbreitete Gerücht, Kinder würden Erwachsene infizieren und Ältere müssten dann intensivmedizinisch behandelt werden, sei wissenschaftlich bislang nicht überzeugend belegt worden, schreiben die Forscher. Einzelfälle gebe es immer. Aufgrund hoher Testraten – etwa in Schulen – und aufgrund zahlreicher positiver Ergebnisse würde Kindern eine „treibende Rolle“ bei der Pandemie zugeschrieben, heißt es im Artikel.

Hinzu kommt, dass Screening-Studien zur Seroprävalenz, etwa Fri1da, eine um den Faktor 3 bis 6 höhere Antikörper-Prävalenz zeigen, verglichen mit offiziellen RKI-Zahlen. Alles in allem werde die Immunitätslage dieser Altersstufe erheblich unterschätzt, schreiben die Autoren.

„Es ist zu erwarten, dass eine impfbedingte Reduktion von Transmissionen in der Gesellschaft zu geringerer Krankheitslast für alle führt“, heißt es weiter. „Nicht geklärt ist, ob und wenn ja inwiefern und mit welchen Impfstoffen das Impfen von Kindern zu einem Rückgang von schweren Erkrankungen oder dem Tod von Erwachsenen führen würde, zumal das Restrisiko für Risikopatienten für eine schwere Erkrankung gering ist, wenn sie ggf. mehrere verschiedene Impfungen und ggf. Schutzmaßnahmen einsetzen.“

Auch von dem Argument, schneller in Richtung Herdenimmunität zu gelangen, halten die Forscher wenig. Sie verweisen altersunabhängig auf die zunehmende Impfmüdigkeit, etwa in den USA, aber auch weitere Reservoire wie Tiere könnten eine Rolle spielen. Das Virus sei „vermutlich nicht auszurotten“, heißt es im Preprint.

Ein weiteres Argument: In Israel z.B. ist die Mortalität in der Gesamtbevölkerung auf weniger als einen Fall pro Tag gesunken – und dies ganz ohne Impfungen für Kinder.

Als weiteres Argument für Impfungen ist oft auch zu hören, dass Heranwachsende wieder Kitas oder Schulen besuchen könnten. Ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben werde bislang besonders stark eingeschränkt. Doch: Impfungen führen eben nicht zur sterilisierenden Immunität. Sprich: Es wird beim Mund-Nasen-Schutz und bei sonstigen Hygieneregeln bleiben, um die Transmission von SARS-CoV-2 einzudämmen.

Fazit: Bislang zu wenige Daten

„Während es wahrscheinlich ist, dass Impfstoffe auch bei Kindern zu einer Immunität gegen COVID-19 führen, ist das Risiko-Nutzen-Verhältnis bisher noch unklar“, schreiben die Wissenschaftler als Zusammenfassung. Sicher gebe es vulnerablere Altersgruppen unter 18, wie bei der Influenza. Dies spreche jedoch für individualmedizinische Empfehlungen. Denn: Auch Bedenken gegen Impfungen müssten ins Kalkül gezogen werden.

 
Während es wahrscheinlich ist, dass Impfstoffe auch bei Kindern zu einer Immunität gegen COVID-19 führen, ist das Risiko-Nutzen-Verhältnis bisher noch unklar.  Prof. Dr. David Martin und Kollegen
 

Aus gesellschaftlichem Blickwinkel äußern die Autoren ähnliche Bedenken: „Es gibt keine Nachweise, dass eine Impfung bei Kindern erforderlich oder überhaupt wirksam wäre, um die nach Impfungen und Selbstschutzmaßnahmen noch gefährdete, erwachsene Bevölkerung zu schützen oder eine Herdenimmunität zu erreichen“, geben Martin und Kollegen zu bedenken.

 

Kommentar

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