Vitamin D scheint ein Allroundtalent: Über die gut belegte Stärkung der Knochen hinaus legen Studien einen Schutz vor vielen weiteren Erkrankungen nahe, darunter Infektionen wie neuerdings COVID-19. Dennoch hat ein US-Gremium von Präventivmedizinern sich erneut gegen ein Screening von Erwachsenen ohne Mangelsymptome auf einen Vitamin-D-Mangel ausgesprochen [1]. Eine Überprüfung hatte zu wenig Anhaltspunkte für einen Nutzen gebracht.
„In Deutschland gilt im Wesentlichen das Gleiche. Nach Ansicht der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie DGE ist eine routinemäßige Bestimmung der Vitamin-D-Spiegel oder auch eine Behandlung außerhalb der gesicherten Indikationen nicht gerechtfertigt“, sagt Prof. Dr. Heide Siggelkow, Ärztliche Leiterin des MVZ Endokrinologikum Göttingen, auf Nachfrage von Medscape.
„Retrospektive Studien zeigen zwar, dass bei niedrigen Konzentrationen die Häufigkeit vieler Störungen steigt und umgekehrt bei guter Versorgung oder gar bei Supplementation sinkt. Aber mit aussagekräftigen prospektiven Studien ließ sich das bisher nicht verifizieren.“
Dilemma positiver und negativer Resultate auch bei COVID-19
COVID-19 bildet dabei keine Ausnahme, wie Siggelkow erläutert: Zahlreichen Assoziationsstudien zufolge scheint ein schlechter Vitamin-D-Status die Patienten zu benachteiligen. So war bei schweren Verläufen die Wahrscheinlichkeit eines Mangels um 64% höher als bei leichten Verläufen. Anders eine prospektive Studie zu Atemwegsinfekten: Hochdosiertes Vitamin D reduzierte im Vergleich zu Placebo hier das Risiko in der Allgemeinbevölkerung nicht.
Vitamin D hat Konjunktur: Seit ungefähr 10 Jahren wird vermehrt geforscht, immer mehr Menschen konsumieren entsprechende Präparate, Labore verzeichnen ein Plus an Aufträgen. So ist das Erstattungsvolumen für Vitamin-D-Tests bei der US-Krankenversicherung Medicare von 2000 bis 2010 mehr als 80-fach gestiegen, wie Prof. Dr. Sherri-Ann M. Burnett-Bowie, Endokrinologin am Massachusetts General Hospital in Boston, und ihre Kollegen in einem Editorial berichten [2].
„Die Messung ist teuer“, bestätigt Siggelkow. „Für denselben Preis kann man 2 Patienten ein Jahr lang behandeln. Das ist ein weiterer Einwand gegen ein allgemeines Screening.“
Weil ein niedriger Serumspiegel mit einer langen Liste von Störungen in Zusammenhang gebracht wird, war der Organisation US Preventive Services Task Force USPSTF an der Frage gelegen, ob es sinnvoll ist, die Bevölkerung auf einen Mangel zu untersuchen. Ausdrücklich sind nicht gemeint: Schwangere, Menschen, die an Erkrankungen wie Osteoporose, Osteomalazie, Malabsorption oder Nephropathien leiden oder in Betreuungseinrichtungen leben.
Gab es in den vergangenen 8 Jahren neue Erkenntnisse?
Nein – nicht sinnvoll, lautete das Urteil der USPSTF schon im Jahr 2014. Eine Analyse hatte kaum Daten für den Nutzen eines Screenings geliefert. Ebenso wenig ließ sich für dessen Ziel, einen diagnostizierten Mangel zu behandeln, bevor Schäden auftreten, ein Gewinn entdecken.
Doch ist dieses Verdikt heute noch stichhaltig? Das haben Prof. Dr. Leila C. Kahwati von der Universität North Carolina in Chapel Hill und ihre Kollegen im Auftrag der USPSTF geprüft [3]. In Datenbanken wie PubMed, EMBASE oder Cochrane Library suchten die Public-Health-Spezialisten nach Studien von Januar 2013 bis März 2020 zu folgenden Schlüsselproblemen:
Nutzt das Screening auf Vitamin-D-Mangel der Gesundheit? Gibt es Variationen je nach Rasse/ethnischer Zugehörigkeit oder anderen Merkmalen?
Antwort: Dazu wurden keine Studien identifiziert.
Welche Schäden hat das Screening auf Vitamin-D-Mangel? So wäre eine Über- oder Unterdiagnose möglich mit der Konsequenz entweder einer versäumten oder einer überflüssigen Substitution. Steigen die Spiegel an 25-Hydroxyvitamin-D (25(OH)D) über 150 ng/ml können Vergiftungssymptome auftreten: überhöhte Kalzium- und Phosphatwerte im Blut infolge gesteigerter Resorption im Darm. Eine Studie zur Sturzprävention hatte ebenfalls Hinweise auf Schäden durch hohe Dosierungen ergeben.
Antwort: Hierzu liegen ebenfalls keine Studien vor.
Eignet sich eine Vitamin-D-Behandlung bei niedrigen Werten zur Vorbeugung von Krankheiten? Bestehen dabei Unterschiede zwischen Subpopulationen?
Antwort: Die Forscher fanden 26 randomisierte Studien und die verschachtelte Fall-Kontroll-Studie der Women's Health Initiative WHI mit insgesamt rund 16.200 Teilnehmern in eher höherem Alter mit variabel definierten 25(OH)D-Spiegeln bis 30 ng/ml. Das Fazit war ernüchternd: Die eingesetzten Dosierungen von täglich 400 IU bis 4.000 IU verringerten die Inzidenz der evaluierten Kriterien im Vergleich zu Placebo nicht: weder die Gesamtmortalität noch Frakturen, Stürze, Diabetes, Infektionen, Krebs oder Depressionen.
Gut zu wissen: Die Substitution ist wohl unbedenklich
Immerhin schadet die Substitution offenbar auch nicht, denn unerwünschte Ereignisse wie Muskel-Skelett- oder gastrointestinale Symptome, Müdigkeit oder Kopfschmerzen kamen in den Verum- und Placebogruppen von 36 identifizierten Studien ähnlich häufig vor, wobei die absolute Häufigkeit allerdings stark variierte. In 10 Studien zum Auftreten von Nierensteinen gab es nur einen Bericht.
Resümee: Weil sich auch 2021 keine ausreichende Evidenz für einen Vorteil ermitteln ließ, wiederholt die USPSTF ihre Ablehnung eines Screenings der Allgemeinbevölkerung. Dazu Burnett-Bowie und ihre Kollegen: „Solange nicht feststeht, wer von einer Vitamin-D-Behandlung profitiert, sind Studien zum Screening auf einen möglichen Mangel verfrüht.“
Statt Test: Check auf Risiken und probatorische Therapie
Die Autoren betonen: Die Empfehlung sage nichts zu Erwachsenen mit (vermuteten) Mangelerscheinungen. In diesem Fall, so ihr Vorschlag, könnten Ärzte statt eines Tests sicherstellen, dass die Versorgung gewährleistet sei, indem sie sich an Risikofaktoren orientieren:
Halten sich die Patienten vorwiegend in Räumen auf, etwa weil sie bettlägerig sind, benutzen Sonnencreme mit hohem Lichtschutzfaktor, haben sie dunkle Haut oder gehen stark verschleiert?
Nehmen sie nur wenig Vitamin D über die Nahrung zu sich, essen zum Beispiel kein Seefisch?
Sind sie in fortgeschrittenem Alter oder haben Übergewicht mit BMI über 30?
Siggelkow erinnert weiterhin daran, dass Erkrankungen von Magen und Darm, von Haut oder Nieren ebenfalls oft einen Mangel herbeiführen, indem sie Eigensynthese oder Resorption des Vitamins behindern.
Erhärtet sich bei der Anamnese der Verdacht eines Defizits, könnten Ärzte empirisch beispielsweise 2.000 IU verordnen, was immer noch unter dem Limit von 4.000 IU liege, so die Editorial-Autoren.
Zudem stellen sie klar: Wer sich mit Vitamin D befasst, bewegt sich auf vagem Terrain. Die Studien geben wegen der großen Heterogenität der Teilnehmer und verwendeten Parameter kein verlässliches Gesamtbild: So ist als Mangel mal ein Wert unter 20 ng/ml, mal unter 30 oder 50 ng/ml definiert.
Forschungsfeld mit vielen blinden Flecken
Weiter ist unsicher, ob ein Defizit wirklich Störungen auslöst, zum Beispiel haben dunkelhäutige Menschen bis zu 10-mal häufiger niedrige Werte als hellhäutige, aber seltener Frakturen. Der Bedarf variiert von Mensch zu Mensch, und je nach Erhebung wird mal 98% der Bevölkerung, mal nur 60% eine ausreichende Versorgung bescheinigt. Es bleibt umstritten, ob das in Laboren meist gemessene 25(OH)D im Serum tatsächlich den Status widerspiegelt. Und nicht zuletzt sind Genauigkeit und Vergleichbarkeit der vielen Tests fraglich.
„Das Erstaunliche ist, dass Vitamin D in vitro deutliche positive Effekte zeigt, etwa auf die Immunzellen. Das ist der Grund, warum immer wieder Studien gestartet werden: weil schwer zu glauben ist, dass der Nachweis eines klinischen Vorteils scheitert“, so Siggelkow.
Woran diese Diskrepanz liegen könnte? „Ein finnischer Forscher, Carsten Carlberg, vermutet epigenetische Phänomene. Vitamin D steuert ja die Genexpression und folglich die Enzymausstattung, was wiederum beispielsweise das Immunsystem moduliert“, berichtet die Endokrinologin.
Ein finnischer Forscher sucht einen neuen Weg
Prof. Dr. Carsten Carlberg prüft die Hypothese, dass diese Regulation individuell abläuft und Menschen darum unterschiedlich auf eine Vitamin-D-Zufuhr reagieren, je nachdem ob sie zu den sogenannten High-, Medium- oder Low-Respondern gehören. Da sich dies jedoch nicht unbedingt in den Serumkonzentrationen widerspiegelt, hat der Wissenschaftler von der Universität Kuopio ein Diagnosetool zur Ermittlung des Bedarfs entwickelt, den Vitamin-D-Antwortindex.
Je nach Ergebnis schlägt er eine personalisierte Therapie vor, also etwa bei schwacher Sensitivität höhere Dosierungen. Siggelkow sagt als Prognose: „Ich bin zuversichtlich, dass bis in 10 Jahren viele Fragezeichen verschwunden sind, die wir heute leider noch rund ums Vitamin D setzen müssen.“
Vitamin D
Vitamin D ist ein Sammelbegriff für die Gruppe der fettlöslichen Calciferole, vor allem Vitamin D2 und D3 (Ergo- und Cholecalciferol). Nach der epochalen Entdeckung als Heilmittel gegen Rachitis ist die bekannteste Funktion die Mineralisation des Skeletts: Vitamin D fördert die Aufnahme von Calcium und Phosphat aus dem Darm und deren Einbau in die Knochen. Weniger im Fokus steht die Beteiligung an zahlreichen weiteren Stoffwechselvorgängen wie die Steuerung von Genen und die Bildung von Proteinen.
Da der Bedarf hauptsächlich durch die Produktion in der Haut gedeckt wird, empfiehlt das Bundesinstitut für Risikobewertung, sich täglich 5 bis 25 Minuten mit unbedecktem Gesicht, Händen und größeren Teilen von Armen und Beinen in der Sonne aufzuhalten. Lebensmittel enthalten von Natur aus nur wenig Vitamin D. Die Einnahme von Präparaten wird im Allgemeinen nur für Risikogruppen empfohlen.
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Diesen Artikel so zitieren: US-Gremium und deutsche Experten sind gegen ein Screening auf niedrige Vitamin-D-Spiegel – das sind ihre Argumente - Medscape - 17. Mai 2021.
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