Menschen mit Diabetes haben nicht nur ein erhöhtes Risiko für „klassische“ und lange bekannte Folgeerkrankungen wie Herz-Kreislauf, Nerven- oder Nierenschädigungen, sondern auch ein deutlich erhöhtes Risiko für bestimmte Tumorarten.
„Davon hört man sehr wenig – unter Ärzten und Patienten ist diese Spätfolge wenig bekannt“, sagt Prof. Dr. Stephan Herzig, Direktor des Helmholtz Diabetes Centers München und Sprecher der neu gegründeten Arbeitsgemeinschaft „Diabetes und Krebs“ der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG). Dabei seien die Zusammenhänge von Diabetes und Krebs auch für die Prävention wichtig – viel zu wenige Patienten seien hinsichtlich der Früherkennung von Tumoren und zum erhöhten Krebsrisiko als mögliche Spätfolge des Diabetes ausreichend aufgeklärt.
Übergewicht als Wurzel allen Übels
Das erhöhte Risiko dieser bislang noch nicht im großen Stil erforschten Spätfolge eines Diabetes hänge maßgeblich mit Übergewicht und Adipositas zusammen, erklärte Herzig auf der 55. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft [1]. Er leitete dort eine Sitzung zu Spätkomplikationen des Diabetes, auf der Experten neue Vorhersagemöglichkeiten und Patientenklassifikationen für Spätkomplikationen diskutierten.
So haben Menschen mit Übergewicht ein bis zu 4-fach erhöhtes Risiko, an Leberkrebs zu erkranken. Auch andere Tumorarten treten bei Menschen mit Übergewicht und Diabetes häufiger auf als in der Allgemeinbevölkerung. Dass diese Krebserkrankungen in direktem Zusammenhang stehen können mit einer Entgleisung des Stoffwechsels, erklärten Experten vom Helmholz Diabeteszentrum in München. Sie forschen seit längerem schon zum Zusammenhang zwischen Stoffwechselerkrankungen und Krebs.
„Bei Menschen mit Diabetes-Typ-2 kann man von einem bis zu 1,7-fach erhöhten Risiko für bestimmte Tumorarten ausgehen“, sagte Herzig. Darunter fallen Brust-, Darm-, Harnblasen- und Bauchspeicheldrüsenkrebs, bei einer entsprechenden familiären Vorbelastung auch Darmkrebs, erklärte der Molekularbiologe.
In großen epidemiologischen Untersuchungen hat sich eine klare Risikobeziehung zwischen Übergewicht und Tumorerkrankungen der Gebärmutter, der Speiseröhre, der Leber, der Bauchspeicheldrüse und des Darms gezeigt; in manchen Studien etwa ein bis zu 4-fach erhöhtes Risiko für Leberkrebs. „Da im Jahr 2050 weltweit mehr als 1,5 Milliarden Menschen übergewichtig sein werden, wird auch Leberkrebs bald nicht mehr so selten sein“, sagte Herzig.
Das Problem sei ernst und werde durch das zunehmende Übergewichtsproblem immer gravierender, betonte auch Dr. Mauricio Berriel Diaz, stellvertretender Direktor des Instituts für Diabetes und Krebs (IDC) am Helmholtz Zentrum der TU München. Im Jahr 2016 waren bereits rund 40% der Erwachsenen weltweit übergewichtig oder fettleibeig; 13% hatten einen Body-Mass-Index (BMI) von mehr als 30.
„In diesem Zusammenhang ist wichtig festzustellen, dass zunehmend anerkannt wird, dass Übergewicht einen Risikofaktor für eine ganze Reihe von Krebserkrankungen darstellt“, bemerkte Berriel Diaz. Bereits bei einem BMI zwischen 25 und 30 sei das Risiko für bestimmte Tumorarten 1,5- bis 2-fach erhöht. Bei Menschen mit Fettleibigkeit steigt insbesondere das Risiko für Tumore der Leber, der Gebärmutter und der Speiseröhre weiter an.
Unabhängig vom BMI ist bei Menschen mit Diabetes das Risiko für Brust-, Endometriums-, Darm-, Gallenblasen- und Leberkarzinome erhöht.
Insulin fördert Tumorwachstum
Die Gründe für diese Risikobeziehungen zwischen Übergewicht, Diabetes und Krebs seien vielfältig, sagte Herzig. Beispielsweise führt eine Insulinresistenz bei Menschen mit Prädiabetes oder mit einem unerkannten Typ-2-Diabetes zu einer vermehrten Insulinsekretion. Insulin fördert das Zellwachstum. „Somit können Körperzellen mit einem genetischen Defekt, der eine entgleiste Zellteilung bewirkt, noch schneller wachsen und zu Tumoren führen“, erklärte er.
Des Weiteren sind sowohl Übergewicht als auch Diabetes durch chronische Entzündungsprozesse in verschiedenen Organen gekennzeichnet, die ebenfalls das Tumorwachstum beschleunigen können. „Chronische Inflammation fördert generell das Transformationsrisiko von Zellen“, erklärt Berriel Diaz.
Bestimmte Zytokine können Tumorzellen zum Wachstum bringen oder dazu führen, dass normale Zellen entarten. So sei bereits bekannt, dass der Entzündungsmarker Interleukin-6 (IL-6) eine Rolle spiele im Zusammenhang von Übergewicht und Leberkrebs. Daher sei umgekehrt auch denkbar, dass Sport das Krebsrisiko bei Menschen mit Diabetes senken könnte. Sport reduziert nachweislich die IL-6-Menge im Blut und hinsichtlich dieses Entzündungs-Mechanismus auch das Risiko, an bestimmten Tumoren zu erkranken.
Fetthormon Leptin fördert Metastasenbildung bei Brustkrebs
Des Weiteren führt Herzigs Team seit einigen Jahren Studien durch zur Wirkungsweise von Fetthormonen. So haben die Wissenschaftler bereits festgestellt, dass bestimmte Fettgewebshormone, die bei Übergewicht vermehrt aus dem Fettgewebe freigesetzt werden, bei der Progression bestimmter Tumore eine Rolle spielen.
So konnte die Gruppe in einer 2017 veröffentlichten Studie zeigen, dass das Fettgewebshormon Leptin, das bei adipösen Menschen in erhöhten Mengen im Blut zirkuliert, den Fettstoffwechsel in Brustkrebszellen verändern und dadurch Tumoraggressivität und Metastasierung steigern kann. Da sich die Prognose bei Brustkrebs durch die Bildung von Metastasen erheblich verschlechtert, könne Adipositas also das Outcome von Brustkrebspatienten im Hinblick auf die Leptin-Wirkung negativ beeinflussen, erklärte Berriel Diaz. „In unserer Studie konnte gezeigt werden, dass Patienten mit einem BMI größer 30 eine höhere Mortalität aufweisen.“
In Zusammenhang gebracht wurde das mit dem Auftreten von Metastasen bei höheren Leptin-Spiegeln im Blut. Nur diese erhöhten Spiegel, so Berriel Diaz, veranlassten die Krebszelle zur Bildung von Rezeptoren für das Leptin. Das wiederum induzierte ein vermehrtes Bilden von Metastasen, wie die Untersuchungen am Helmholtz Zentrum zeigten. „Das bedeutet: Die Körperumgebung in einer bestimmten Stoffwechsellage kann direkt Einfluss auf eine Tumorzelle nehmen und den weiteren Verlauf auf molekularer Ebene bestimmen“, sagte Herzig.
Welcher Mechanismus greift bei welcher Tumorart?
Welcher bislang aufgezeigten Mechanismen bei welcher Tumorart wirke, müsse in weiteren Studien ergründet werden. „Hier wird es keine pauschale Antwort geben. Das heißt: Während eine Entzündung für Leberkrebs verantwortlich sein kann, werden es zum Beispiel Fettgewebshormone für Brustkrebs sein.“ Interessant sei außerdem, wie der systemische Stoffwechsel mit dem Tumorstoffwechsel zusammenhänge – und ob der Stoffwechsel das Tumorwachstum nicht nur beschleunigen, sondern auch initiieren kann – oder ob existierende Diabetesmedikamente auch das Tumorrisiko positiv beeinflussen können.
Ebenfalls noch unerforscht seien, warum bei Übergewicht und Diabetes bestimmte Tumorarten häufiger auftreten, andere jedoch nicht – und inwiefern das Tumorrisiko zwischen den Diabetes-Subtypen variiere. „Die Einteilung in diese Subgruppen öffnet uns die Tür, diese Kombinationen besser zu verstehen“, bemerkte Herzig.
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Diesen Artikel so zitieren: Spätfolgen des Typ-2-Diabetes nicht nur an Herz, Nerven und Niere – zum Teil auch deutlich erhöhtes Krebsrisiko - Medscape - 20. Mai 2021.
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